Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Der Reisende

Im Anfang einer Lehrzeit sind die Ohren gläsern hell. Auch unverstandene Laute fängt die heiße Muschel auf und verwahrt sie unterirdisch. Da leben und wachsen sie und weben Netze, ohne daß man's weiß. Erst nach Jahren klopfen sie an die Bewußtseinsoberfläche, frisch und kugelrund. Man möchte sie für Neugeborene halten, so unbefangen ist ihr Tritt. Aber da ist ein Schein, ein wissender, in ihren Augen. Der kann Jahre alt sein. Frag' sie immerhin nach Nam' und Art: »Mit wem habe ich die Ehre?« – »Schüchtermann, Sie wissen doch noch –?« – Du weißt von nichts. Aber du bist wohlerzogen. Also sagst du »Schüchtermann? Freilich, freilich – na, das freut mich sehr, Herr Schüchtermann.« Ist er boshaft, dein Besuch, so kann's passieren, daß er lächelt: »Freuen? hem, ich war einmal Ihr Feind, Sie wissen doch –?« Wieder weißt du nichts und wieder sagst du: »Feind? Natürlich – ach, es waren schöne Zeiten, wollte sagen, kampsfröhliche Zeiten, nicht wahr?« – »Kampf? Ei, Sie wußten damals gar nicht, daß ich Ihnen feindlich –« – »Freilich, hem, wie man das nur hat vergessen können – merkwürdig, nicht wahr?« – »Ja, um so merkwürdiger, als ich Sie nur auf die Probe stellte: wir haben uns nie gekannt, mein Herr.« – »Hab' ich's doch gewußt – Schüchtermann? – nein, nie gehört, völlig unbekannt.« – »Na na, nie gehört, besinnen Sie sich besser . . .«

187 Da gibst du's auf. Ehrlich gibst du dich gefangen. Stillgeduldig, ohne alle Vorstellungsfaxereien, läßt du's in dir widerklingen, wie bei einer alten Glocke, deren Klöppel später Herbstwind an die Ränder des Bewußtseins schlägt: »Schüchtermann, Schüchtermann . . .« Und dazwischen ist ein junges Piepsen, das aus meiner Lehrzeit stammen könnte, wenn es nicht von jungen Vögeln ist, deren Nest am alten Glockenrande klebt . . .

»Nein, dieser Schüchtermann, ds, ds, ds«, kam's so oft vom Pult Herrn Zundermanns, der die Briefe mit unseren auswärtigen Reisenden zu wechseln hatte. Dann wieder kam's vom Pulte, wo die Preise durchgesehen wurden: »Der tut sich leicht, der Schüchtermann: bewilligt seinen Kunden Preise für einen Sack, als wenn sie hundert abgenommen hätten . . .« Und vom Pult des alten Endres, wo man die Kredite prüfte, brummt es: »Nein, dieser Schüchtermann, schreibt weiter nichts als »Ist gut« – aufs leere Auskunftsformular des neuen Kunden. »Ist gut« – als ob das eine Auskunft wäre! »Ist gut« – zum Donner, nein, ist nicht gut! Ich glaube gar, der Schüchtermann treibt Schindluder mit uns. Na, dem wollen wir ein Licht aufstecken, wenn er heimkommt, wie?«

Die letzte Frage galt den andern Pulten, wo ein Echo aufsprang: »Ja ja, soll nur kommen . . . Hühnchen pflücken . . . Bartel Most geholt hat . . . tut, als sei er ganz allein die Firma . . . mal Fraktur mit diesem Menschen sprechen . . .«

Aus diesen Reden wob sich mir ein Bild: Unverschämter Oger, dieser Schüchtermann, auf den ein wohlverdientes Schicksal unabwendbar zumarschierte.

Dann ging's ins allgemeine: »Ueberhaupt die Reisenden . . . veraltete Einrichtung . . . geht auch ohne sie . . . Kunden sollen mit Postkarten bestellen . . . unheimlich, was sich damit sparen läßt . . . sagen wir mal hunderttausend Reisende brauchen täglich, Spesen eingeschlossen, zwanzig Märker, macht zwei Millionen täglich . . . was sagen Sie: produktiv, 'n Reisender? . . . hm ja, in schlechten Witzen . . . wie, volkswirtschaftlich unentbehrlich? Schmieröl der wirtschaftlichen Maschinerie? . . . na, hör'n Sie mal, 'n Schmieröl, das uns jährlich eine halbe Milliarde Kosten 188 aufbuttert . . . Ja ja, vom Ranzigwerden nicht zu reden . . . wenn die Kosten dann noch alles wären . . . aber denkt mal an den Aerger und Verdruß, den diese Sorte Menschen . . . Ja, grün hat man sich über diesen Schüchtermann schon ärgern müssen, der sich gegen das Kontor so aufspielt, als schaffe er allein die Werte, während wir ein überflüssig Pack . . . schade, daß er erst zu Weihnacht von der Tour kommt . . . na, um so gründlicher soll das Aufwaschen sein . . . hem, am besten wär's, wir wählten einen, der es im Namen aller besorgte, daß . . .«

Herr Endres lehnte ab. Er sei zu alt. Der die Preise prüfte, schaute unbeteiligt durch das Fenster. Noch einer oder zweie fingen heftig an, Bücher zu wälzen. Jemand sagte: »Zundermann!«

»Bravo«, schrien alle, »bravo, Zundermann! Der schreibt ihnen ja ohnehin täglich – kennt am besten ihre Schwächen – ja, der Zundermann, das ist ein ganzer Kerl . . .«

Zundermann verneigte sich mehrere Male abgehackt und telegraphisch, ein Morseticker: »Ehre – werde nicht verfehlen – Liste sämtlicher Beschwerden machen – verflucht nochmal – ganz auf mich verlassen – Spezialität, solche Menschen klein zu machen . . .«

Eine Woche vor Weihnachten erinnerten sie ihn ans Kleinmachen: »Herr Zundermann, ist's richtig, daß der Schüchtermann schon übermorgen von der Tour –?«

»Schüchtermann, immer Schüchtermann, laßt mich zufrieden mit diesem Menschen!«

»A-aber Sie wollten ihn doch – doch klein machen!«

»Mach ich auch, mach ich auch, nur Ruhe, alles zu seiner Zeit.«

Sie nickten. Einen Tag lang nickten sie. »Herr Zundermann, nicht wahr, morgen kommt der Schüchtermann von seiner –?«

»– Tour zurück, jawohl, eben mach ich seine Abrechnung.«

»Aha, aha, gehörig gepfeffert, was?«

»Ja, kriegt eine Riesenprovision. Wie er's nur anfängt, wieder ein Drittel Mehrumsatz –«

»Ach«, sagten sie enttäuscht, »wir meinen die moralische Abrechnung, Herr Zundermann.«

189 »Die moralische? ach so – selbstverständlich – werde nicht ermangeln, ihm unsere Beschwerden vorzutragen –«

»Klein machen, sagten Sie damals, Herr Zundermann –«

»Natürlich, auch klein machen –«

»Ganz klein, Herr Zundermann?«

»So klein es irgend geht – hem, ich sollte meinen, daß ich das verstehe –«

»Bravo, Zundermann – ja ja, der Zundermann, das ist halt einer – unser Zundermann . . .«

Am andern Tag sah ich den Buchhalter Vater einem roten Strich im Wandkalender zunicken: »Also heute ist Schüchtermannstag.«

»Sind Sie auch so bös auf diesen Kerl wie die andern?« fragte meine Lehrlingsneugier.

»Kerl? hem, der Ton ist falsch, mein Lieber – Kerl, mußt du sagen – ein ganzer Kerl ist er . . .« Dann erzählte er vom ältesten Reisenden der Firma. Er habe die schwierigste Tour. Die Kundschaft auf dem flachen Lande, wo es keine Eisenbahnen gäbe. Das ganze liebe Jahr sei er unterwegs mit seinem Kütschchen. Auch andere Reisende hätten Kutsch' und Kutscher. Der Schüchtermann aber habe einen ganz besonderen Kutscher. Sich selber nämlich. Er hätte drauf bestanden. Auf Kutscher sei doch kein Verlaß, behaupte er. Auf ihn selbst als Kutscher also auch nicht, habe er schon lachend eingestanden. Aber dann brauche er sich nur über sich selbst zu ärgern. Und es sei am gesündesten, wenn der Aerger hübsch innerhalb der Familie bleibe. Und überhaupt, der Schüchtermann, der sei schon recht. Kein so moderner Springinsfeld mit Bügelhosen, sondern einer von der alten Schule. Kein Schwadroneur. Die Firma hätte keinen besseren je gehabt.

»Aber«, sagte ich, »die anderen Herren im Kontor –«

»– haben ihre scharfen Sprüchlein nicht zum erstenmal gegen ihn gebetet, solange er – draußen war.«

»Und wenn er heimkam?«

»Bscht, da steht er in der Türe.«

Breitbehaglich füllte die Gestalt den Rahmen. Breitbehaglich ging der Mund des alten Reiseonkels auf: »Guten Morgen, Kinder – da habt ihr mich mal wieder.« Sie drängten sich um ihn. Sie schüttelten ihm die Hand. Aber der die 190 Preise nachsah und der alte Endres blieben sitzen, tief die Köpfe in den Büchern. Sofort schob sich Schüchtermann zu ihnen hin. Ein frischer Landhauch wehte von ihm her. Nach links, nach rechts legte er je eine Bärenpratze auf die Schulter derer, die so taten: »Seid mir doch nicht bös? Wenn Ihr aber einen Bodensatz habt, frisch herausgehustet, der alte Schüchtermann kann's noch vertragen.«

Sie versuchten ernst zu lächeln. »Wischiwaschi«, wehrte er, »entweder – oder, Freund oder Feind, Hand oder Faust, was ist die Losung?«

Da gaben sie ihm auch die Hand, im Hinterkopf den Vorbehalt: Der Zundermann hat's übernommen, der Zundermann wird's ihm schon besor – ja, wo war er denn, der Zundermann?

Onkel Schüchtermann hatte gutwillig die Brauen gerunzelt: »Wo ist mein Schriebischreibi?«

»In der Kassa läuft er 'rum«, sagte jemand.

»Soll mal kommen, wenn sein Vater da ist . . . aha, Sie bringen ihn – na, Zundermann, grüßgott – nein, nicht die Fingerspitzen, bitte, – wenn man ein Jahr lang fort war, hat man auf die ganze Hand ein Recht und auf ein offenes Gesicht hat ein verkniffnes – so wie Sie jetzt dreinschaun, sieht bei Regenwetter auch mein Gaul aus – steht übrigens unten im Hof – hat sich ein Jahr lang tüchtig abgerackert – hätte sich 'n Willkommdatsch aufs Hinterteil verdient, Ihr Herren Lehrlinge . . .«

Wir Lehrlinge stürmten in den Hof. Wir datschten ihm das Hinterteil, das Vorderteil, die Mitte und den Hals. Als ich zurückkam, standen sie noch beisammen: ». . . und dann, Herr Zundermann, es hat mir jemand eingeblasen, daß Sie mir etwas Besonderes zu sagen hätten –«

Aha, zum Höhepunkt des Dramas war ich grad' noch rechtgekommen. Das Kontor hielt den Atem an, so schien es mir. Nur der Buchhalter Vater nicht. Der schnaubte vergnügt durch die Nase und lächelte so eigen, wie Souffleure lächeln, wenn sie flüsternd ihre Helden leiten. »Kopf hoch, Brust heraus, blitzende Augen, in Klammern«, flüsterte Vater aus dem Textbuch zum Zundermannspult hinüber.

191 Dem Zundermann fiel der Kopf auf die Brust, die Brust sank ein, die Augen wurden unsichtbar.

»Nun, was besonders also?« wiederholte Schüchtermann mit einer merkwürdigen Mischung von Unerbittlichkeit und Gutmütigkeit.

Zundermann machte eine Miene schwierigen Erinnerns: »Was besonderes? ich wüßte nicht –«

»Sie müssen wissen.«

»Hm ja, hm ja, jetzt fällt's mir ein: Meine Aufzeichnungen Ihrer Aufträge gaben dieses Jahr einen besonders hohen Umsatz, was mich freut . . .«

Das war der Schüchtermann meines ersten Lehrjahres. Der meines letzten Lehrjahres wurde stumm. »Nervöse Erkrankung des Kehlkopfs«, sagte der Vertrauensarzt unserer Firma, »kein Wunder bei einem Reisenden, der seit Jahren reden muß und reden –«

»Sie irren«, sagte unser Prinzipal, »er war nie ein Schwätzer.«

»Dann wird die Erkältung schuld sein. Bei jedem Wetter unterwegs und jede Nacht ein anderes Bett – ich weiß mir schönre Lose.«

»Sie irren sich wieder«, sagte unser Prinzipal, »ich habe selbst gereist in jungen Jahren. Reisen ist gesünder als Kontorluft. Und was Lose anbelangt – er war glücklich im Berufe, ist es noch – zu mehr kann's keiner bringen, auch Sie nicht, nichts für ungut, Herr Doktor.«

»Dann«, sagte ärgerlich der Arzt, »geben Sie ihm ein Vierteljahr lang Urlaub.«

»Sie irren sich abermals, er sagte mir, nur keinen Urlaub, Urlaub wäre sein Tod.«

»Dann«, brauste der Doktor auf, »dann verordnen Sie ihm selber etwas – guten Morgen.«

Unser Prinzipal lachte und verordnete dem alten Schüchtermann – mich. Seine Stimme versagte nämlich streckenweise. Zwischenhinein löste sich der Krampf im Kehlkopf, daß er wieder sprechen konnte. Ich sollte ihn auf seiner Tour begleiten. In den guten Stunden würde er mir sagen, was ich in den schlechten Stunden zu den Kunden sprechen müßte.

So wurde ich im dritten Jahr Unterreisender. Im Kontor 192 machten sie mich graulen: »Junge, Junge, du gehst einen schweren Gang . . . noch so jung und schon verdorben auf der Reise . . . einen Sechsläufigen würde ich auf alle Fälle bei mir tragen . . .« Auch Zundermann schaute altklug übers Pult: »Und lassen Sie sich nicht von diesem Schüchtermann anstecken.«

»Dummes Zeug«, sagte Buchhalter Vater unwillig, »ein besserer Reisender wie der kann er gar nicht werden.«

Ohne daß sie's wußten, stand Schüchtermann hinter ihnen, die Hand am Kehlkopf. Er sprach kein Wort. Nur schauen tat er. Oh, wie hat er schauen können! Die beiden Blicke, die er auf Vater warf und Zundermann, mit diesen beiden Blicken, am Anfang und am Ende einer Seelenleiter müßte man, so hat mich oft bedünkt, die ganze Welt regieren können. Wortlos.

Und noch ein dritter Blick, der war für mich: »Komm, mein Junge«, sagte dieser Blick, »wir gehören jetzt zusammen, drunten steht der Gaul und scharrt . . .«

Eine Zeit begann, die werd' ich nie vergessen können. Von Häusern, Straßen, Schulen, Büchern, Pulten war mein Leben dicht umstellt gewesen. Kamen Gaul und Wagen, schwang ein alter Weiser seine Peitsche: »Hü! an die frische Luft, hü!« Aecker, Felder, Bäume fingen an zu reden: »Endlich da? bist lange ausgeblieben.« Dörfer, Städtchen reihten sich seitwärts an Schnüren, standen still und nickten freundlich: »Na, wie behagt der Tausch, verehrter Grünling?« Bauern, Landkundschaften fluteten vorbei am Wagenschlag und warfen einen Blick auf mein grünliches Kontorgesicht und bekamen alle ein und denselben Vorsatz. Mittags oder abends, wenn wir dann im Blauen Eber oder Goldenen Ochsen rasteten, wurden Päckchen abgegeben: »Für den Reisendenbub'n und er soll sich's schmecken lassen.« Schmalznudeln um Schmalznudeln wickelte ich aus. Nicht eine hat mir Schüchtermann abgenommen. Alle mußte ich allein verzehren. Und sie halfen. Halfen gegen alles. Wenn ich Kopfweh hatte – »Heraus mit der Schmalznudel – hinein mit der Schmalznudel!« bedeutete mir Schüchtermann. Wenn ich Zahnweh hatte: »Eine Schmalznudel in den hohlen Zahn, mein Lieber!« Wenn mir die Füße froren: »Mensch, warum 193 haben Sie nicht rechtzeitig eine Schmalznudel gegessen?« Wenn der Weltschmerz auf der Kutsche saß und uns die Absätze seiner Bammelfüße gegen 's Hirndach schlug – »Menschenskind, haben Sie vergessen, daß hinter Ihnen noch ein Paket Schmalznudeln liegt?«

Das waren gute Tage für den Leib. Für die Seele waren sie nicht schlechter. Da war das Pferd. Zum erstenmal sah ich einem Tier ins Herz. Wer eines Tieres Seele leugnet, hatte noch für kein Tier zu sorgen. Ich spannte aus, ich spannte ein, ich schüttete den Hafer in den Trog. Oft sah mich der Gaul an, lang und dunkel. Seitdem muß ich Tieren gut sein.

Daß es nicht das Wort ist, das entscheidet, sah ich besser noch an Onkel Schüchtermann. Ganze Tage saß er stumm in der Kalesche. Aber Kraft ging aus von ihm. Er lehrte mich, sich auf die stumme Zwiesprache einzustellen, stundenlang. Man verlernt's nicht wieder. Und wenn sein Kehlkopf wieder gut war, kam kein Katarakt von aufgestauter Rede. Spärlich, fast kümmerlich rundeten sich seine Sätze. Jeder war in Güte eingebettet und Humor. Mit einem Satze war ein Mensch gezeichnet und ein Tier. Einmal fragte ich, wie ich das Pferd kutschieren sollte. Da konnte er leise wiehern und mich ansehn, wie das Pferd getan hat:

»Auf den Berg 'nauf treib mich net,
Den Berg hinab verlaß mich net,
Auf dem Ebnen schon' mich net,
Im Stall vergiß mich net.«

Oder er zeichnete einen unbewegten Kunden, dem ein Auftrag nur mit Mühe abzupressen war: »Berghofer oder die Hölzerne Gnad'.« Oder den bissigen Weinmaier von Hinterpettenbach, dem der Schnabel unaufhörlich ging: »Schaumwein mit Essigsäure.« Oder den schwierigen Lederer von Zeißenhofen: »Der Gradextra, der müßte wie die Sau behandelt werden, die zum Schlachthaus soll', sagte er, nämlich z'hinterstvorderst.« Er hat's mir vorgemacht, da sein Kehlkopf grad' gut aufgelegt war. Es war damals vom Geschäft die Losung ausgegeben: Landkundschaft für echten Tee gewinnen.

»Lederer, ich hätt' ein neues G'söff.« Der Lederer wollte 194 sofort abwinken. Aber er kam nicht dazu. »Lederer, die andern ham's mir alle b'stellt, für dich ist's aber, glaub' ich nichts.«

Sofort warf der Lederer das Steuer nach der andern Seite: »Jetzt grad' extra zeigst mir dein G'söff.«

Scheinbar widerwillig kochte Schüchtermann den Probetee, sich eine Tasse, dem Lederer eine Tasse. »Lederer, erst sollst du's probieren.« – »Jetzt grad' extra du.«

Also probierte Schüchtermann, verzog das Gesicht und sagte: »Das wenn dir schmeckt, Lederer, heiß ich Hans, pfui Teufel!« Probierte der Lederer: »Schmeckt gar net schlecht, schmeckt ausgezeichnet, dein Büchel nimm, schreib auf: Fünf Pfund für 'n Lederer.«

»Lederer, wären für den Anfang nicht auch drei genügend?«

»Dein Bleistift nimmst, hab' ich g'sagt, jetzt schreibst von dem G'söff grad extra zehn Pfund auf!«

Dann gab's einen andern, den Schwimpfinger von Filzemoos, der hatte die Bestellkrankheit. Ein gewissenloser Reisender könnte den in Grund und Boden legen, daß er erstickte in bestellten Waren, erklärte mir Schüchtermann.

»Schwimpfinger, wieviel Kaffee brauchst du?«

Schwimpfinger warf in sein bescheidenes Lädchen einen Blick, als wenn der Doge von Venedig seine Speicher prüfe: »Fünf Zentner könnt' ich brauchen!«

»Oder zehn, Herr Schwimpfinger?«

»Hm, auch zehn.«

»Oder zwanzig, dreißig, fünfzig – na, machen wir es kurz, Herr Schwimpfinger: Wir schicken hundert Zentner, – Pfund wollt' ich sagen, also hundert Pfund, nicht wahr?

»Ja ja, hundert Pfund natürlich«, sagte Schwimpfinger erleichtert.

So war viel zu lernen aus des Reiseonkels Reden. Mehr aus seiner Stummheit. Mitten im Besuch bei Kunden streikte oft sein Kehlkopf. Wie wenn ein Schwert fällt, gut und böse sonder Wahl durchschneidend. Erst Erschrecken, bis man anfing, seiner Güte Mienenspiel auch ohne Worte zu verstehen. Freundlich sah er in mein Auge. Plötzlich wußte ich, was ich zu sagen hatte. Stumm empfing ich seine Winke: 195 »Musterkasten öffnen – das anbieten – jenes nicht – behutsam da – dort eine Lippe mal riskiert – nachgeben mit den Preisen – halt, genug – fest sein, hörst du – nicht aufschneiden, bitte – nach den Kindern fragen – nichts von Familienangelegenheiten – Religion sachte – bscht, hier regiert die Frau – um Gotteswillen jetzt nicht schimpfen auf die Konkurrenz – eins, zwei, drei, heidi – behaglich plaudern – zum Abendschoppen einladen . . .« Stumm empfing ich, redend gab's mein Sprachrohr weiter. Immer fühlte ich am Zucken eines unsichtbaren Drahtes: Das hast recht gemacht, das nur mäßig, dies saudumm.

Am schönsten aber war es, wenn wir im Hinterstübchen eines alten Kunden saßen, das Geschäftliche erledigt war und die große Pause kam. »Bscht, junge Schnauze halten!« telegraphierte es von ihm zu mir. Das war nicht immer leicht für meine grüne Weisheit. Dann kam die Frau herein, die Kinder schmiegten sich an Onkel Schüchtermann. Seine schwere Hand kraute zart auf ihren leichten Scheiteln. Ihre Schulhefte zeigten sie ihm. Mit den Augen, mit Nicken und Schütteln lobte er und machte aufmerksam auf Fehler. Mit Fingerschnalzen, Klopfen auf die Knie machte er die besten Scherze. Und wenn die Onkelhand minutenlang auf jungen Schultern ruhte, war das nicht besser und nicht schlechter als eine erzählte Geschichte. Still und rundum im Zimmer gingen seine Augen und zwangen uns zu gleichem. Jetzt erst sah man, was im Zimmer hing und stand und darauf wartete, zu reden. Lauter Dinge, die an unserer Rede sonst erstickten.

Dann kam ein ruhevoller Abschied. Unter der Türe fiel der Mutter ein, daß sie in dem und dem um Rat zu fragen hatte. Voll Ausdruck sah er ihr beim Reden ins Gesicht. Und wenn's die Mutter grad so machte, wußte sie schon lange, eh' sie ausgesprochen hatte, was ihr Onkel Schüchtermann geraten hätte.

Nein, ein moderner Reisender war er nicht. Geschniegelt war er nicht, und durch keine Bügelhose erhöhte er bei der Kundschaft unserer Firma Glanz. Für Zundermanns fortschrittliche Ratschläge war er nie zu haben. »Gott, man hat doch Ladenhüter, die man los sein will«, hat ihm Zundermann wie oft bedeutet. Aber er war nie dazu zu bringen, seinen 196 Kunden etwas »aufzuhängen«. »Ein aufgeschwätzter schlechter Sack Reis«, vertraute er mir an, »verderbe mehr als zwanzig solcher Säcke, die man in die Isar schütte.« Nie hat ihn Zundermann dazu gebracht, an jeder Postanstalt, wo das Wägelchen vorbeikutschierte, eine Kontrollkarte an die Firma einzustecken, die durch den Stempelaufdruck Zeit und Ort ergab für die Statistik. Niemals hat er aufgehört, von seiner Kundschaft zu sprechen, so oft man ihm auch sagte, daß es unsere Kundschaft heiße. Nein, er war nicht modern, der Schüchtermann. Er hat nie begreifen können, daß ein Reisender sich nur auf den Geschäftsgewinn und auf nichts anderes einzustellen habe. Die moderne Stoßkraft der Reklame war ihm stets ein Greuel. Er kannte keine andere Umsatzförderung denn Biederkeit und Treue. Andere Reklame als diese, pflegte er zu sagen, stinke. Das alles also war er nicht. Aber ein Vater seiner Kunden, ja, das war er. Ströme des Segens gingen von ihm aus.

Und gestorben ist er an – je nun, an der Reklame, welche stank.

Ich weiß es noch wie heute, als er mir den Zundermannschen Brief gab. Wir hatten eben unsere Kutsche eingestellt im Schwarzen Lamm und unser Roß versorgt. Der Hausknecht mit der grünen Schürze kam herbeigehinkt: »Herr Schüchtermann, ein Brief, ein dicker Brief!«

Breit und schmalzig fetzte Zundermann darin auseinander, alle andern Reisenden machten jetzt Reklame. Der mit Plakaten, jener mit Broschüren, wieder einer mit versilberten Köchinnenbroschen in jedem fünfzigsten Paket Feigenkaffee. Nur einer sei bis jetzt reklamelos. Das wirke nachgerade als ein Flecken im Geschäft. Die Geschäftsleitung sei auf seinen Vorschlag übereingekommen, auch ihn, den Schüchtermann, in den Reklamefeldzug einzufügen. Für seine Landkundschaft sei eins der neu aufgekommenen Automobile die zündendste Reklame. Besonders wenn vorne und hinten leuchtende Plakate aufgeklebt seien. Ein solches Automobil habe die Firma angekauft und einen sachkundigen Lenker auch gemietet. Pferd und Kutsche seien einstweilen im »Schwarzen Lamm« von Sössenweiher einzustellen. Auto und Lenker träfen am Freitag am gleichen Orte ein.

197 So jung ich war, die Wirkung dieses Briefes war mir klar. Schüchtermann hob die Hand zur Stirne. »Das ist – das ist – das ist –«, brachte er heraus. Weiter nichts. Zwei Schwerter waren auf ihn niedergesaust: der Brief, der Kehlkopfkrampf.

Dunkelroten Kopfes, mit den Armen fechtend, ging er auf sein Zimmer. Zwei Stunden sah ich nichts von ihm. Aber auf der halben Treppe sah ich ein, daß ich nicht trösten konnte. Den Kampf der alten Weltanschauung mit der neuen hatte er allein zu fechten.

Verdrossen saß ich im Gastlokal. Vor mir ein großer Abreißkalender. »Freitag«, las ich mechanisch ab. Stand nicht auch im Zundermannschen Briefe was von einem Frei–?

Rrr – pff – rr – pff, puffte und knatterte etwas in der Toreinfahrt. Ich sprang hinaus. Das Auto. Vorne rote Kaffeeplakate, hinten schrillte silbern unser Tee. In der Mitte saß lang und dünn ein Lenker, an dem nur eines dick war, eine glühende Nase. Unten fauchte es. Und ringsum stank es von Benzin. Noch weiter ringsum war das ganze Dorf versammelt. Zundermann hatte recht: die Reklame wirkte.

»Ich bin Kistler, der Schofför!« schrie der Dünne vom Bock herunter, »holen Sie den Schüchtermann und sagen Sie ihm –« Er verstummte. Auf der Treppe stand Schüchtermann, stumm und weiß. Der Ratterkasten schwieg. In der Menge hörte das Gemurmel auf. Alle schauten auf Schüchtermann. Jeder spürte das elektrische Knistern im Blitzableiter, knapp bevor der Blitz hineinfährt.

Aber sie täuschten sich. Schüchtermann machte ein paar kühle Handbewegungen: In die Remise! Das andere später! Marsch! Es duckte sich der Dünne. Der Kasten knatterte, stank und verschwand. Das Dorf ging heim.

Was die beiden dann auf seinem Zimmer sprachen, erfuhr ich nie. Aber wie es ausgehn würde, wußte ich. Ein Satz im Zundermannschen Brief hatte sich mir eingeprägt, ein Nachsatz, vom Prinzipal selbst geschrieben: »Werter Herr Schüchtermann, es hilft alles nichts, die neue Zeit rückt auch für uns alte Knaben an. Ich weiß, Sie werden sich nicht entgegenstemmen, der Firma zu Liebe. Mit Gruß Ihr Kramer.«

198 Der Firma zu Liebe – die Entscheidung war gefallen. Ich wunderte mich nicht, daß am nächsten Morgen Schüchtermann schon gefrühstückt hatte, als ich verschlafen von meinem Zimmer herunterkam. Ich wunderte mich nicht, als die Kellnerin nach meiner ersten Tasse Kaffee hereinkam: »Rasch, junger Herr, der Höllenkasten steht schon draußen!« Ich wunderte mich nicht, daß er schon still und gedrückt in der Wagenecke saß, vor ihm der Schofför, die Hand an den Hebeln. Ich wunderte mich nicht, daß er mich zum Sitzen einlud, derweil er selbst auf einen Augenblick heruntersprang. Ich wußte, ohne daß ich's sah, er fuhr in der Remise der Kalesche zum letzten Male abschiednehmend übers Polster, hat im Stall zum letzten Male dem Braunen auf den Hals geklopft: »Behüt' euch Gott – es geht nicht anders – neue Zeit – Firma zu Liebe – behüt' euch Gott . . .«

Dann ging's unter dem Geschrei der Dorfjugend in den schneidend klaren Bergmorgen hinein. Die Ketten rasselten, die Räder ächzten, Oel troff in den Straßenstaub, Schmieröl der neuen Volkswirtschaft. Ein Gefangenengitter richtete die neue Wirtschaft auf vor Schüchtermann. Die erste Gitterstange war Kistler, der Schofför auf dem Bock. Kerzengerade saß er da. Nicht einmal in der ersten Stunde wendete er sich um. Auf seinem Rücken spürte ich sein Gesicht. Hämisch war's und schadenfroh.

Ueber eins aber wunderte ich mich doch: Muß ein Auto auf gerader Straße in Kurven fahren? Oder sind die Kurven etwa im Gehirn von Kistler? Ein Morgennachtrag des Wirts vom Schwarzen Lamm auf unsere Rechnung hätte mich belehren können: »Einen ½ Liter Roten extra an Herr Schupfär.«

Aber dann vergaß ich alles über der morgenlichen Bergwelt, die sich auftat. Nie, auch nicht in der Einsamkeit, ist sie mir schöner aufgegangen, als an jenem ratternden, verknitterten, benzinverstunkenen Morgen. Die höchsten Seelenkurven gehen ihre eignen Gesetze, unbekümmert um alles Kreischen und Gestank der Welt. Gegen die Morgenpracht der Berge kam kein Höllenkasten auf, auf dessen Bock ein versoffener Gitterstab, in dessen Ecke stummer Kummer saß.

Immer schöner wurde die Bergaufwärtsstraße. Gräser 199 neigten sich und Tannen rauschten, von fernen Gipfeln funkelte der rote Morgenschnee. Rehe flohen lachend her vor unserm unbeholfenen Ungetüm. Bächlein glitzerten so spöttisch her: »So, das also ist die neue Zeit? na, sie mag alles sein, nur graziös, das ist sie nicht, weiß Gott . . .«

»Aaah!« Unsere Maschine hatte die Straßenhöhe erklommen. Die schweigende Schönheit des Gebirges goß sich über uns: »Trinkt, trinkt jetzt – später könnte es zu spät sein, Kinder . . .«

Ich trank, trank nie so tief in meinem Leben. Alles um mich versank. Meine Lehrzeit. Das Geschäft. Das Auto. Schüchtermann. Rasend ging die Fahrt den Berg hinab. Die Erdenschwere verstäubte. Was Wunder, finge jetzt ein Himmelchor von Engeln an zu singen –

»Mensch!« schrie's an meiner Seite und packte den Schofför von hinten, »Mensch, Sie fahren zickzack, sind Sie denn betrunken!«

Die Gitterstange wendete sich um. Ueber der dicken Nase zwei Schlitze, keine Augen. Um den Mund ein Grinsen: »Betrunken? hähähä – selbst be–be betrr–«

In die schnarrende Folge von rrr schoß schief und sicher greifend eine dicke Telegraphenstange. Packte das Auto. Schlenkerte es wie ein Hund die Katze am Genick. Riß es auf. Schnalzte uns zu dritt herab wie Fliegen . . .

Als ich von einer leichten Prellohnmacht im Grase zu mir kam, sah ich dreierlei. Erstens den blutenden Schofför, den ernüchterten und schreienden: »Jesses, mein Auto! jesses, mein schönes Auto!« Zweitens lange Bauernbeine querfeldein übers Gras spinnend. Drittens, als ich mich wandte, Schüchtermanns Kopf von hinten zersplittert auf einem Meilenstein, vorne aber ganz klar und stiller Güte voll vom alten Schlag, wie es seines Lebens ganze Reise war.

 


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