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Siebenunddreißigstes Kapitel.

Durch Nacht zum Licht.

Nicht ohne Besorgnis sah man im Hause der Altertümlerin den Abend hereinbrechen. Was von der Karussellmutter begonnen, was durch die späteren Ereignisse in Mutter Sarahs Raubhöhle und im Hause Nathans gefördert und gezeitigt worden, das schien Ulrichs Besuch und das zwischen ihm und Meredith gepflogene Gespräch zum Abschluß gebracht zu haben.

Tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich Maßliebs bemächtigt. Auf ihrer Seele ruhte es sichtbar wie ein schwerer Bann; wenn ihre Augen auch freundlich lächelten, von ihren Wangen war die Farbe jugendlicher Lebenskraft gewichen, und um die frischen Rosenlippen lagerte es, als hätte sie in bitterliches Weinen ausbrechen mögen; und doch verließ kein Laut der Klage dieselben. Liebevoll, wie man ihr begegnete, hatten auch ihre Ausdrücke innigster Zuneigung und Dankbarkeit keine Wandlung erfahren, aber in Blick und Wort offenbarte sich eine gewisse Befangenheit, der stille Wunsch, allein zu sein. So war der Rest des Tages dahingegangen und Nacht senkte sich auf die Stadt, als Maßlieb sich endlich zur Ruhe begab. Ihr Abschiedsgruß von allen war ein fast herzlicherer, als gewöhnlich. In ihren Augen perlten sogar Tränen, als sie nach alter Weise Merediths Hand küßte und sie flüsternd bat, zu verzeihen alle die unruhigen Stunden, die sie ihr schon bereitet habe und wohl noch bereiten werde. Dann besuchte sie den alten Schwärmer in seinem Giebelstübchen, und bald darauf war es so still im Hause, als ob es ausgestorben gewesen wäre. Nur in dem Gemache, das Maßlieb ausschließlich für sich allein angewiesen erhalten hatte, brannte noch lange Licht, wie um heimlich nahende und gefürchtete Träume zu verscheuchen.

Im Osten begann das nächtliche Dunkel sich zu lichten, als die Tür von Merediths Hause geräuschlos geöffnet wurde, und zwei Gestalten in den Garten hinausschlüpften. Ebenso geheimnisvoll traten sie auf die Straße hinaus, wo sie sogleich mit hastigen Schritten dem Innern der Stadt zueilten.

Des alten Schauspielers Giebelstübchen war leer, es fehlte sogar die Gitarre, die in ihrem grünen Überzug zu Häupten seines Bettes zu hängen pflegte. Auch Maßliebs Zimmer war vereinsamt; ihr einfaches Kleid und das rote Kopftuch, das sie in früheren Zeiten zu tragen pflegte, hatte sie nur mitgenommen. Auf dem Tisch lag dagegen ein Brief an Meredith. Unter den Beteuerungen innigster Anhänglichkeit und ewiger Dankbarkeit beschwor sie ihre mütterliche Freundin, nicht nach ihr zu forschen oder besorgt um sie zu sein. »Wie ich gekommen, werde ich gehen,« schloß sie die mit kindlicher Einfachheit niedergeschriebenen Mitteilungen, »ich folge dem unwiderstehlichen Drange meines Herzens; wohin er mich führt, Gott mag es wissen. Mir ist, als hätte ich eine heilige Pflicht zu erfüllen, um anderer, um meiner selbst willen, und ist das geschehen, und drohen Angst und Not mich zu verzehren, dann weiß ich, wohin ich immer wieder flüchten darf, um den Frieden meiner Seele zurückzugewinnen.«

Weit, weit befanden Maßlieb und ihr greiser Begleiter sich von der trauten Heimatsstätte, als das erste Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. Die letzten Häuser der Vorstadt waren bereits hinter ihnen zurückgeblieben. Sie wandelten dieselbe Straße, wie vor beinahe Jahresfrist. Wie damals legte auch heute der weiße Chausseestaub sich auf ihre Kleider. Klar wie damals war der Himmel, und in Milliarden von Tautropfen spiegelte sich die aufgehende Sonne. Doch was damals ihr Herz erfreute, sie gleichsam tröstlich begrüßte, heute wandelten sie stumm vorüber. Sie hörten nicht den Jubel der in die Lüfte steigenden Lerchen, sahen nicht das gesättigte Grün dicht belaubter Waldbäume und reich gesegneter Fluren. Auch Sonntag war es nicht. Marktwagen begegneten ihnen, Milchmädchen und Arbeiter, die ihren Feldbeschäftigungen nachgingen. Maßlieb hatte das rote Kopftuch tief über ihre Stirn gezogen gegen den Sonnenbrand, auch gegen die Blicke der ihnen begegnenden Leute, von den sie meinte, daß sie ihr bis ins Herz hineinzuschauen vermöchten. Sie empfand weder Hunger noch Durst, noch verriet sie Neigung zu rasten auf grasreichem Grabenufer oder im Schatten des Waldes. Aber dem alten Manne bot sie wie vor Zeiten den Arm, um ihn zu stützen, ihm das Gehen zu erleichtern. Dabei erzählte sie, daß er ihr bester Freund sei und der einzige Sterbliche in der Welt, von dem sie einen derartigen Liebesdienst habe erbitten können. Daß sie nur noch ein einziges Lied von ihm begleitet zu haben wünsche, und dann nie, nie wieder in ihrem Leben zum Gesange ihre Lippen sich öffnen würden. Indem sie aber also sprach, meinte der alte Mann, daß ihm vor Wehe das Herz brechen müsse; denn es klang ihm wie ein letzter Wille, wie ein letztes Aufatmen heiterer Jugendkraft vor ihrem Dahinsinken in düsteren unheilbaren Gram. Zerknirscht beteuerte er ebenfalls, dem alten Instrument nie wieder einen Ton entlocken zu wollen, und müßte er deshalb eines gräßlichen Hungertodes sterben. Nicht einmal Trostworte standen ihm zu Gebote, eine solche Entschiedenheit offenbarte sich in seines Lieblings Wesen. Wehmutsvoll gedachte er jener Tage, da sie vereinigt um eine Stückchen Brot und Pfennige spielten und sangen. Damals trieb sie die Not und dennoch schauten sie so wohlgemut in die Zukunft; und heute? Ach, heute mußte die Not noch viel, viel größer sein, da Maßlieb sich dazu entschloß, alle Liebe und alle Freundschaft hinter sich zurückzulassen und sich aufs neue planlos in die Welt hineinzustürzen. Den Grund, gern hätte er ihn gewußt, und doch wagte er nicht, danach zu fragen, noch weniger einen Tadel auszusprechen.

Und so wanderten sie ihres Weges, still und in sich gekehrt, als hätten sie sich in einem Trauerzuge befunden. Sie wanderten dahin, unbekümmert darum, daß die Natur ringsum ihnen aus vollem Herzen zulachte, jede Blüte am Wege, jeder Vogel unter seinem Laubdach sie zur Lust und Freude aufzufordern schien. Hinter ihnen hüllte die Stadt sich in einen duftigen Nebelschleier; vor ihnen tauchten die Strohdächer eines Kirchdorfes aus grünen Obstgärten empor. Dasselbe Dorf, in dem sie einst einer unbekannten Toten die letzte Ehre erwiesen! Dasselbe Dorf und doch erschien es ihnen so fremd! Die Häuser waren leer; nur hin und wieder ein altes Mütterchen und einige sich im Staube balgende kleine Kinder. Was Arme zum arbeiten hatte, befand sich draußen auf dem Felde; und die heranwachsende Dorfjugend? Sie kamen an einem stattlichen Hause vorbei. Die Fenster desselben waren weit geöffnet; eine laute Männerstimme drang zu ihnen heraus; die Worte verstanden sie nicht, allein sie klangen belehrend, und als sie verstummten, da sangen wohl fünfzig helle Kinderstimmen vom schönen Monat Mai, der alles so frisch frei mache, daß Maßlieb vor Rührung heiße Tränen über die Wangen rollten und sie, anstatt den alten Mann zu unterstützen, sich selber auf seinen Arm lehnte. Die Kirche erkannten sie von fern wieder. Sie war verschlossen; auch die Friedhofspforte, sie wären sonst hingegangen, um sich zu überzeugen, daß man auch in einem Dorfe mit treuer Liebe der Dahingeschiedenen gedenke. Heute war niemand zur Hand, der sie gastfrei an seinen Tisch führte, ihnen nach Beendigung der Mahlzeit ein glückliche Reise wünschte. Auch war die Mittagsstunde noch nicht da. Aber eine Erfrischung erbaten sie sich im Dorfkruge, und angemessen bezahlten sie dieselbe, anstatt, wie wohl früher geschah, durch Spiel und Gesang sich dankbar zu beweisen. Und nach kurzem Säumen verfolgten sie ihren Weg weiter aus dem Dorfe hinaus und durch einen schattigen Wald, und dann wieder an wogenden Saatfeldern vorbei, wo die hohe Mittagsglut sie mit voller Gewalt traf. Aber sie waren unermüdlich, das hinfällige Greisenalter wie holde Jugendanmut. Erst nachdem sie die Grenze überschritten hatten, auf deren anderer Seite wüste Brachfelder ihnen von allen Seiten entgegenstarrten, erklärte Maßlieb, ein Weilchen rasten zu müssen. Auf das Ufer eines halb zugewucherten Grabens setzten sie sich nieder, so daß in nicht allzu großer Entfernung ein zerfallenes Gehöft sich in ihrem Gesichtskreise befand. Schweigend blickten sie hinüber. Der alte Schauspieler verglich in Gedanken sich selbst mit den öden Flächen, die, des pflegenden Beistandes der Menschen beraubt, sich in eine traurige Wüstenei verwandelten. Maßlieb hatte ein Männertreublümchen abgepflückt. Einen langen Blick sandte sie nach dem Wohnhause des Gutes hinüber, und als sie wieder auf ihre Hand sah, da war das himmelblaue Sternlein abgefallen. Sie erschrak und meinte, daß sie selber die so leicht jedem Hauch erliegende Blüte gewesen, und ihrem greisen Begleiter emporhelfend, bat sie ihn schmeichelnd, nur noch eine kurze Zeit auszuhalten, nur so lange, bis sie auf dem Gute ihr letztes Lied gesungen; dann wollte sie ihm folgen, wohin nur immer sein Sinn stehe.

Und weiter wanderten sie auf einem wenig befahrenen Feldwege, vorbei an verödeten Weiden, vorbei an einer Fläche mit Feldfrüchten bestellten Ackerlandes, etwa so groß, wie ein einzelner Mann mit zwei Pferden im Laufe der Frühlingsmonate zu bearbeiten vermag. Ein Pflug lag dort. Sinnend betrachtete Maßlieb die glattgegriffene Handhabe. Sie erriet, wer sie, Furchen ziehend, zuletzt gehalten, wer die in frohen Knabenjahren spielend angeeignete Fertigkeit im reiferen Alter als Mittel zu einem kläglichen Broterwerb benutzt hatte.

Bevor sie nach dem Hofe hinaufgingen, zog Maßlieb das rote Tuch noch tiefer über ihr Antlitz. Ein Weilchen zögerte sie, wie zurückbebend vor einer ihr unausführbar erscheinenden Aufgabe. Plötzlich ergriff sie Schwärmers Hand.

»Verlassen Sie mich nicht,« flüsterte sie bleichen Antlitzes und schwer atmend, »nur noch wenige Minuten leihen Sie mir Ihren Schutz; mag dann kommen, was da wolle, keine Klage soll über meine Lippen dringen. Nur noch dies eine – mein letztes Lied –«

Hastig zog sie den greisen Komödianten mit sich fort, und bald darauf standen sie in der offenen Tür des geräumigen Hausflurs.

Schwärmer hatte bereits vorher die Gitarre aus dem Überzug genommen und gestimmt. Einige Akkorde schlug er an, und: »In einem kühlen Grunde« tönte es der Verabredung gemäß silberklar und doch sanft durch das öde Haus, daß es mit einem Traume zu vergleichen gewesen wäre, wie solcher die am einsamen Ort über unergründlicher Tiefe sich verschlafen wiegende Wasserlilie beschleichen mag.

Nichts rührte sich; das Gebäude schien in der Tat ausgestorben zu sein. Bis in die entferntesten leeren Räume drang der süße Gesang. Indem aber Strophe auf Strophe folgte, schwollen die glockenreinen Töne wie nie zuvor. Aber auch nie zuvor war Maßlieb in so hohem Grade von dem unbewußten Trachten durchdrungen gewesen, ihr bestes zu leisten. Es war ihre Seele, was sie in den Gesang legte; ihr Leid und ihr Bangen, ihr Sehnen und ihr Hoffen, den Geliebten, bevor er in unbekannte Fernen floh, durch ihre Stimme süßen Trost in das vereinsamte Herz zu senken, ihn um eine letzte freundliche Erinnerung zu bereichern.

Ihr Antlitz, unkenntlich durch die Falten des roten Tuches, hatte sie dem Hofe zugekehrt, wie in Furcht vor den weit offenstehenden, in das Innere des Hauses führenden Türen. Zugleich aber lauschte sie mit tödlicher Spannung nach der Richtung hinüber, in der sie den Herrn des Hauses vermutete.

Sie war am Schluß des Liedes angekommen.

»Am liebsten möcht ich sterben,
Dann wär's auf einmal still –«

wiederholte sie noch einmal unbeschreiblich zart und innig, als hätte sie in diese Worte einen letzten Abschiedsgruß verflechten wollen.

Da vernahm sie das Knistern des Sandes unter behutsam einherschreitenden Füßen. Sie sah niemanden, allein sie wußte, wer aus dem Zimmer auf den Flur getreten war und, stehenbleibend, die beiden wandernden Musikanten betrachtete.

Mit dem letzten ersterbenden Hauche des Liedes ergriff sie daher Schwärmers Hand, um ihn mit fortzuziehen. Dieser dagegen leistete Widerstand. Er meinte, einer Pflicht zu genügen, als Ulrich sich ihm näherte, offenbar um ihn anzureden.

»Heute treffen Sie zu einer günstigeren Zeit ein,« hob eine Stimme an, die Maßlieb bis in ihr armes, banges Herz hinein erbeben machte, »wer mir einen so freundlichen Genuß bereitete, der soll nicht von dannen gehen, ohne das Mittagbrot mit mir geteilt zu haben.«

Er trat seitwärts, um einen Blick in Maßliebs Antlitz zu gewinnen, aber vergeblich. Sie hatte das Haupt gesenkt; nur einige schwarze Locken quollen unter dem faltigen, roten Tuch hervor.

»Ich bedaure,« stotterte Schwärmer auf die Einladung, und er gab Maßliebs krampfhaftem Drängen nach, »unsere Zeit ist sehr kurz bemessen – wir müssen fort – in dem letzten Dorfe, durch das unser Weg führte, fanden wir Gelegenheit, uns zu erfrischen.«

»Um ein anderes Lied würde ich also vergeblich bitten?« fragte Ulrich befremdet, und aufmerksamer betrachtete er die Gestalt des jungen Mädchens, das den greisen Komödianten noch immer nach sich zog.

»Ich bedaure,« antwortete Schwärmer wiederum in seiner Not, »Sie sehen, ich glaube, meine Begleiterin – nein, die Anstrengung und die Hitze –«

»Gut, gut,« versetzte Ulrich bitter einfallend, »zum Singen kann niemand gezwungen werden – obwohl es mir eine sehr große Freude bereitet hätte, die schöne Stimme – doch ich sehe, meine Worte fallen auf keinen günstigen Boden; nehmen Sie wenigstens dies,« und wie vor Zeiten reichte er auch jetzt wieder dem alten Mann einen Taler.

Schwärmer war Maßlieb auf den Hof hinaus gefolgt. Aus dem heftigen Zucken ihrer Hand erriet er, daß sie eine Weigerung der Annahme des Geldes verlangte. Bei ruhiger Überlegung hätte sie diese Bewegung vermieden. Schwärmer hätte das Geld dankend eingesteckt und ungehindert wären sie vom Hofe hinuntergegangen. Als Ulrich aber sah, daß der alte Mann, anstatt die Gabe anzunehmen, mit unverkennbarer Befangenheit sich verabschiedend grüßte, stieß er ein unsäglich bitteres Lachen aus.

»Sogar die Armut wendet sich in Verachtung von mir,« sprach er vor sich hin, jedoch laut genug, um von den Davonschreitenden verstanden zu werden, »nun, auch das muß getragen werden,« und wiederum sich selbst verlachend, kehrte er ins Haus zurück.

Er hatte die Tür des Zimmers noch nicht erreicht, als er plötzlich seine Hand ergriffen und krampfhaft gedrückt fühlte. Befremdet trat er zur Seite, und dann blickte er in ein Antlitz, von dem er glaubte, daß es nur in Träumen den Weg zu ihm finden würde. Das rote Tuch hatte Maßlieb in der Hast ihrer gleichsam unbewußten Bewegung zurückgeworfen; die sonst so frische Lebensfarbe ihrer Wangen war erloschen, in ihren großen Augen aber ruhte der Ausdruck jemandes, der, hinabgeschleudert ins stürmisch bewegte Meer, in der nächsten Sekunde von den schäumenden Wogen verschlungen und begraben zu werden erwartet.

»Niemand verachtet Sie,« entwand es sich flüsternd ihren bebenden Lippen –, ihre Sprache stockte, und indem sie jetzt erst zu dem eigentlichen Bewußtsein ihrer Lage gelangte, breitete flammende Glut sich über ihre lieblichen Züge aus. Die Augen aber, die sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck freudigen Erstaunens auf sich gerichtet sah, flößten ihr Todesangst ein. Wie um deren Blick zu entfliehen, hob sie die krampfhaft gehaltene Hand empor, und ihr Antlitz über dieselbe hinneigend, brach sie in so heftiges Schluchzen aus, daß nur einzelne ihrer Worte des noch immer sprachlosen Ulrichs Ohr verständlich erreichten.

»Ich wußte nicht, was ich tat,« tönte es leise zwischen dem Schluchzen hindurch, »Verzeihung – nun will ich wieder gehen –«

Sie richtete sich empor, und wie aus Angst vor den auf ihr ruhenden Blicken das Haupt gesenkt, schwankte sie der Haustür zu. Kaum zwei Schritte hatte sie zurückgelegt, da stand Ulrich wieder vor ihr.

»Maßlieb,« sprach er tiefbewegt und doch im hellsten Jubelton, »ist es denn wahr? Sind Sie es selber? Ist es kein Traum? War die süße Stimme die Ihrige? Sind Sie dasselbe rätselhafte Wesen, dem ich einst im Hause jener Altertümlerin begegnete?«

Maßlieb vermochte nicht zu antworten, aber willig duldete sie, daß Ulrich sie in das Wohnzimmer führte und dort sanft auf einen Stuhl niedergleiten ließ.

»Die Armut zur Armut,« sprach er dabei, und wies auf die leeren Wände und den einfach gedeckten Tisch, »du aber, du mein geliebtes Maßliebchen, ich frage dich nicht, woher du kommst, nicht, wohin du deine Schritte lenktest. In deinen Blicken las ich die Verwirklichung meiner Träume, und das ist mir alles. Arm, wie du sein magst, bringst du mir dennoch des Himmels reichste Schätze. Sei mir daher vieltausendmal gegrüßt, du mein Sehnen und Hoffen! Sei mir gegrüßt in deiner Armut, in deiner Dürftigkeit; sei mir gegrüßt mit deinen Augen, in denen dein liebes, liebes Herz sich so getreulich spiegelt! Sei mir gegrüßt, wie du dasitzest, mit deinem Bangen und Zagen, mit deinem Zweifeln und Hoffen! Sei mir gegrüßt, wie du hervorgegangen aus Mißgeschick und Widerwärtigkeiten, und wie du längst, längst eine Stätte in meinem durch die Wucht der Ereignisse bereits erkaltenden Herzen fandest! Nicht um die Welt möchte ich dich anders haben, als ich jetzt dich vor mir sehe! Denn ein guter Gott hat dich dahin geführt –« und inniger, wärmer erklang seine Stimme –, »wohin du gehörst: an meine Seite, an mein Herz, von wo keine Macht dich mehr fortzureißen vermag.«

Er schwieg und betrachtete leuchtenden Blickes und mit atemloser Spannung die holde Gestalt, die dasaß, als wäre sie bereits der Erde entrückt gewesen. Die Augen wagte sie nicht zu erheben. Wunderbar verlockende Bilder schwebten ihrem Geiste vor. Es regte sich die unbestimmte Hoffnung, das Verlangen, die Sehnsucht, in ihre frühere Dürftigkeit zurückzusinken, zu verleugnen Herkunft und Reichtum, auf nichts mehr Anspruch zu erheben, als auf den Namen Maßlieb, nur auf die einzige Aufgabe, ihm dienen und treu sein zu dürfen, ihm, der nicht nach dem Woher und Wohin fragte, ihr seine Arme entgegenbreitete, ihr ein Herz bot voll lauterer, unvergänglicher Liebe.

»Maßlieb,« hob Ulrich nach einer längeren Pause an, während der er, hingerissen von Bewunderung des süßen Bildes der Geliebten, im Geiste gleichsam gemeinschaftlich mit ihr rang gegen jungfräuliches Zagen und verschämtes Bangen, »ich habe dir nichts zubieten als mein Herz; du dagegen befreist mich aus den Fesseln, in die unverschuldetes Mißgeschick mich einschnürte, bahnend den Weg der finsteren Dämonen des Hasses und der Verbitterung. Hier stehe ich vor dir –« und seine Stimme zitterte angesichts der Regungslosigkeit Maßliebs, und wie um die seiner Seele vorschwebenden Bilder festzubannen, legte er seine Hand auf das gesenkte teure Haupt, »hier stehe ich vor dir, nicht Herr der kleinen Stätte, auf der meine Füße ruhen, nicht Gebieter der Luft, die ich zwischen diesen öden Mauern einatme. Man hat mir Wege angedeutet, bis zu einem gewissen Grade sogar angebahnt, auf den ich bald wieder zu Reichtum mich emporschwingen könnte, allein mit Verachtung wies ich alles zurück. Man zeigte mir ein Bild sorgenfreien Familienlebens – wenn vielleicht auch nur scherzweise – doch auch das hatte keinen Reiz für mich, drohte vielmehr die günstige Meinung zu erschüttern, die ich seit lange von anderen hegte. Ja, Maßlieb, alles, alles verwarf ich mit Entrüstung. Die Anerbietungen freundlich gesinnter Menschen, wie die Opfer eines noch unselbständigen, mit einer gewissen Überspannung urteilenden Wesens, das sich vielleicht in der Rolle gefiel, als meine Wohltäterin aufzutreten; alles verwarf ich, während dein liebes Antlitz mir vorschwebte, deine süße Stimme unablässig in meinem Herzen vibrierte. Dir aber, die du vor mir sitzest im vollsten Reichtum der von einer gütigen Natur dir verschwenderisch verliehenen Vorzüge, die du außer diesen Schätzen nichts dein Eigentum nennst, dir biete ich aus dem tiefsten Grunde meiner Seele alles, worüber ich frei verfüge, ich biete dir meine unwandelbare Liebe, eine über das Grab hinausreichende treue Zuneigung.

»Maßlieb, du bebst – du versagst mir den Blick in deine freundlichen Augen – ich besitze keine Heimstätte, um dich in dieselbe einzuführen; aber zu dir sprechen kann ich und heilig beteuern: wohin du ziehst, ich will dich begleiten; die Vergangenheit will ich aus meinem Leben streichen; von Tür zu Tür will ich mit dir gehen, in dir allein alles suchen, was mir bisher versagt geblieben: meines Lebens Glück, meines Lebens Freude.«

Maßlieb regte sich immer noch nicht; aber die gefalteten Hände rangen sich ineinander, und tiefer, wie der letzten Kraft beraubt, neigten sich Haupt und Oberkörper über dieselben hin.

Ulrich erbleichte, indem er mit unsicherer Stimme, jedoch mehr wie zu sich selbst sprechend, fortfuhr:

»Soll auch dieser, mein letzter, mein süßester Traum zerrinnen, nachdem er kaum die Farben und Formen der Wirklichkeit gewann? Soll in Nichts versinken ein ganzes Leben, das, trotz des Erbleichens früherer, wohlberechtigter kühner Hoffnungen, sich dennoch so gern an ein holdes Liebesglück angeklammert hätte?«

Er sprach noch, da war Maßlieb emporgesprungen. Ein Weilchen schien sie zu schwanken, wohin sie sich flüchten sollte. Ihre Blicke hingen, wie um Erbarmen flehend, an seinen Zügen. Ihre Wangen glühten, es verkürzte sich ihr Atem und heiße Tränen entstürzten ihren Augen. Dann aber Ulrich beide Hände reichend, duldete sie, daß er sie an seine Brust zog, ihre Lippen küßte, und sie sein eigen nannte. Sie duldete, daß er ihr Haupt sanft an seine Schulter lehnte, ihr beteuerte, daß nichts in der großen, weiten Welt mehr zwischen sie treten könne, sie hinausziehen wollten, um fern den Stätten trüber Erinnerungen sich eine neue Heimat zu begründen.

Wie in süße Bewußtlosigkeit versenkt, aus der zu erwachen sie fürchtete, lauschte Maßlieb seinen Worten. Ihr fehlte die Sprache, fehlte der Mut, über die Gegenwart hinauszudenken in die Zukunft, von der sie meinte, daß sie wie ein Abgrund sich vor ihr öffne. Aber fester schmiegte sie sich an Ulrich an.

So verrannen Minuten, der armen Maßlieb selige und doch so bange Minuten. Ein unmelodischer schriller Ton schreckte beide aus ihrem Taumel, und als sie hinüberschauten, erblickten sie den greisen Komödianten in der Tür. Tränen befeuchteten seine eingefallenen Wangen; unter dem krampfhaften Griff, mit dem er die Gitarre hielt, war eine Saite gesprungen. Ihm über die Schulter lugte die alte Haushälterin, freudiges Erstaunen in ihren Zügen, einen heiligen Segenswunsch auf den Lippen. –

Draußen brannte die Sonne mit sengender Mittagsglut auf das zerfallene Gehöft und die brachen Felder nieder. Die über dem erhitzten Erdboden lagernde Atmosphäre zitterte. Im Schatten ruhten die Vögel. Die rastlosen Bienen badeten sich wollüstig im Blütenstaub. In dem alten Wohnhause gelangten immer neue Empfindungen frohen Hoffens zum Ausdruck. Nur Maßlieb schien sich ihres Glückes nicht freuen zu können. Selbst Ulrichs zärtlichste Aufmerksamkeiten genügten nicht, eine ängstliche Befangenheit aus ihrem Wesen zu verscheuchen. Schüchtern sprach sie von ihrer Sehnsucht nach Meredith Kabul, wie es sie hinziehe zu ihr, von der sie einst liebevoll aufgenommen worden war; wie eine schwere Last ihr Gemüt bedrücke und sie nicht frei auszuatmen vermöge, bevor sie jene gesehen, von ihren Lippen vernommen habe, ob sie eines dauernden irdischen Glückes wert oder unwert sei.

Die Schatten waren bereits um ein Erhebliches gewachsen und wiesen östlich, da stand vor der Tür der mit den beiden Ackerpferden bespannte Leiterwagen, um Maßlieb ihrer alten Wohltäterin zuzuführen. Schwärmer stieg auf; Ulrich und Maßlieb folgten; ein letzter Gruß der treuen Veronika, und dahintrabten die beiden Pferdeveteranen so munter, als wäre selbst ihnen eine Ahnung kommender besserer Zeiten nicht fremd gewesen.

Doch je weiter sie sich von der wüsten Feldmark entfernten, um so unruhiger wurde Maßlieb. Leise, als hätte sie befürchtet, ein Unrecht dadurch zu begehen, bat sie, absteigen und ein Weilchen zu Fuß dem Wagen folgen zu dürfen. Schwärmer ergriff die Zügel mit unkundigen Händen und ließ sich von den verständigen Gäulen fahren; eine Strecke hinter dem Wagen aber wandelten Arm in Arm Ulrich und Maßlieb.

Die Atmosphäre war kühler geworden. Liebliche Beleuchtung ruhte auf den Baumwipfeln, zauberische Streiflichter suchten ihren Weg zwischen den Zweigen hindurch. Im innigsten Ton erzählte Ulrich von seinen bitteren Erfahrungen und wie er um seine Habe gekommen sei; daß er aber jetzt, da er Maßlieb gefunden, nichts bereue, nichts vermisse. Er sprach von der kleinen Restsumme, die ihm vielleicht durch den Verkauf einiger Pretiosen zufalle, und daß er nicht mehr gebrauche, um sein Glück zu vervollständigen.

»Das Gut mag immerhin auf meine Gläubiger übergehen,« erläuterte er sorglos, »mag Fräulein Hildegard Pattern immerhin alle Annehmlichkeiten des freien Landlebens genießen, ich beneide sie nicht darum, gönne ihr sogar alles Gute, wenn ich nur nicht gezwungen bin, in persönlichen Verkehr mit ihr zu treten. Es gibt zuviel, was bittere Erinnerungen wachrufen würde.«

Maßlieb lauschte bangen Herzens. Gesenkten Hauptes und noch immer ihre Bewegungen mäßigend, schritt sie an Ulrichs Seite einher. Sie schien die Steine vor sich im Wege zu zählen.

Plötzlich sah Maßlieb empor, und erglühend vor Verwirrung fragte sie stotternd: »Aber wie, wenn ich meine Kindheit im Kreise von Menschen verbracht hätte, deren elendes Gewerbe, mit einem Karussell –«

»So solltest du mir um so teurer sein,« nahm Ulrich einfallend das Wort, »um so teurer, weil das unstete Leben und eine unfreundliche Umgebung dich nicht hinderten, das zu werden, was du jetzt bist: ein Bild der Anmut und der Schönheit, begabt mit einem reichen Herzen, mit klarem Verständnis für alles Gute und Edle und mit einer weit über jene angedeutete Sphäre hinausreichenden geistigen Ausbildung.«

Mit einem tiefen Seufzer sah Maßlieb endlich wieder zu Ulrich empor. Sein inniger Blick entzündete erhöhte Glut auf ihren Wangen.

»Und wenn ich noch tiefer gestanden hätte?« fragte sie, und ihr entging nicht, daß Ulrich erbleichte, jedoch um ihr sogleich wieder vertrauensvoll zuzulächeln, »wenn ich fortgeschleppt worden wäre in eine Gesellschaft von Leuten, deren Werke das Tageslicht scheuen, in die Gesellschaft von Verbrechern und Verworfenen?«

»Auch das würde meine Liebe nicht erschüttern,« antwortete Ulrich aus vollem Herzen, »denn nur wie der Diamant aus dem Feuer, kannst du aus solchen Prüfungen hervorgegangen sein.«

Wiederum senkten sich Maßliebs Augen. Ihr Atem verkürzte sich, denn das Ende des Waldes lag vor ihnen. Der von den klugen Gäulen gelenkte Komödiant fuhr bereits im letzten Abendsonnenschein.

»Nur noch eine Frage,« flüsterte Maßlieb kaum verständlich, und sie wagte nicht, aufzuschauen, »wenn ich reich wäre, wenn ich viel, viel Geld besäße, genug Geld, um das verwaiste Gut zu kaufen?«

Ulrich lachte herzlich und fester drückte er Maßliebs Hand.

»Sogar dadurch vermöchtest du nicht, mich zum Entsagen zu bewegen,« suchte er heiter auf Maßliebs Stimmung einzuwirken, »mir gehörst du, ob reich oder arm! Ich würde deinen Reichtum mit Freuden begrüßen, wie jetzt deine Armut!«

Wenige Schritte und der Wald öffnete sich ganz. In der Ferne wurden die Türme der Stadt sichtbar. Maßlieb zitterte. Hinauf und hinunter spähte sie die Straße. Dann blieb sie stehen, und Ulrichs beide Hände ergreifend, blickte sie bleichen Antlitzes zu ihm empor.

Ulrich erschrak. Bevor er seinen Empfindungen Worte verlieh, hob Maßlieb flüsternd an, als hätte sie befürchtet, von den nahen Bäumen belauscht zu werden:

»Herr Ulrich, wenn ich die Enkelin des verstorbenen Nathan wäre – desselben Nathan, der –«

Ihre Stimme erstarb. Sie deutete Ulrichs starres Erstaunen, sein sichtbares Erschrecken und demnächstiges Ringen nach Klarheit in dem von ihr am meisten gefürchteten Sinne.

»Maßlieb – Hildegard –« entwand es sich seinen Lippen, »unmöglich – es kann nicht sein – o, sage, daß ich mich täuschte, deine Worte mißverstand!«

Aus Maßliebs Augen blickte der Tod. Sanft löste sie ihre Hände von Ulrichs krampfhaftem Griff.

»Ich will gehen,« lispelte sie mit einem wehevollen Lächeln, »denn ich bin – ich machte mich einer Täuschung schuldig – ich bin Hildegard Pattern.«

Mit schwankender Bewegung kehrte sie sich ab, um sich im Waldesdunkel zu verlieren.

Betäubt durch das Vernommene, blickte Ulrich ihr nach. Doch nur einige Sekunden beugte der Geist sich unter dem Einfluß des unerwarteten Schlages, und das Herz trat wieder in seine vollen Rechte ein.

»Maßlieb,« rief er aus, jedoch, wie einem bannenden Zauber unterworfen, in derselben Stellung verharrend, »Maßlieb, geh nicht von mir!«

Maßlieb schien seine Stimme nicht zu hören. Tiefer neigte sie ihr Haupt und unsicherer wurden ihre Schritte, indem sie sich weiter von dem Geliebten entfernte.

»Maßlieb!« wiederholte Ulrich mit einem Ausdruck von Todesangst; fast gleichzeitig aber befand er sich an ihrer Seite, die völlig Willenlose in die Arme schließend und sein Antlitz in ihren Locken vergrabend.

»Dein Name,« flüsterte er mit halb erstickter Stimme, »möge er sein, welcher er wolle, ob reich oder arm – mein eigen bleibst du, mein eigenes, mein einziges, mein ewig geliebtes Maßliebchen!«

Da weinte Maßlieb bitterlich; aber frei umschlang sie den Geliebten, und frei und offen blickte sie in seine Augen. Jetzt erst, da sie kein Geheimnis mehr vor ihm hatte, gehörte sie ihm ganz. Ihre Empfindungen in Worte zu kleiden vermochte sie nicht; aber die Sonne, die zwischen den braunen Baumstämmen hindurch sie noch einmal voll beleuchtete, hätte nicht so viel Glück ausstrahlen können, als Ulrich aus den glitzernden Tautropfen auf ihren Wangen entgegenschimmerte. –

Dem guten Schwärmer war es nach vielen fruchtlosen Bemühungen endlich gelungen, die gemächlich einherschreitenden Pferde zum Stehen zu bringen. Dann schaute er rückwärts. Eine weite Strecke trennte ihn von Maßlieb und Ulrich. Sie gingen wieder Arm in Arm, schienen den Wagen und den alten Komödianten, den Wald, die Fluren, die Stadt und das purpurn glühende Abendrot vergessen zu haben. Erst als er sie schüchtern bat, aufzusteigen, kehrten sie aus ihrem Himmel auf die dürftige Erde zurück. – –

Der Wagen rasselte, die durch den Staub der Landstraße belästigten Pferde schnaubten und beschleunigten, von kundigeren Händen angetrieben, ihre Eile. Maßliebs Herz pochte ungestüm. Im Geiste weilte sie bereits da, wo man bange ihrer Heimkehr entgegensah, ihr Erscheinen an Ulrichs Hand mit Tränen der Rührung begrüßte und mit endloser Dankbarkeit gegen ein versöhntes Geschick. –

*

Ein Jahr ist dahin, und neu erstanden aus den Trümmern ist Ulrichs Gut. Die Spuren des Verfalls sind getilgt; reiche Arbeitskräfte beleben Hof und Feld. Es hätte in der Tat kein geeigneteres Mittel zum Ordnen aller Verhältnisse erdacht werden können, als die Verheiratung der streitenden Parteien. Und diese Verheiratung, sie steht in naher Aussicht. Nur noch einige Wochen, und Maßlieb oder vielmehr Hildegard Pattern hält als Frau Ulrich ihren Einzug in die hellen, luftigen Räume des Landhauses. Die alte Veronika reibt sich förmlich auf, der neuen Herrin eine wohlgeordnete Häuslichkeit zu übergeben und einen festlichen Empfang zu bereiten.

Merediths Altertümer sind wieder geteilt worden. Sie ließ sich nicht nehmen, den, Ulrich gebührenden Anteil selbst nach dem Gute hinauszubegleiten, eigenhändig nach ihrem eigenen Geschmack und obendrein chronologisch zu ordnen. »Damit es ihr draußen ebensogut gefalle wie in der Stadt,« meinte sie ernsthaft. Als ob es bei ihr der Altertümer bedurft hätte, sich in Esthers oder Maßliebs Nähe heimisch zu fühlen, bei ihr, die nur bedauerte, nicht sich selbst, ähnlich einer alten Rüstung, ebenfalls zum Zweck einer gleichmäßigen Verteilung zerlegen zu können! Nicht minder ernsthaft behauptete sie, längst mit dem Gedanken sich ausgesöhnt zu haben, die letzte Kabul zu bleiben. –

Esthers und Gerhards Hausstand ist um ein kleines, blauäugiges Mädchen vergrößert worden, das trotz seiner großen Jugend mehr Unruhe verursacht, als alle übrigen Hausgenossen zusammengenommen. An schönen Tagen sieht man es vielfach um den Rasenplatz herum in einem Korbwagen spazierenfahren. Bespannt ist dieser mit einer sehr zusammengeschrumpften Greisengestalt, vor deren zufrieden blickenden, klaren Augen und gewandten Händen keine Mücke oder Fliege sicher ist, die es wagen möchte, die Last des zierlichen Fuhrwerks um ihr eigenes Gewicht zu vermehren.

Der Glücklichste aller Glücklichen bleibt indessen Kappel, der jetzt erst in sein richtiges Fahrwasser gekommen ist. Feind allen Zahlen, Mauern und Straßen, ist er zu Ulrichs aufs Land hinausgezogen, wo er sich auf dem besten Wege befindet, ein brauchbarer Ökonomieinspektor zu werden. Er trägt mit Anstand Stulpenstiefel und Sporen, hat einen scharfen Blick für alles, was in sein neues Fach schlägt, und ist nebenbei ein so anspruchsloser, dankbarer, anhänglicher Hausgenosse, ein so würdevoller, treuer Gesellschafter und Freund, wie nur je einer dazu beitrug, die Annehmlichkeiten des stillen Landlebens zu erhöhen. An seine Burschenzeit erinnern nur noch die drei gewichsten Bartspitzen und der Livius, an die Laufbahn eines Karussellstallmeisters seine Vorliebe für Pferde und Vieh überhaupt, und an das unstete Wanderleben seine wachsende Neigung zur Jagd. Obwohl Maßlieb ihn immer noch gern Onkel Kappel nennt, beobachtet er ihr gegenüber eine gewisse respektvolle Zurückhaltung; sorgfältig vermeidet er alles, wodurch er an frühere Zeiten und Verhältnisse mahnen könnte. Sogar sein beißender Sarkasmus ist eingeschlummert; an dessen Stelle trat eine gewisse Milde, von der sich sogar der allereinfältigste Gänsejunge freundlich berührt fühlte. –

Und noch einmal Maßlieb!

Im bräutlichen Schleier, die Myrte im dunkeln Haar, so trittst du scheidend vor mich hin. Süße Befangenheit thront auf deinem guten Antlitz; Liebe, unergründliche Liebe spricht aus deinen großen Augen.

Maßlieb, holde Wiesenblume, lebe wohl! Lebe wohl, du guter Genius, von einem freundlichen Geschicke dazu auserkoren, Glück und Segen um dich her zu verbreiten!

Rührung ergreift mich. Wie bisher auf dornenvoller Bahn, möcht ich dich begleiten auch auf den Blumenpfaden eines reich gesegneten Familienlebens. – Neue Bilder tauchen vor mir auf. Ich sehe dein bezauberndes Lächeln, höre den Ton deiner süßen Stimme –

Maßlieb, holde Wiesenblume, lebe wohl! lebe wohl, du herziges, du treues, treues Maßliebchen!

 

Ende.


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