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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Das Wiedersehen.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne trafen Gerhard bereits wieder unterwegs und weitab von der Stadt. Überall erkannte er die Merkmale, die er am vorhergehenden Abend beim Schein der sinkenden Sonne seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Lieblich glitzerten Haine, Felder und Wiesen im erquickenden Tau; frischer und lebenslustiger klangen nach der nächtlichen Ruhe die zahlreichen Stimmen der Natur; allein das, was er suchte, die Zeichen in dem Geleise, sie waren vernichtet, ausgelöscht durch Wagen, die desselben Weges gefahren waren. Niedergeschlagen bog er in den Weg ein, der sich im rechten Winkel von der Landstraße trennte. Das einsame Landhaus, vor dem er mit dessen Besitzer gesprochen hatte, lag vor ihm. Einen mißtrauischen Blick warf er auf die geschlossene Tür und die noch verhangenen Fenster; dann schlich er scheu vorüber, als hätte er neue verletzende Bemerkungen gefürchtet. Nur die eine Richtung konnte der rätselhafte Wagen auf einer langen Strecke innegehalten haben, und diese verfolgte er unermüdlich und doch so trostlos.

Höher stieg die Sonne, den Tau von Halm und Blatt trinkend und demnächst heiß auf die friedliche Landschaft niederscheinend; doch Gerhard achtete nicht der zitternden Glut. Wo ein Weg sich abzweigte, da prüfte er ihn geduldig, wo eine Radspur sich von der eigentlichen Fahrbahn trennte, da suchte er mit Eifer nach den sieben Vertiefungen und dem Hügelchen. Es näherte sich die Mittagszeit, die Sonne neigte sich dem Westen zu. Bald aus der einen, bald auf der andern Farm sprach Gerhard vor, um sich durch einen Trunk zu erquicken oder an einer Mahlzeit zu beteiligen. Zuvorkommend beschrieb man ihm die Wege, auf welchen er in weitem Bogen wieder an die Stelle zurückkehren würde, von welcher er ausgegangen war; den Namen Ellborough oder Kabel kannte dagegen niemand. Noch weniger wußte man von einem leichten Einspänner und einer schwarzgekleideten Dame, wie er beides genau beschrieb. So traf ihn der Abend in weiter Ferne von der Stadt, und fand die aufgehende Sonne, nachdem er bei einem Farmer übernachtet hatte, ihn wieder unterwegs. Doch wie auf dem Hinwege, so auf dem Rückwege: seine Hoffnungen blieben unbefriedigt, ungestillt sein banges Sehnen.

Es war am dritten Tage seines mühevollen Umherstreifens, als er wieder bei dem einsamen Landhause eintraf. Einen flüchtigen Blick warf er auf dasselbe; es schien ihm einen förmlich feindseligen Ausdruck zu tragen, und sich scheu abkehrend, spähte er über die sich vor ihm ausdehnende freundliche Landschaft hin. Plötzlich blieb er erschrocken stehen. Indem er die Augen senkte, begegneten sie in der von einem Wagen zurückgelassenen Fährte mehreren, durch die Beschlagschrauben ausgeprägten Vertiefungen. Er zählte: sieben Vertiefungen und ein Hügelchen; nicht mehr und nicht weniger, und immer abwechselnd in regelmäßigen Zwischenräumen. Nur auf der anderen Seite des Weges liefen die Spuren, ein sicheres Zeichen, daß der Wagen vor kurzer Zeit zur Stadt gefahren war, was durch die frischen Hufspuren eines einzelnen Pferdes noch besonders bestätigt wurde. Von bangen Ahnungen bestürmt, blickte Gerhard nach dem Landhäuschen hinüber. Es lag so still da, als ob es unbewohnt gewesen wäre. Die Haustür war verschlossen, verhangen waren die Fenster. Bebend vor Spannung schritt er den Spuren entgegen. Seine Ahnungen hatten ihn nicht getäuscht; sie führten durch ein angelehntes Torgatter und den Vorgarten an dem Häuschen vorbei auf einen von diesem und dem Stallgebäude gebildeten Hof. Genau erkannte er die Stelle, auf welcher der Wagen gestanden hatte und das Pferd eingespannt worden war. Zu den neu erwachenden Hoffnungen gesellten sich neue Befürchtungen, die seine Sinne zu verwirren drohten. Zagend spähte er um sich; aber nirgend entdeckte er die Spuren eines lebenden Wesens. Der Wagen schien alles entführt zu haben, um es nie wieder zurückzubringen. Sein Kopf brannte; fieberisch kreiste das Blut in seinen Adern. Die er vor drei Tagen, als man ihn von der Tür fortwies, vielleicht gefunden hätte, wo weilte sie heute? Schwankenden Schrittes begab er sich nach dem neben dem Statt befindlichen Pförtchen hinüber. Dasselbe war ebenfalls nur angelehnt. Es öffnete in einen Garten, in welchem Obstbäume sich zu Gruppen zusammendrängten, üppig wucherndes Strauchwerk und Weinranken sich zu schattigen Gängen und Lauben wölbten. Ein Bild des Friedens lag vor ihm, eine Szenerie, welche den Eindruck hervorrief, als ob in ihr nur ungetrübtes Glück habe wohnen können. Zierliche Schlinggewächse wanden sich an Bäumen und Pfosten hinauf und hinunter, lachende Blütenkelche schmückten die schmalen Beete zu beiden Seiten der Wege und Pfade. Dazu die glänzende Beleuchtung der sich westlich neigenden Sonne und die lautlose Stille, die nur durch das Summen der Bienen, Goldkäfer und funkelnden Kolibris unterbrochen wurde.

Einem unwiderstehlichen Drange nachgebend, war Gerhard in den Garten eingetreten. Geräuschvoll fiel das seinen Händen entgleitende Pförtchen hinter ihm zu, und fast gleichzeitig wurde seine Aufmerksamkeit durch eine Bewegung vor ihm in dem Wege gefesselt.

Eine schwarzgekleidete Gestalt, augenscheinlich erschreckt durch das von ihm erzeugte Geräusch, war aus einer Laube getreten, wo sie, wie ihrer letzten Lebenskraft beraubt, stehen blieb.

Einige Sekunden starrte Gerhard in ein marmorbleiches, entsetztes und doch so liebes Antlitz; dann aber eilte er mit ausgebreiteten Armen nach vorn, und die in namenlosem Schmerz Dahinsinkende an sich drückend, bedeckte er die tränenleeren Augen mit heißen Küssen.

»Esther, meine geliebte Esther,« flüsterte er, und Wehmut und Entzücken raubten ihm fast die Sprache, »warum bist du von mir gegangen? Ich habe dich gesucht seit jenem verhängnisvollen Tage, gesucht in wilder Verzweiflung! Esther, Esther, was verbrach ich an dir, daß du mich nicht erkennen wolltest? Was verbrach ich, daß deine Augen so seltsam blicken, dein Antlitz so bleich ist, kein Wort des Trostes mir von deinen Lippen entgegendringt?«

Da löste Esther sich aus der stürmischen Umarmung, und einen Schritt zurücktretend, betrachtete sie Gerhard mit einem Ausdruck, so unbeschreiblich traurig und entsagend, daß dieser, wie in Vorahnung eines furchtbaren Unglücks, den Schlag seines Herzens stocken fühlte.

»Ja, ich ging von dir,« tönte es endlich leise von ihren bebenden Lippen, während sie mit Gewalt eine ruhige Haltung erzwang, »ich ging von dir ohne Abschied, ohne dir die Richtung meines Weges zu sagen. Ich wollte von dir als eine Verlorene betrauert sein; denn Gerhard – die deinige kann ich nie werden – nein – niemals – und dies Geständnis, ich wollte es dir, ich wollte es mir selber ersparen. Nun aber, da du es weißt, kehre um. Gehe zurück zu den Deinigen. Erzähle ihnen von deiner ungetreuen Braut – erzähle ihnen von einem Mädchen, das zu sehr am eitlen Mammon hing, um sich, nachdem es selbst verarmte, noch mit einem ebenfalls mittellosen Manne zu verbinden. Ja, alles nur Denkbare erzähle, und wenn du jeden von meiner Unwürdigkeit überzeugtest, dann, ja dann kostet es dich gewiß keine Überwindung mehr, mich zu vergessen, wie auch ich dich vergessen werde.«

Bei dieser, mit starrer Ruhe an ihn gerichteten Anrede griff Gerhard nach seinen Schläfen, wie um sie vor dem Zerspringen zu bewahren. Seine Augen erweiterten sich, indem er auf die hoch aufgerichtete Geliebte hinstarrte. Er meinte, sich unter dem Einfluß einer Sinnestäuschung zu befinden, konnte nicht glauben, den wahren Ausdruck von Esthers Empfindungen vernommen zu haben. Und dann die Selbstanklagen, die Spuren unsäglicher Seelenleiden auf dem teuren, abgehärmten Antlitz, und die großen treuen Augen, die gewaltsam gegen Tränen kämpften und vor tiefem Weh brechen zu wollen schienen.

»Esther, heiß geliebte Esther,« hob er endlich wieder an, obwohl deren Haltung eine derartige war, daß er nicht einmal ihre Hand zu ergreifen wagte; »ein solches Wiedersehen, ich konnte es nicht ahnen, oder es wäre besser für mich gewesen, anstatt den drohenden Gefahren zu entrinnen, ihnen frei zu begegnen und mit der ungetrübten Erinnerung an dich in den Tod zu gehen. Und dennoch, Esther, was du sagen magst, wie du auch trachtest, mein Herz zu zerreißen, mir die furchtbarsten Qualen zu bereiten: ebensowenig wie es dir gelingt, dich selber zu täuschen, täuschest du mich. Ich lese es in deinen Zügen, in deinen Augen: du hast nicht gesprochen, was dein Herz dir vorschrieb. Du bist das Opfer schändlicher Intriguen geworden – ja, Esther, mit den hinterlistigsten Absichten hat man dein Gemüt vergiftet – und der Name und die Person Ellenboroughs, dieses Mitschuldigen einer verbrecherischen Gesellschaft, bürgen dafür –«

Er sprang auf Esther zu, um sie zu unterstützen, die bei seinen letzten Worten, wie von einer Ohnmacht überwältigt, schwankte und zu Boden zu sinken drohte. Kaum aber hatte er sie berührt, als neues Leben sie durchströmte und sie, gewaltsam sich ausrichtend, vor ihm zurückwich.

»Gehe,« sprach sie streng, doch schienen die Worte mit Widerstreben ihre Lippen zu verlassen, und Gerhards Blicke meidend, starrten ihre Augen ins Leere, »gehe, ich beschwöre dich bei allen Rückerinnerungen, die dir vielleicht noch heilig sind! Die mildeste Form wählte ich nur, die zwischen uns bestehende unübersteigliche Kluft vor dir zu enthüllen; ich wählte sie nach reiflichem Überlegen; denn nachdem ich dich in der Stadt erkannt hatte, blieb mir Zeit, mich für ein mögliches Wiedersehen vorzubereiten. Diese Form der Darstellung versagte indessen ihre Wirkung, und ich zürne dir deshalb nicht. Wohl aber bin ich dadurch in die Lage geraten – schwer, wie es mir werden mag, dich zu betrüben – um dich von der Unmöglichkeit einer erneuten Annäherung zwischen uns zu überzeugen, zu dem äußersten Mittel greifen zu müssen. Aber auch hierbei leitete mich die redliche Absicht, dich von einem leeren Wahn zu heilen, auf daß du in Zukunft meiner nur noch als einer – wohlwollenden Freundin gedenken mögest. So vernimm denn die Wahrheit, Gerhard,« und leiser klang ihre Stimme, blutleerer wurde das schöne Antlitz und regungsloser blickten die großen, tiefer in ihre Höhlen zurückgesunkenen Augen, »ja, die Wahrheit; bitter, wie sie anfänglich sein mag, sie wird ihre segensreiche Einwirkung auf dein Gemüt nicht verfehlen:

»Heimlich ging ich von dir, weil ich nach ernster Prüfung zu dem Schlusse gelangte, daß meine Liebe zu dir nicht eine solche ist, wie sie zwischen der Gattin und dem Manne ihrer Wahl bestehen soll. Über eine innige Freundschaft gingen meine Regungen nicht hinaus.«

»Heute sehe ich ein, daß ich mich an dir verging. Anstatt dich in Zweifel zu erhalten, wäre es meine Pflicht gewesen, ein offenes Bekenntnis vor dir abzulegen. Du hättest zurzeit den unvermeidlichen Kampf überstanden gehabt, hättest in der Heimat dir ein glückliches Los bereitet, anstatt unter Mühen und Gefahren über den halben Erdkreis hin einem trügerischen Phantom nachzujagen. Ja, Gerhard,« und ihre Stimme erhielt einen noch schwermütigeren Klang, »dies ist alles, was ich dir mitzuteilen habe, und ich denke, es ist genug, um dir das Entsagen kindischer Träume zu erleichtern, unserem Abschiede das Bittere zu rauben. Und Abschied voneinander nehmen müssen wir, Abschied auf ewig –«

»So wären die Beteuerungen deiner Liebe falsch gewesen?« rief Gerhard klagend aus.

Heftiges Zittern durchlief bei dieser Frage Esthers Gestalt, und zweimal öffnete sie die Lippen, bevor ein Ton sich ihnen entwand.

»Falsch nicht,« hob sie kaum hörbar an, »nein, Gerhard, so unnachsichtig beurteile mich nicht; sie waren nur der Ausdruck – mißverstandener Regungen.«

Eine neue Frage schwebte auf Gerhards Lippen; allein nach dem harten Schlage, der ihn betroffen hatte, schien die letzte Kraft ihn zu verlassen. Einen verzweiflungsvollen Blick senkte er in Esthers Augen; dann neigte er das Haupt tief auf die Brust, und wie von unbesiegbarer, seinen Geist umnachtender Erschöpfung befallen, schwankte er in die nahe Laube, wo er sich auf die Bank niederließ und das Antlitz in beide Hände vergrub. Kaum aber hatte er Platz genommen, als Esther vor ihm auf der Erde kniete, ihre Arme um seinen Hals schlingend und sein Haupt zu ihrem Antlitz niederziehend.

»Gerhard, teurer Gerhard,« schluchzte sie krampfhaft, während heiße Tränen ihren Augen entströmten, »es übersteigt meine Kräfte, dich so von mir scheiden zu sehen, in einer solchen Stimmung und in solchem Glauben über mich! Verzeihe mir, Gerhard, wenn ich dich täuschte! Denn nie, nie habe ich aufgehört, dich zu lieben – und was ein böses Verhängnis über uns beschlossen haben mag – nie werde ich aufhören, dich mit ganzer Seele zu lieben!«

Neues Schluchzen erstickte ihre Stimme und fester zog sie Gerhards Antlitz an das ihrige, der wieder, wie aus einem schweren Traum zu einem Leben des Entzückens erwachend, seine Arme um der Geliebten Hals schlang, als hätte nunmehr keine Macht der Erde ihm die Teure zu entreißen vermocht.

Feierliche Stille herrschte in der Laube; heilige Minuten verrannen den beiden Herzen, indem sie sich gleichsam ineinander ergossen. Keine neue Frage wurde laut, keine Erklärung. Das Bewußtsein ewiger, unvergänglicher Liebe erfüllte beide. Nicht mehr die tändelnden, in der Bewahrung ihres holden Geheimnisses überglücklichen Gemüter waren es, die auf verstohlenen Spaziergängen den Himmel bereits auf Erden gefunden zu haben meinten und übermütig hadernd das Geschick vermessen gegen sich herausforderten, sondern zwei durch die an sie herantretenden schweren Prüfungen geläuterte und von tiefem Ernst durchschauerte Seelen, welche fühlten, daß sie zueinander gehörten durch die Bande unverbrüchlicher Zuneigung, gekeimt auf dem verheißenden Boden kindlich rosiger Träume und kindlich kühnen Hoffens.

Minuten entflohen, feierliche Minuten! Tränen der Wehmut und des Entzückens rannen. Es begegneten sich die warmen Pulsschläge, es begegneten sich die warmen Lippen im süß berauschenden, langen Kuß. –

Auf der Außenseite des Gartens an der dicht verschlungenen Hecke hin, die beinahe an die Rückwand der Laube stieß, regte es sich leise, indem ein Fuß sich behutsam seinen Weg durch das dicht und hoch hinausragende Unkraut bahnte. Ein Mann stellte sich in der Nähe der Laube auf, sorgfältig darauf achtend, daß jeder zufällige Blick achtlos über ihn hingleiten mußte. Das hagere, erschreckend fahle Antlitz mit dem ergrauten Vollbart und der langen in diesen verlaufenden Narbe hatte der geheimnisvolle Lauscher dicht an die Hecke gelegt; seine Augen glühten, indem er durch das Blätterwerk hindurch einen Anblick der ahnungslos in der Laube Sitzenden zu gewinnen suchte. – In demselben Augenblick, in welchem er in seinem Einspänner von der Stadt kommend, von der Landstraße in den Seitenweg abbog, hatte Gerhard die seit Tagen gesuchte Spur entdeckt und aufgenommen. Befremdet hielt er das Pferd an. Sobald er aber gewahrte, daß Gerhard im Vorgarten verschwand, ergriff ihn fieberhafte Unruhe. Ihn, welchen er für einen ihm nachstellenden Feind hielt, an einer Zusammenkunft mit Esther zu hindern, war es zu spät. Aber belauschen konnte er ihn in seinem Verkehr mit ihr, um zu ermessen, inwieweit sein störrisches Suchen nach ihm in Beziehung zu seiner Vergangenheit stand, inwieweit seine Worte geeignet, das ohnehin schon so tief gebeugte Gemüt eines Engels der Liebe und der Versöhnung zu vergiften. Schnell schwang er sich vom Wagen, und die Zügel über den nächsten Einfriedigungspfosten werfend, begab er sich nach dem Landhause hinüber.

Er traf in dem Augenblick ein, in welchem Gerhard die Gartenpforte öffnete. Seine Bewegung belehrte ihn, daß er Esthers ansichtig geworden, und jeden Fuß breit des kleinen Grundstücks genau kennend, gelangte er unentdeckt bis in die fast unmittelbare Nähe der beiden jungen Leute. Sein nächstes Gefühl, als er beobachtete, wie Esther vor dem verzweifelnden Geliebten auf die Knie sank und von diesem mit schmerzlichem Entzücken in die Arme geschlossen wurde, war das eines freudigen Erstaunens. Dann aber ergriff ihn, wahres Grausen. Lange hatte Esther sich in seiner Begleitung befunden, lange Monate, ohne ein Wort der Klage oder des Vorwurfs, trotzdem sie seinetwegen ein Verhältnis jäh abbrach, von dem sie ihr ganzes Lebensglück erhoffte. Obwohl dahinsiechend, wie eine von tötlichem Hauch berührte Frühlingsblume, hatte sie nie mit einer Silbe des ihr ganzes Sein vernichtenden Opfers erwähnt, das sie meinte einer traurig gebieterischen Pflicht darbringen zu müssen. Was die Farbe auf ihren Wangen bleichte, ihre guten Augen trübte, das schrieb er allein den Umständen zu, welche er selbst ihr gegenüber nicht zu berühren wagte. Nun aber, da er sie in den Armen desjenigen sah, der trotz seiner bescheidenen Mittel, trotz der ihn von allen Seiten bedräuenden Gefahren sie über alle Hindernisse fort zu finden wußte, desjenigen, der augenscheinlich weder seine früheste Vergangenheit ahnte, noch von irgendeinem feindlichen Gedanken gegen seine Person geleitet wurde, nur einzig und allein den alles überwindenden Einflüssen seiner Liebe zu Esther nachgab, kam es über ihn, als ob ein Heer von Furien ihn umringt, mit geschwungenen Geißeln sich bereit gehalten hätte, über ihn herzufallen, ihn zu hetzen und zu jagen über den ganzen Erdball, bis er endlich eine Stätte gefunden, auf der er unter einem Grabhügel in einem leeren Sarg ihrer Wut würde entschlüpfen können. Solche Empfindungen waren es, die seinen Atem verkürzten, den Schlag seines Herzens lähmten, den letzten Blutstropfen aus seinem Antlitz trieben und ihn so starr, so verzweiflungsvoll in die Laube hineinspähend machten. Die enteilenden Minuten, sie waren ihm eine Ewigkeit, für Gerhard und Esther dagegen ein flüchtiger Sonnenblick aus den lichten Höhen eines ungetrübten Liebeshimmels. Nur wenige Minuten, und aus ihrem wehmütigen Entzücken erwachten sie zu einer bitteren Wirklichkeit, erwachte Ellenborough zu neuen Folterqualen.

»Du weißt jetzt, wie ich denke,« hob Esther endlich wieder an, als hätte in der kurzen Umarmung der Inhalt eines ganzen Buches gelegen, und sich von der Erde erhebend, setzte sie sich neben Gerhard, willig duldend, daß er seinen Arm um sie legte – »Du weißt, wie ich denke, und was auch immer Schmerzliches zwischen uns zur Sprache gebracht werden muß, das Bewußtsein gegenseitiger unvergänglicher Liebe wird uns fortan zum Trost gereichen, wird uns stärken, das Unvermeidliche zu ertragen.«

»Das Unvermeidliche?« verlieh Gerhard seinen aufs neue erwachenden schwarzen Ahnungen klagend Ausdruck, »haben wir uns nicht gefunden, um uns nie mehr voneinander zu trennen?«

Esther seufzte tief auf. Es wurde ihr so schwer, so unendlich schwer, Gerhards kaum ins Leben getretenen Glauben an ein neues Morgenrot des Glückes wieder jäh zu vernichten.

»Das Unvermeidliche,« bestätigte sie leise und zögernd, »ja, du getreuer Gerhard, das Unvermeidliche, welches uns Opfer auferlegt, wie sie nicht schwerer erdacht werden können. O, glaube mir« – und obwohl ihre Augen sich umflorten, die jüngst entflammte Röte auf ihren Wangen erlosch, erhielt ihre süße Stimme doch wieder einen Anflug jener gleichsam mütterlichen Verständigkeit, wie sie dem armen Gerhard aus früheren, glücklicheren Tagen unvergeßlich – »die Kluft, die uns voneinander scheidet, sie ist unübersteiglich – nein, nein, du lieber Gerhard, sei ein Mann – laß mich aussprechen und tröste dich, wie ich selber mich zu trösten suche – kein Wort sagte ich zuviel, als ich bei unserm ersten Wiedersehen dich barsch zurückwies. Ich war nur im Zweifel, wie es mir gelingen würde, die vor mir liegende Aufgabe zu erfüllen. Ich versuchte, dich zu täuschen; ich wollte lieblos, falsch erscheinen, wollte dich gegen mich erbittern; als ich aber sah, wie dieser Schlag dich niederschmetterte, der du doch zum Zweck unserer Wiedervereinigung Übermenschliches leistetest, da sank mir der Mut. Der Gedanke, von dir verkannt zu werden, war mir unerträglich, doppelt unerträglich, weil es, so lange ich dich kenne, mein holdester Traum gewesen, dir dereinst anzugehören. Ja, Gerhard, ich fühlte, daß es besser sei, wenn keine Zweifel zwischen uns schwebten, und daher zeigte ich mich ganz so, wie ich im Grunde meines Herzens bin: als deine dich ewig liebende, getreue Esther. Doch nun sei auch du verständig und beschwere mein Herz nicht noch mehr dadurch, daß du widerstandslos dich einer wilden Verzweiflung hingibst, durch welche nichts geändert werden würde.«

Tief holte sie Atem. Neue Kräfte sammelnd, blickte sie einige Sekunden vor sich zur Erde, dann fuhr sie mit sichtbarer Anstrengung fort:

»Wir müssen uns trennen nach diesem kurzen Wiedersehen, trennen, um nie wieder – nein, es wäre zu hart – vielleicht im hohen Alter erst – als treu anhängliche Freunde einander zu begegnen –«

»Esther!« fiel Gerhard förmlich betäubt ein, denn gerade die von einer unendlichen Liebe zeugenden Worte trafen ihn am vernichtendsten, »was oder wer kann zwischen uns treten, zum leeren Schall herabwürdigen die Beteuerungen unwandelbarer Treue, die wir so oft, so unzählige Male austauschten?«

»Als einen Beweis deiner Anhänglichkeit und deines Vertrauens verlange ich von dir,« bat Esther mit bewegter Stimme, indem sie sich fester an den Geliebten anschmiegte, »daß du nicht fragst nach den Gründen, die mich in meinem Entschlusse dir gegenüber bestimmen. Sei überzeugt, daß sie heiliger Natur sein müssen, um mich zu einer so herben Entscheidung zu zwingen; sei aber auch überzeugt, daß weder ich, noch du, noch irgendein anderer Mensch der Welt sie zu beseitigen vermag –«

»Ellenborough,« rief Gerhard bestürzt aus, und er drückte Esthers Hand leidenschaftlich, »Ellenborough ist die Ursache! Kein anderer Sterblicher war imstande, einen derartigen Zwang auszuüben, als derjenige, der die geheimnisvolle Macht besaß, dich aus deiner Heimat, von allen, welche du liebtest und die dich liebten, fortzuschleppen!«

»Frage nicht nach Gründen, frage nicht nach Personen oder den Verhältnissen, die mich an Ellenborough fesseln,« versetzte Esther fast tonlos, daß es Gerhard durch die Seele schnitt, vertraue mir, wenn ich mich darauf berufe, daß eine entsetzliche Notwendigkeit uns scheidet, daß ich ein Verbrechen an dir beginge, ließe ich mich dennoch aus Liebe zu dir zu unüberlegten Schritten hinreißen.«

»Er hat ein fluchwürdiges Mittel ersonnen, dich an seine Person zu binden!« hob Gerhard wieder heftig an, und Tränen der Wut drangen ihm in die Augen, »kein anderer als Ellenborough, der Menschenhändler, Ellenborough, der Mitschuldige schurkischer Spekulanten, der Genosse von Räubern –«

»Halt ein, Gerhard!« rief Esther laut aus, ihre Hände flehentlich auf des Geliebten Brust faltend, und wilde Verzweiflung leuchtete aus ihren sonst so milden Augen, »weshalb jemand schmähen, der nicht imstande ist, sich zu verteidigen? Warum Anklagen erheben, von den man nicht weiß, ob sie gerechtfertigt sind, ob sie nicht bösartig erfunden –«

»Zu seinem Verteidiger wirfst du dich auf,« fiel Gerhard vorwurfsvoll ein, »zum Verteidiger desjenigen, der, von einem feindlichen Geschick begünstigt, sich als ein verkörperter Fluch zwischen uns drängte?«

»O Gerhard, teurer Gerhard!« nahm Esther schnell das Wort, und wiederum auf die Knie sinkend, zog sie aufs neue sein Haupt an sich, »hier liege ich vor dir im Staube, dich anflehend, nicht weiter forschend in mich zu dringen, mir, deiner dich ewig liebenden Esther, zu vertrauen, wenn ich unsere Trennung als eine von den Verhältnissen gebotene hinstelle; wenn ich beteuere, daß ich selber unter diesem bösen Verhängnis am meisten leide, daß ich tausendmal lieber mich ins Grab gelegt hätte, als ein Verhältnis zu lösen, von dem ich meine irdische Seligkeit erwartete! Du siehst, wie Verzweiflung mich ergreift, wie ich leide unter der eisernen Notwendigkeit! Doch du ahnst nicht, wie viel ich schon gelitten habe und fortan noch leiden werde; denn das Glück, auf welches ich an deiner Seite hoffte, ach, Gerhard, es ist dahin auf Nimmerwiederkehr, dahin unwiderruflich, auf ewig! Bei den Seelenqualen aber, die ich erdulde, teurer Gerhard, beschwöre ich dich: höre auf, einen Abwesenden zu schmähen, ihm zu fluchen – er kann sich ja nicht verteidigen; und hätte er etwas begangen, was deinen Unwillen verdiente, bedenke, wir sind alle Menschen, und mancher findet für einen begangenen Fehltritt schon in sich selbst eine Strafe, härter und grausamer, als solche von irdischen Richtern erdacht werden können, härter und grausamer, als sie jemals von einer versöhnenden Gottheit zuerkannt wurden. Nein, Gerhard, nicht den Abwesenden –«

»Nicht den Abwesenden,« wiederholte Gerhard, die Geliebte fester an sich drückend, und einen Blick des entsetzlichsten Vorwurfs sandte er zum Himmel empor, während seine Stimme vor Schmerz zitterte; »nein, nicht einen Abwesenden will ich schmähen; aber suchen will ich ihn, gegenübertreten dem hinterlistigen Vernichter deines Glückes und des meinigen! Rechenschaft will ich von ihm fordern –«

»Nein, Gerhard,« rief Esther klagend aus, »suche ihn nie auf, wenn du nicht willst, daß ich zu deinen Füßen sterbe! Trachte nicht, ein Geheimnis zu enthüllen, das in seinen Folgen mich mit in das Verderben hinabziehen müßte. Vergiß seinen Namen, vergiß, daß du ihn jemals sahst; und wenn du ihn erblickst, dann weiche ihm aus, weiche ihm weit aus, damit er keine Gelegenheit finde, zu dir zu sprechen – ja, Gerhard, wenn dir an meinem Seelenfrieden gelegen ist; wenn meine Liebe dir nur noch ein klein wenig gilt, o, dann weiche ihm aus, und mit meinem letzten Atemzuge will ich dich segnen, mit deinem Namen auf den Lippen will ich in die Ewigkeit hinübergehen, am Throne des Allmächtigen nur allein für deine Ruhe, für deinen Frieden flehen, du armer, du armer, du heiß geliebter Gerhard!«

Leises Schluchzen war nur noch in der Laube vernehmbar. In den Armen seiner geliebten Esther und bei dem süßen Klange ihrer Stimme, die so unwiderstehlich, so schmeichelnd und doch so wehevoll zu seinem Herzen drang, hatte Gerhard seine ganze Selbständigkeit, seinen eigenen Willen verloren. Inniger preßte er die Geliebte an sich, deren Arme auf seinen Schultern ruhten, deren fiebrisch glühendes Antlitz sich so fest an seine Wange legte. Worte standen ihm nicht mehr zu Gebote, aber seine Tränen vermischten sich mit den ihrigen. Wie vor einer offenen Gruft, das ihr Liebstes, ihre ganze Herzensfreude in Empfang nehmen sollte, hielten sie sich umschlungen; wie vor einer offenen Gruft, in die sie sich am liebsten selber hineingelegt hätten. Zu ihnen herein in die Laube drangen die rötlichen Strahlen der tiefstehenden Sonne, ihre Häupter gleichsam mit einer Glorie schmückend. Falter und Kolibris umspielten die Blüten der duftenden Rankengewächse, die sich zu einem grünen Dach über ihnen wölbten. Zwischen den an schwankenden Stielen haftenden beweglichen Blättern hindurch hauchte die erquickende Abendbrise. Mit dem geheimnisvollen Flüstern vereinigte sich das Geräusch, mit dem auf der Außenseite des Gartens jemand seinen Weg durch das hohe Unkraut der Landstraße zu bahnte.

Als der Lauscher in den Schutz des Hauses trat, wo er vom Garten aus nicht mehr bemerkt werden konnte, blieb er stehen. Die Arme stützte er auf die Hofeinfriedigung, wie um sich vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Sein Antlitz, schon vorher bleich wie der Tod, schien keinem Lebenden mehr anzugehören. Aschfarbe hatte sich über dasselbe ausgebreitet, während die Sehkraft seiner Augen erloschen zu sein schien und der Atem sich leise röchelnd und in unnatürlich langen Zügen seiner Brust entwand. Der Anblick eines Gorgonenhauptes schien auf ihn eingewirkt zu haben.

Endlich seufzte er tief auf. Dann biß er die Zähne knirschend zusammen und mit schwankenden Bewegungen begab er sich auf die Landstraße hinaus. Dort wurde seine Haltung allmählich eine sicherere und schneller wurde sein Schritt. Der Wagen, der ihn hierhergebracht hatte, hielt noch dort. Niemand hatte ihn bemerkt. Still lag die Landschaft, überflutet vom glänzenden Abendsonnenschein.

Wiederum der unsäglich schmerzliche Seufzer; er klang, wie der letzte Abschied von einer liebgewonnenen Stätte. Hastig löste er die Zügel von der Einfriedigung, und den Wagen besteigend, lenkte er das Pferd im Halbkreise in den Hauptweg zurück, so daß die Richtung nach dem Städtchen wieder vor ihm lag. Zuerst bewegte sich das Pferd langsam einher, dann aber schneller und schneller, je nachdem die gleichsam krampfhaft geschwungene Peitsche es traf, bis es endlich im scharfen Trabe dahineilte, hinter sich in den Lüften eine langgestreckte Staubwolke zurücklassend, in dem einen Wagengeleise dagegen abwechselnd sieben leichte Vertiefungen und ein winziges Hügelchen.

Sieben Vertiefungen und ein Hügelchen! Wen kümmerten jetzt noch diese unscheinbaren Merkmale? Im Garten des Landhauses spielten noch ein Weilchen Falter und Kolibris, und geheimnisvoll flüsterte es zwischen den Blättern. – Im Schatten der Laube wohnte tiefes Weh. Was zwei gebrochene, in endlosen Qualen zuckende Herzen empfanden, die Lippen vermochten nicht, es auszusprechen. –


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