Fritz Müller-Partenkirchen
Kramer & Friemann
Fritz Müller-Partenkirchen

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Das Jubiläum

Heute also . . . .

Adolf Wiedmann hatte sich im Bett herumgedreht und blinzelte zum Fenster in die Morgendämmerung. In ihm selber war's nicht dämmerig. In ihm selber war es klar von einem stillen Licht. Vor ein paar Wochen war das Lichtlein aufgeglommen, flackernd erst und ungewiß, dann ward es größer, größer, und heute . . . heute morgen war es eine Sonne, die so sicher hinter dem Gebirge und Geröll des Lebens aufstieg, wie unsere alte Sonne jeden Tag.

Wie eine Sonne?

Nun, ein Jubiläum von einviertelhundert Jahren ist schon eine Sonne, dachte Adolf Wiedmann und reckte sich im Bette, daß es knackte in den Federn der alten Sprungfedernmatratze. Auch die Sprungfedern der Erinnerung knackten und schnellten rückwärts . . .

Heute vor fünfundzwanzig Jahren war er eingetreten. Ein altes Ladenschild streckte sich aus der Vergangenheit über die fünfundzwanzig Jahre herüber. »Kramer & Friemann« stand darauf. Es war keine neue Firma. Man sah es an dem Schild.

Und dann war er, der Neue, nach und nach ein altes Firmenstück geworden. Groß war die Firma damals nicht, eine Handvoll Leute über Laden, Magazin und das Kontor verstreut, das war alles. Die hielten aber auch zusammen wie geschweißt. Es war keine Ueberheblichkeit des einen vor 68 dem andern. Der Kontordiener schien genau so wichtig wie der Hauptbuchhalter und der Prinzipal. Und eben dieser Kontordiener war Adolf Wiedmann.

Und eben dieser Adolf Wiedmann drehte sich zum letztenmal im Bett herum und sprang heraus. Sprang mitten hinein in sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum. Fest auf seine beiden Beine sprang er. Die gaben noch nicht nach, trotzdem sie nicht viel weniger als an die sechzig Jahre aufzustützen hatten.

Ja, wenn bei ihm auch alles andere so zuverlässig gewesen wäre. Aber da war das Herz, das alte Herz, das klappte schon ein wenig nach . . . Und manchmal, wenn der alte Wiedmann nach der großen Aktenrevision den gebeugten Rücken rasch gerade straffte, gab's ihm einen Stich, daß er kaum noch schnaufen konnte. Wenn er dann mit der Rechten an den Kontorrock fuhr, wo links die Federhalter und die Stifte stecken, hätte er beschwören können, jetzt sei sein Herz auf einen Schnaufer oder zwei ganz stillgestanden.

Heute nichts von Stillestehen. Heute hieß es, hurtig in die Kleider. Ein Jubiläum ist ein Jubiläum. Das darf man nicht beschweren mit kopfhängerischen Gedanken. »Wer weiß« – er seufzte doch ein wenig – »wer weiß, zu einem fünfzigjährigen wird es wohl nicht mehr reichen. Ueber den lichtgewordenen Kopf fuhr er sich und schaute in den Spiegel.

Ein altes Gesicht sah ihm entgegen. Eins, das vom Kontor kreuz und quer zerprägt war, zerfältelt und zerpflückt. Es klopfte: »Zeit ist's, Herr Wiedmann, aufstehn!«

Er lächelte erst. Dann sagte er: »Bin schon auf, Frau Kolbinger. Die Sonntagskleider aus dem Gangschrank durch den Türspalt, bitte.«

»Die Sonntagskleider? Aber heut ist doch nicht –«

»Weiß schon, nicht für Sie, aber für mich.« Draußen brummelte die Wirtin. Draußen schlurften Schritte. Draußen klinkte die Tür einen Spaltbreit auf –

»Da, bitte. Vielleicht eine Taufe oder ein Begräbnis?«

»Weder – noch. Es ist etwas zwischen diesen zwei –«

»Ah, eine Hochzeit – aha – aha.« Befriedigt schlurfte es von dannen.

Herr Adolf Wiedmann lächelte immerfort beim Anziehen. 69 Wie ein Königshase freute er sich, daß er niemanden was von seinem fünfundzwanzigjährigen gesagt hatte. Seiner Zimmerwirtin nicht, der Hausmeisterin nicht, seinen paar Verwandten in der Stadt nicht, nicht einmal seinem Barbier. Und erst recht natürlich keiner Seele im Geschäft. Wäre noch schöner, die Geschäftskollegen mit der Nase draufzustoßen. Die mußten das von selber wissen. War sein Eintritt im Geschäft nicht unverlöschlich aufgezeichnet? Hatte er nicht erst vorgestern dem Prinzipal das Personalbuch aus dem alten Schranke holen müssen? Im Personalbuch aber stand es auf der dritten Seite: Adolf Wiedmann, Eintritt am 1. Juli des Jahres soundso. Und wenn man dazu fünfundzwanzig Jahre legte, kam auf ein Haar der Tag von heute 'raus. War das nicht klar genug? Natürlich wußten sie es alle im Geschäft, wenn sie es auch nicht merken ließen. Ueber so etwas wird vorher nicht geredet zu dem Jubilar, das ist ja selbstverständlich.

Aber er, der Adolf Wiedmann, hatte es halt doch gemerkt. Da war das Personalbuch, das man alle Augenblick verlangte und auf dem er eingetragen war auf Seite 3. Da war allerlei Geflüster im Kontor. Und wenn auch der jüngste Lehrling ihm gesagt hatte, um den Hauptbuchhalter habe sich's gedreht – ihm, dem alten Wiedmann machte man nichts vor. Da war ferner eine Vermesserei um sein Pult herum gewesen. Und wenn auch der Schreiner sagte, es handle sich um eine Wandbekleidung, er ließ sich hängen, wenn das nicht ein Transparent werden würde mit der umkränzten Lichtzahl 25 . . .

So – jetzt war er fertig. Noch ein paar Bürstenstriche, einen letzten Blick in seinen alten Spiegel und leichtbeschwingt, soweit die Füße und das Herz erlaubten, den Gang entlang –

»Herr Wiedmann, Ihren Kaffee!«

»Schon gut, Frau Kolbinger – verzichte heute –«, draußen war er. So schnell, daß Frau Kolbinger die sorgsam zurechtgelegten Fragen wegen der Hochzeit mit dem besten Willen nicht mehr anbringen konnte. Nein, das war nicht recht von ihrem Zimmerherrn. Nun kam er erst am Abend heim und konnte ihr noch höchstens sagen, wie's gewesen war, 70 während sie in erster Linie wissen hätte wollen, wie es würde. Die Zukunft hatte sie von je gekitzelt, am Vergangenen ließ sich nichts mehr ändern.

Auch bei Herrn Wiedmann war es heute so. Auch ihn bewegte auf dem alten Wege durch die Straßen, was bevorstand, nicht was gewesen. Gewesen waren fünfundzwanzig Jahre Pflichterfüllung, gewesen war vor zwanzig Jahren sein letzter schüchterner Versuch, sich eine kleine Frau zu holen, gewesen war die letzte Nacht voll wirrer Träume, gewesen auf ein Haar der letzte Kaffee, bei dem ihn die Frau Kolbinger ausholen hätte wollen . . . nein, es war besser, wenn er überhaupt den Kaffee strich – das Herz war wieder gar nicht recht in Ordnung – noch gestern hatten ihn die sonderbaren Stiche überfallen – hm, Stiche? – auch die Stiche gehörten zum Vergangenen, das ihn jetzt nichts anging. Jetzt, da er seinem höchsten Ehrentag zumarschierte, war das Heute Trumpf, die nächsten zwei, drei Stunden.

In diesen würde es sich zeigen, ob ihn sein Geschäft zu schätzen wußte. Würde es sich zeigen, ob die Angestellten im Geschäft was für ihn übrig hätten. Würde es sich zeigen, ob der Prinzipal auch eine kleine Rede hielt. Ob er ihm in Anerkennung treuer Dienste ein paar Noten – nein, kein Geld, ein Händedruck und ein paar liebe Worte waren mehr. Und am Ende noch das Transparent an seinem Pulte und – und vielleicht – er zitterte vor verhaltener Freude – – vielleicht auch noch ein Ständchen?

Ja, so ein Ständchen! Wann war es doch, da hatte er in einem Hof ein Ständchen spielen hören, ein wunderfeines Ständchen, und der Gefeierte hatte aus einem Fenster im dritten Stock gesehen. Wie der gerührt war, und wie alle Leute klatschten! Von der Rührung angesteckt, hatte ihn der Wunsch nicht mehr verlassen: Wie, wenn du auch einmal bei deinem Fünfundzwanzigjährigen . . . .?

Nicht, daß er es verlangte. Nein, selber mußte so was kommen, dann erquickte es. Darum hatte er kein Wort vorher gesprochen, nicht ein Wort. Auf die Gefahr hin, daß sie's ganz vergessen würden. Und wenn sie es vergäßen . . .?

Gut, so war es halt vergessen. Er, der Adolf Wiedmann, machte sich nicht allzuviel daraus. Nicht so viel!

71 »Guten Morgen, Herr Wiedmann!« Er fuhr herum. Aha, ein Lehrling. Wie der sich verstellte mit der Stimme! Aber er, der Wiedmann, hatte da ein feines Ohr. Er hörte doch den aufgeregten Jubiläumsklang aus dieses Lehrlings Stimme. Na ja, es würde kommen, was halt kommen mußte.

Etwas befangen schritt er durch das Tor, den Hof – leer? – kein Mensch mit einem Musikinstrument? Schon gut, das kam ja alles später.

Da war die Treppe. Aha, nochmal so blank gescheuert wie sonst. Langsam nahm er Stufe ab für Stufe, wie ein Feldherr.

Da war das Kontor, nüchtern wie immer. Aber – er schnupperte leicht nach oben – das war, Gott soll ihn strafen, Jubiläumsluft. Daß die gewohnten Leute an gewohnten Pulten saßen, die gewohnte Arbeit machten, sich kein Strichelchen nach Adolf Wiedmann umsahen, täuschte ihn als alten Kenner nicht. Die mußten früher aufstehn, ihn zu täuschen.

Da stand sein eigenes Arbeitspult. Er umfaßte es mit einem Blick – kein Transparent und keine Vorbereitung? Dummes Zeug, ein Transparent vorm Abend hatte keinen Zweck.

Er blinzelte nach der Mattscheibe des Privatkontors von Herrn Kramer. Ob der nicht über einem Konzept zu einer Rede saß? Wie, leer? Na ja, dann übte er halt noch in seiner Wohnung – würde später kommen –

Inzwischen kam die Arbeit. Adolf Wiedmann setzte sich an sein Pult, wie er es seit fünfundzwanzig Jahren, morgens, mittags, dreißigtausendmal getan. Adolf Wiedmann tauchte seine Feder ein und trug eingelaufene Rechnungen ein: Westerland & Co., Hamburg, 27. Januar . . . Mk. 3246.75 Gebrüder Michaelles, Bremen, 28. Januar. Mk. 4588.15 Friedrich Paulsen –

Die Kontoruhr schlug. Fertig mit den Rechnungen. Hinter ihm raschelten Blätter. Oder war's das Rascheln eines Kranzes? Aber er sah sich nicht um. Die Dinge des Glücks mußten von selber kommen. Er lief ihnen nicht nach. Nicht einmal den Halswirbel drehte er nach ihnen. Jawohl, das konnte er sich leisten. Er kam auch ohne Glück aus. In 72 fünfundzwanzig Jahren habe ich's bewiesen, dachte er, sich selber überredend. Obgleich er hätte wissen müssen, daß in den fünfundzwanzig Jahren eine ganze Menge Glück war.

Oder war es kein Glück, in fünfundzwanzig Jahren niemals aufgekündigt zu werden? Da waren andere, die von einer schlechten Zeit aufs Pflaster hinausgeworfen, halb verhungerten. Und er? Keine Sorgen von Bedeutung, ein leidliches Sparkassenbuch . . . Und war es kein Glück, Dutzende von jungen Leuten heranbilden zu helfen, die ihren Weg in die Welt hinaus machten?

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,

kam's ihm in den Sinn. In die weite Welt hinaus war er wohl noch nie gekommen. Aber ist die weite Welt nicht überall? Auch in einem Kontor, das sich jetzt zum Jubiläum rüsten würde.

»Wiedmann!«

»Bitte, Herr Kramer?«

»Personalbuch, rasch!«

Er flog zum Bücherschrank. Wie von selber schlug sich die Seite 3 auf.

»Ist gut.« Aha, er machte Notizen. Lächelnd ging er an seinen Arbeitsplatz zurück.

»Wiedmann!«

»Ja?«

»Stellen Sie das Personalbuch an seinen Platz zurück.«

Die Zeit verrann. Die Uhr schlug neun. Hm, wenn er sich nicht täuschte: Vor zehn Uhr wurde nie ein Jubiläum –

»Wiedmann, Postanweisungsbuch schon eingetragen?«

»Nein, Herr Brandmann, in einer halben Stunde etwa, wenn –«

»Schon gut – 'n bißchen fix, wenn ich bitten darf.«

Wiedmanns Feder flog:

Max Borner, Regensburg         Mk. 45.60
August Blümmer, Kempten Mk.  134.10
Stephan Kreidolf –

»Bscht, Herr Wiedmann«, sagte da eine halblaute Stimme neben seinem Pult, »warum sind Sie heute gar so feierlich gekleidet?«

73 »Ich?« Er sah an sich hinab, dann auf den fragenden Volontär Sturmbrenner, »ich? ich bin gar nicht extra angezogen.«

Hm, der wußte also nichts? Uebrigens ganz natürlich. Alle konnten doch nicht eingeweiht sein. Der Prinzipal, der Prokurist und noch einige vom oberen Personal, hatten die Geschichte unter sich beraten – die würden dann –

Hm, zehn auf zehn – uff! War das ein langer Stich im Herzen. Er schnappte nach Luft. Es war ihm siedend eingefallen. Daß er aber auch nicht früher daran gedacht hatte! Hundertmal hatte er sich vorgestellt, wie der Prinzipal die Rede halten würde, wie sie ihm alle der Reihe nach die Hand drücken würden, alles das hatte er sich bis in die kleinste Einzelheit schon ausgemalt – wie oft, wie oft – aber was er drauf erwidern würde – und es war doch klar, er mußte drauf erwidern – nein, nicht viel, durchaus nicht viel, zwei Sätze etwa, oder auch nur einen – aber immerhin, wissen mußte man doch diesen Satz vorher –

Und er begann, sich diesen Satz in fieberhafter Eile zurechtzulegen: »Herr Prinzipal, meine Herren«, würde er sagen, »ich bin von Ihrer Güte – ja, von Ihrer Güte, überwältigt und ich danke Ihnen von Herzen – ja, von ganzem Herzen für die unverdiente –«

Teufel, noch eine Minute vor zehn – gleich würde Herr Kramer in seinem Privatkontor aufstehn, zum Prokuristen gehen –

Da – da kamen Musiktöne vom Hofe herauf und trommelten leise an die Fensterscheiben – tralala – Klarinetten, Flöten, eine Orgel oder so was, aha aha –

Ein sonniges Leuchten ging über Adolf Wiedmanns Züge. Sonnen von fünfundzwanzig Jahren spielten über sein Gesicht: »Ah, jetzt kam's – jetzt kam das Ständchen . . . . er hatte es ja doch gewußt – gewußt – uff!« Ein neuer Stich, ein letzter Stich – kurz schnaufte er auf, ein letztes Mal – vornüber sank der Kopf aufs Pult.

Vom Hofe die Töne quollen und quollen:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er –

74 orgelte der Invalide da drunten herauf, gleichmütig, unermüdlich –

»Wiedmann, sagen Sie dem Mann, er soll aufhören und – – und geben Sie ihm eine Kleinigkeit – Wiedmann!!«

Aber Wiedmann sagte dem Mann nichts mehr und gab dem Mann keine Kleinigkeit mehr. Wiedmann, dem der Herrgott im rechten Augenblick die rechte Gunst erwiesen hatte, war von eben diesem Herrgott auf einen weiten Weg geschickt worden, einen Weg, von dem er niemals wiederkommen würde, um auf dieser Erde fünfundzwanzigjährige Jubiläen zu feiern . . .

 


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