Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Zyankali

Einer faß bei Kramer & Friemann am dritten Fenster links, der war nicht jung und war nicht alt. Eine Wanduhr war er, deren Pendel in den Morgenstunden schwang, tick tack, tick tack. Da kam ein tick, aus blieb das tack, schief hing das Pendel in der Luft und war erstarrt. Kein Mensch im Hause kümmerte sich um die Uhr. Es wird Mittag, es wird Abend, und das Uhrgesicht zeigt immer noch die frohe Jugendstunde: Kommt ein Ungeduldiger, entrüstet sich: »Wie, halb acht Uhr Früh, und geht doch schon auf sechs Uhr abends – na, dir werden wir mal – die Zeiger schnurren, es zerrt an den Gewichten – angstvoll rappelt's im Gehäuse, flehend heben sich die Zeigerhände: »Sachte, sachte!« – »– werden dir mal Beine machen, ehrwürdiges Gehäuse!« Klick, ist die Hemmung ausgeschaltet, rasend sausen die Zeiger, poltern die Gewichte – schrumm, zerbricht das Werk und reißen die Ketten. Nachhallend noch ein müder Klageton vom inneren Getriebe – aus!

Kemser war vor langen Jahren eingetreten. Er tickte fröhlich seine Arbeit mit dem Blick nach vorne. Nicht als ob er stürmen hätte wollen. Aber Stück um Stück sich langsam und bedächtig weiterhanteln, wie ein Stundenzeiger, ja, das hat er wollen. Als Bote hat er angefangen. Dann ward er Registrator. Eines Tages schrieb er Rechnungen. Dann hatte er Kassenblätter reinzuschreiben. Endlich winkte 75 ihm das Amt des Warenkalkulators. Das war der größte Sprung ins Reich der wirklichen Verantwortung.

Einen Tag vor dem Aemterwechsel aber klopfte es an seine Junggesellenbude: »Herr Kemser, morgen sind Sie Kalkulator.« – »Ich hoffe.« – »Auch ich bewarb mich um den Posten, habe aber keine Aussicht, es sei denn, daß Sie sich entschlössen –« – »Tut mir leid, ich will nicht minder vorwärts kommen.« – »Lassen Sie mich vor, wenigstens für eine Zeitlang, für ein Jahr, dann will ich mir anderswo einen Posten suchen.« – »Mit welchem Recht –?« – »Kein Recht, ich bitte Sie darum, wie um eine Gnade. Mein Lebensglück hängt davon ab. Ich bin verlobt – wir möchten heiraten – Sie kennen meine Braut.« Er kannte sie wohl, war sie doch seine Jugendgespielin, an der er heut noch hing. –

»Wenn ich diesen Posten nicht bekomme, jetzt, ist alles verloren. Der Vater ist gegen unsre Heirat, er möchte sie einem andern geben. Wenn ich morgen vor ihn treten kann mit diesem gutbezahlten Posten in der Hand, wird er zu unsrem Bunde Ja sagen. – Sie kennen die Familie, was der Vater will, das ist Gesetz.«

Es war Stille in der Stube. »Herr Kemser, was darf ich meiner Braut sagen?« – »Ich bin mir noch nicht klar. Morgen früh –« »Morgen früh ist ja der Posten zu besetzen.« – »Eben drum.« – »Herr Kemser, haben Sie Erbarmen – meine Braut sprach von Zyankali . . .«

Am andern Morgen. Der Prokurist war etwas feierlich an seinen Platz getreten: »Herr Kemser, wir haben beschlossen, den erledigten Kalkulatorposten in Ihre Hände –« – »Ich danke Ihnen für das Vertrauen, fühle mich jedoch dem Posten noch nicht recht gewachsen, weshalb ich bitten möchte, statt meiner den Herrn Kesselschmidt . . .«

Man war erstaunt. Man war etwas verschnupft. Herr Kesselschmidt rückte ein. Herrn Kemsers Lebensuhr rückte aus. Schief blieb der Pendel hängen, als er tick gemacht – zu tack hat er nicht mehr ausgeholt um halbacht in der Frühe. Und langsam ging es auf Mittag zu . . .

»Herr Kesselschmidt, wie ist es jetzt mit dem Posten? Das Jahr ist um – es gibt so viele Stellen anderwärts –«

76 »Ja, Herr Kemser, Sie sollten sich bewerben.«

»Ich?«

»Ja, denn sehen Sie, wir erwarten das erste Kind, meine Frau würde einen Todesschrecken haben, wenn ich jetzt meine Stellung wechseln würde. Und Sie werden sicher einsehen, daß das Glück einer Familie . . .«

Herr Kemser sah es ein und schrieb Bewerbungsbriefe. Es war keine gute Zeit. Hundertdreißig Briefe schrieb er. Auf einen kam die Antwort: »Sie sind in der engeren Wahl, und wir werden demnächst . . .«

Vor das »demnächst« schaltete sich ein vertraulicher Besuch der anderen Firma. »Hm«, antworteten Kramer & Friemann, »Herr Kemser will die Stelle also wechseln? Wir können ihn empfehlen. Aber daß er gerade einen solchen Posten nehmen will? Wir trauen ihm nicht viel Unternehmungsgeist zu. Vor längerer Zeit hat er eine Beförderung in unsrer Firma ausgeschlagen . . .^

Die Herren wurden bedenklich. Er erhielt die Stelle nicht. Kramer & Friemann schwankten einen Augenblick, ob sie ihm kündigen sollten. Herr Kemser hatte Angst. Seine Lebensuhr hielt zum Pendelschlag noch den Atem an. Die Zeiten waren schlecht, auch für einen Junggesellen.

Er durfte bleiben. Er atmete auf. Er klammerte sich mit Dankbarkeit und Inbrunst an die alte Arbeit: Kassenblätter ins Reine zu schreiben. Es war freilich nur eine eintönige Arbeit. Aber man konnte sich beim Schreiben so viel denken. Niemand störte ihn. Er ging im Reich der Phantasie spazieren. Er dachte Lebensläufe aus mit jähem Aufstieg. Das titanenhafte Schicksal der Handelskapitäne von Kemsers Gnaden übergoß die Kassenblätter mit dem Licht von Leuchtraketen. Das war gut so. Denn das dritte Fenster links hatte wenig Licht.

Und langsam ging es auf den Abend zu . . .

Die Zeiten wurden besser. Die Zeitungsspalten »Gesuchtes Personal« waren dringlicher und länger. Herr Kesselschmidt war in eine andere Firma eingetreten. Der Kalkulatorposten war jetzt frei. Sollte man Herrn Kemser –? »So, Herrn Kemser?« hieß es, »daß er uns aufs neue einen Korb gibt, wie vor Jahren?«

77 Herr Kemser hätte keinen Korb gegeben, wenn ihm auch gebangt hat. Herr Kemser hatte sich geübt im Kalkulieren wochenlang. Herrn Kemsers Lebensuhr rumorte leise. Der Pendel knarrte. Er hielt's für Unternehmungslust. Aber es war Rost.

Als ein anderer Kalkulator wurde, brauchte Kemser eine volle Woche, um sich's einzuphantasieren: Er angenommen? Hingeworfen hätte er den Bettel! Meint ihr, ich halte stille, bis es euch gefällt!

Und langsam kam die Nacht . . .

Kein Mensch mehr kümmerte sich um ihn. Geschlechter von Angestellten wechselten. Herr Kemser blieb bei seinen Kassablättern. Niemand hätte sich Herrn Kemser ohne Kassenblätter denken können.

»Herr Kemser«, fragte ihn mein Lehrlingsfürwitz, »waren Sie Ihr ganzes Leben Kassenblätterschreiber?«

Herr Kemser war nicht beleidigt. »Nein«, sagte er, »einmal hätte ich Kalkulator werden können. Aber ich habe es abgelehnt.«

Und ich war wieder vorgeschickt: »Warum, Herr Kemser, lehnten Sie es ab?«

»Weil – weil – die Kassenblätter haben einen Reiz, den ihr jungen Spritzer noch nicht recht verstehen könnt.« Wir hätten lachen können. Wir lachten nicht. Herrn Kemsers Züge waren nicht zum Lachen. Wer weiß, er hatte doch recht mit den Kassenblättern? Um seine Blätter hinterm Fenster links wob sich langsam scheuer Ruhm.

Da geschah's in meinen späten Lehrlingstagen, daß der Warenkalkulator militärisch eingezogen wurde. »Wir müssen für sechs Wochen einen andern an den Posten stellen«, sagte unser Prokurist.

»Es muß immerhin ein Mann sein, der fix und sicher rechnen kann – es ist mir dunkel in Erinnerung, als ob Herr Kemser mal vor vielen Jahren – ich will ihn doch rasch rufen.«

Herr Kemser ward gerufen: »Herr Kemser, Sie haben früher mal dem Kalkulatorposten vorgestanden –«

Herr Kemser hätte Nein sagen müssen. Herr Kemser sagte nicht Nein. Er stand nur still, wie jene Wanduhr mit dem 78 eingerosteten Pendel, die sich vormacht, daß sie schlagen könnte, wenn sie wollte. Herr Kemser tat es wohl, daß sich vergangene Zeiten zu seinem Gunsten langsam umzulagern schienen.

»– deshalb möchten wir Sie nun bitten, für sechs Wochen aushilfsweise den Kalkulatorposten am ersten Fenster links . . .«

Er wurde bleich. Er sagte nichts. Er nickte nur. Er ging mechanisch an seinen Platz am dritten Fenster links.

»Herr Brandmann«, sagte der Prokurist zum Kassenvorgesetzten des Herrn Kemser, »ist er denn entbehrlich?«

»Freilich, ich kann irgendeinen von den Lehrlingen an die Stelle setzen.«

Sie setzten mich an seine Stelle. Bevor er nächste Woche kalkulierte, sollte er mich in die Kassenblätter einarbeiten. Es war zum Lachen. Abschrift, Addition und weiter nichts. Aber er zitterte, als er erklärte. Da tat ich ihm die Liebe, ehrfurchtsvoll zu lauschen.

Unterdessen ging in seiner alten kassablattverstaubten Seele eine Schlacht vor: »Ich werd's nicht leisten können – ich kann nur addieren – an die zwanzig Jahre hab' ich addiert – das Multiplizieren und Dividieren hab' ich rein vergessen – wer hat mir noch gesagt, daß sie neuerdings mit Logarithmen rechnen – ich werde mich blamieren – aber wenn ich es gestehe, ist die Schande noch viel größer – was tun, was tun – ich sehe keinen Ausweg – Gott, wenn ich vor zwanzig Jahren doch den Posten angenommen hätte – warum hab' ich's nicht getan – weil da ein Mann war, glaub' ich, der heiraten wollte – Zyankali wollte sie nehmen, seine Braut, was ging mich der Mann an – was die Braut – zwanzig Jahre, zwanzig Jahre! gebt mir meine Abschriftszwanzigjahre wieder! Zyankali, ja, das ist leicht gesagt – Gott, hätt' sie's doch genommen – man soll Zyankalileuten niemals in die Arme fallen, find' ich – denn was nützt es – nach zwanzig Jahren muß es doch ein andrer dafür nehmen – o Gott, o Gott . . .«

»Herr Mathis«, sagte ich zum Prokuristen, »mir kommt Herr Kemser so verstört vor.«

Der Prokurist ging zum Kassierer: »Herr Brandmann, 79 der Herr Kemser macht mir Sorge. Vielleicht stellt er sich den Kalkulatorposten doch recht schwer vor für sein Alter –«

»Ach was, lang genug hat er geträumt bei seinen Kassablättern. Es ist Zeit, daß er was nachholt. Der frische Wind wird in seine alten Knochen blasen . . .«

Herr Kemser wurde immer fahriger. In seinen Augen flackerte es seltsam. »Sie haben doch Chemie studiert?« fragte er mich. – »Ein wenig«, sagte ich. – »Bitte, leihen Sie mir das Buch mal.«

Ich gab's ihm. Ich sah ihn drin studieren. Ich fand's in seinem Pulte aufgeschlagen: »Zyankali«. Ein paar Zeilen waren angestrichen:

»Auf eine zweite Art kann Zyankali aus ganz unschuldigen Grundstoffen hergestellt werden, die man in jeder Drogerie erhält. Man mischt reine Pottasche und gelbes Blutlaugensalz im Verhältnis von 2:3 und erhitzt die Mischung so lange, bis sich aus der Lösung Kristalle abscheiden. Diese sind Zyankali . . .«

Rasch schob ich die Lade zu. In meinem Lehrlingskopf ging's wild zu: Uebermorgen sollte Herr Kemser kalkulieren, und heute oder morgen Abend . . .? Zwanzig Pläne kreuzten sich in meinem Kopf. Aber wie's so geht, solange man jung ist: man hat immer etwas anderes zu tun, man schiebt auf und weg. So schiebt der Bär den aufgehängten Klotz zur Seite, um zum Honigbrot zu kommen. Der Klotz schwingt zurück – man schiebt kräftiger zur Seite. Jetzt aber kommt der Klotz mit Macht und trommelt an die Schädeldecke –

Gegen neun Uhr abends fing's in meinem Kopf zu trommeln an. »Mutter«, frug ich »darf ich noch Herrn Kemser rasch besuchen?«

»Was willst du denn bei ihm?«

»Wir – hm – wir – hm, ich glaube, wir wollen 'n kleines chemisches Experiment – gute Nacht, Mutter.«

Herr Kemser hatte sein einsames Zimmer im vierten Stock. Gerade vom Flur ging man hinein. Die erste Treppe nahm ich schnell. Bei der zweiten fiel mir ein: Was sagst du nur Herrn Kemser? Bei der dritten ging es langsam. Bei der vierten überlegte ich, ob Umkehren nicht vernünftiger wäre.

80 Aber da sah ich Licht vom Schlüsselloche auf den Flur fallen. Also war er auf. Wenn ich nur wüßte, ob ich störte. Ich will doch mal sehen –

Was ich sah durchs Schlüsselloch, war das: Ein Tisch. Darauf eine Spiritusflamme. Darüber eine Hand. In der Hand ein Löffel. Im Löffel eine Mischung. Links und rechts je eine Drogenschachtel.

Die Flamme zitterte. Ich zitterte mit. Dann zwang ich mich zur Ruhe. Noch war es Zeit genug. Selbst wenn sich schon Kristalle abgeschieden haben sollten, konnte Kemser sie nicht kochend – ha, was war das? Steil leckte die Flamme hoch, schwermetallen rannen die Tränen nieder: Kemsers Küchenlöffel war geschmolzen. Brüchig drang die alte Stimme durch die Türe: »Verflucht, verflucht! ich muß mir morgen einen andern Löffel kaufen.«

Morgen? Ich schnaufte aus und ging nach Hause. Jetzt wußte ich, was ich zu machen hatte. Zum Prokuristen ging ich und erzählte ihm von Zyankali und von einem armen alten Manne, der seine Uhr hat rosten lassen in der Jugend.

Der Prokurist ging über die Kassa an das dritte Fenster links: »Herr Kemser, Herr Kassierer Brandmann sagt, Sie seien unentbehrlich für die Kassenblätter. Da werd ich' wohl das Kalkulieren selber machen müssen . . .«

Zwei Menschen haben aufgeleuchtet, ein alter und ein junger. Und die verrostete Wanduhr hat noch manches Jahr im Inneren bescheidentlich geklungen, als habe sie noch Stunden anzuzeigen.

 


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