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Neunzehntes Kapitel.

Auf dunklen Wegen.

Der Admiral säumte noch immer, die Anker der Arche zu lichten. Sein Plan, möglichst bald das Weite zu suchen, hatte dadurch eine Änderung erfahren, daß Nathan ihm die Kunde von Maßliebs Flucht übermittelte und zugleich eine neue Belohnung versprach, wenn er der Entflohenen wieder habhaft werde.

Kappel witterte wohl mancherlei, allein seine Entdeckungen beschränkten sich darauf, daß etwas vor ihm verheimlicht wurde. Daraus schloß er, daß es sich um nichts Geringeres als um Maßlieb handle; die Erinnerung an die junge Waise aber genügte, des heruntergekommenen Korpsburschen Lebensgeister nicht nur aufzurütteln, sondern auch wach zu erhalten.

Die Abende waren bereits zu kühl, als daß Drehorgel, Pauke und Triangel noch sehr erfolgreich auf das reitlustige Publikum hätten einwirken können. Um so unermüdlicher zeigten sich dafür die gesattelten Bestien im Laufe des freundlichen Herbstnachmittages, so daß es ihnen wohl zu gönnen war, wenn beim Hereinbrechen des Abends der Leinwandstall ringsum geschlossen und sie der wohlverdienten Ruhe und den ihren Geistesfähigkeiten entsprechenden stillen Betrachtungen überlassen wurden.

Kappel hatte seine Mahlzeit in der Arche beendigt. Die kurze Pfeife mit den farbigen Studentenquasten rauchend, verschaffte er sich körperliche Bewegung, indem er den seiner besonderen Aufsicht anvertrauten Marstall lustwandelnd umkreiste, gelegentlich stehen blieb und das Standbild des großen Bären betrachtete, das sich seiner besonderen Vorliebe erfreute. Seine Gedanken schweiften in jene unberechenbaren Fernen, in denen Gruppen von Weltkörpern, ohne ihre Stellung zueinander zu verändern, ihre ewigen Bahnen wandelten.

Er hatte sich so sehr in das Anschauen der ihm noch bekannten Sternbilder vertieft, daß er nicht darauf achtete, als jemand sich ihm näherte. Erst als er angeredet wurde, kehrte er sich ihm zu, und zwar nicht sehr erfreut über die unerwartete Unterbrechung seiner philosophischen Betrachtungen.

»Mich suchen Sie?« fragte er erstaunt, indem er die Physiognomie einer vor ihm stehenden dürftig gekleideten weiblichen Person zu unterscheiden suchte.

»Keinen andern,« antwortete diese mit auffallend tiefem Organ, »keinen andern, wenn ihr Name Kappel ist und Sie zu dem Karussell gehören.«

»Beides trifft zu,« versetzte Kappel mit einem mißtrauischen Seitenblick auf die Arche, »ich heiße Kappel, meine Stellung ist die eines Karussellstallmeisters; und das Weitere?«

»Daß ich Sie zu jemand führen soll,« erwiderte die Fremde leise, »der Sie dringend zu sprechen wünscht.«

»Mich? Ich wüßte nicht, daß ich Freunde und Bewunderer in dieser Metropole besäße.«

»Es genügt, wenn man Sie kennt.«

»Mir nicht ganz. Ich liebe Aufrichtigkeit und möchte ich gerade in diesem besonderen Falle zuvor wissen, was mir die zweifelhafte Ehre fremder Teilnahme verschafft.«

»Auch wenn es sich um Leben und Tod handelt?«

»Auch dann noch,« beharrte Kappel auf seinem einmal ausgesprochenen Willen, »bevor ich nicht weiß, wer nach mir verlangt, gehe ich keinen Schritt. Die Jahre der Lust an Abenteuern sind verrauscht.«

»Sie werden keinen Unbekannten finden. Doch Ihre Weigerung ist vorgesehen worden. Mir wurde ein Paßwort anvertraut, das Sie zugänglicher machen dürfte, vorausgesetzt, Sie treiben keinen Mißbrauch damit.«

»Heraus mit dem Paßwort! Fürchten Sie aber das Gaunerpaar dort in der Arche, so bauen Sie darauf, daß mir dieses gerade so nahe steht, sogar noch weniger nahe, als jede einzelne der hinter dieser Zeltwand hausenden Bestien.«

»Ich bin zufrieden,« versetzte die Person schnell; »entsinnen Sie sich einer jungen Waise, Namens Maßlieb?«

»Maßlieb?« fuhr Kappel erstaunt empor, »zu ihr soll ich kommen? Nach mir verlangt das Kind?« und bereitwillig folgte er seiner Führerin, die ungesäumt die Richtung nach der nächsten, vor dem Platze mündenden Straße einschlug.

»Nicht sie selber schickte mich, sondern jemand, der glaubte, daß Teilnahme für sie Ihren Entschluß, mich zu begleiten, bestimmen würde.«

»So wählte er das richtige Mittel,« gab Kappel zu, seine Schritte beschleunigend; »und wer es auch sei, er muß Gründe haben, die in Beziehung zu dem Kinde stehen.«

»Das weiß ich nicht,« hieß es kurz zurück, »ich bin nur der Bote. Außerdem liegt mir ob, bevor wir unser Ziel erreichen, Ihnen ein Versprechen abzufordern.«

»Um Maßliebs willen verspreche ich alles, was nicht gegen die Billigkeit verstößt, und ich bin der Mann dazu, mein Wort zu halten.«

»Das wurde vorausgesetzt, oder ich hätte mich zu der Botschaft nicht verstanden. Sie werden eine Höhle der Not und des Elends betreten.«

»Hat sie eine Tür, um hineinzukommen, wird sie nicht minder eine haben, die wieder hinausführt.«

»Ohne Zweifel; sie öffnet sich dagegen nur für jemand, der gelobt, sobald deren Schwelle hinter ihm liegt, zu vergessen, sie jemals überschritten zu haben.«

»Über das Vergessen ist niemand Herr,« erklärte Kappel freimütig und von Besorgnis um Maßlieb erfüllt, »allein wünschen Sie mein Versprechen, daß ich über die Erlebnisse dieser Nacht unverbrüchliches Schweigen bewahre, wohlan, so haben Sie es.«

»Das genügt,« versetzte die Person.

Eine größere Strecke legten sie schweigend zurück, ohne indessen ihre Eile zu mäßigen. Kappel gab sich den wunderlichsten Mutmaßungen über die Zwecke hin, zu denen er von dem Karussell fortgelockt worden war. Auch seine Führerin hatte sich düsteren Grübeleien hingegeben. Vor sich niederstarrend, schritt sie einher, als hätte sie ihren Begleiter vergessen gehabt.

So wanderten sie wohl eine Viertelstunde schweigend durch ein Gewirr von Gassen hin, die vergangenen Jahrhunderten anzugehören schienen. Plötzlich bog die geheimnisvolle Person durch eine schadhafte Brettereinfügung auf eine Art Hofraum, auf dem, wie ein schmaler Lichtstreifen der nächsten Laterne, belehrte, längst vergessene Baumaterialien lagerten. Hier ergriff seine Führerin ihn bei der Hand, und ihn nach sich ziehend, erreichten beide nach mehrfachem Stolpern das Ufer des Flusses, der seine schlammigen Fluten in mancherlei Windungen durch die Stadt sandte. Besorgt spähte Kappel stromaufwärts und -abwärts. In weitem Bogen blinzelten auf der gegenüberliegenden Seite die Uferlaternen und erleuchteten Fenster der Häuserreihen. Zu beiden Seiten von ihm schien dagegen alles ausgestorben zu sein. Aus größeren Entfernungen schimmerten die winzigen Kajütenlucken der ankernden Frachtkähne wie entschlummernde Irrlichter zu ihm herüber. Sogar die Schiffer mieden den dem Elend und dürftigen Schaffen eingeräumten Stadtteil.

»Folgen Sie mir,« redete seine Führerin ihn nach einigen Sekunden an. Dann stieg sie eine zum Wasser niederführende schlüpfrige Treppe hinab.

Unten vor der letzten Stufe lag ein Fahrzeug, das mehr einem Backtrog, als irgendeiner Bootsart glich.

In dieses stieg die geheimnisvolle Person ein, Kappel auffordernd, in dessen Hinterteile niederzukauern. Gleichzeitig löste sie den das Fahrzeug haltenden Strick, worauf sie eine halb im Wasser, halb auf dem Bord ruhende Stange ergriff.

»Von jetzt ab haben Sie blindlings sich meinem Willen unterzuordnen,« bemerkte sie flüsternd, und die Stange vorsichtig benutzend, schob sie das Boot dicht am Ufer hin stromaufwärts, »folgen Sie meinen Anweisungen pünktlich, sitzen Sie ruhig, und geben Sie nicht den Schwankungen nach, oder Sie stören das Gleichgewicht und wir haben den Genuß eines Schlammbades, aus dem uns so leicht keiner herauszieht. Zwei Fuß Wasser und Morast bis in den Mittelpunkt der Erde hinein – rührende Aussichten!« und sie lachte spöttisch.

Die Fahrt, nur einige hundert Schritte lang, dauerte gegen zehn Minuten; denn nur langsam vermochte die Person ihre Last gegen die schwache Strömung zu schieben. Anderen Fahrzeugen begegneten sie nicht. Es war als hätten sie sich in einem für Schiffer gefährlichen und deshalb gemiedenen Fahrwasser befunden. Rechts von ihnen dehnte sich die stille schwarze Wasserfläche mit den aus der Ferne beinahe bis zu ihnen reichenden, eigentümlich zitternden Lichtreflexen aus. Links dagegen, oberhalb des morschen Bollwerks, erhoben sich Baulichkeiten, die mit ihren unregelmäßigen Umrissen, ähnlich einer gezackten Hügelkette, von dem gestirnten Himmel sich abhoben.

Endlich glitt das Fahrzeug unter einen schwarzen Überbau. Eine kurze Anstrengung des weiblichen Bootsmannes, ein leichter Stoß, und fest lag es vor einer Leiter, die vom Wasser nach dem Überbau hinaufführte.

Nach einer flüchtigen Unterweisung seiner Führerin tastete Kappel sich nach den Sprossen hin, und deren acht überwindend, gelangte er durch eine offene Falltür auf eine Art Bodenraum, dessen Umfang und Charakter zu unterscheiden die undurchdringliche Finsternis ihn hinderte.

Anstatt sich aber ihm zuzugesellen, sprach seine Begleiterin von unten her zu ihm herauf:

»Bleiben Sie auf derselben Stelle sitzen, denn dem Bretterwerk ist nicht zu trauen. In einer Viertelstunde, höchstens zwanzig Minuten bin ich zurück. Um keinen Argwohn zu erregen, muß ich auf einer anderen Stelle das Haus betreten.«

Bei den letzten Worten stieß sie das Fahrzeug ab.

Kappel war weit entfernt, sich in seinem Versteck sicher zu fühlen. Wohin er tastete, überall traf er auf morsches, feuchtes Holzwerk, das nicht den zehnten Teil seines Gewichtes tragen zu können schien. Doch schweigend fügte er sich ins Unvermeidliche. Konnten doch nur wichtigste Umstände dem seltsamen Verfahren zugrunde liegen.

Endlich vernahm er das Zuschlagen einer Tür und Schritte, die von der Uferseite her sich seinem Versteck näherten. Dicht hinter ihm wurde eine Tür behutsam aufgeschoben, und zu seinen Ohren drang die Stimme seiner bisherigen Führerin.

»Kommen Sie,« sprach sie flüsternd. Nach einigem Umhertasten ergriff sie seine Hand, um ihn von dem morschen Gerberschuppen auf einen finsteren Hofraum zu geleiten; »der Weg ist frei, wenn auch nicht so sicher und gefahrlos, wie ich gewünscht hätte. Wir haben alle Ursache, vorsichtig zu Werke zu gehen. Noch einmal erinnere ich Sie an Ihr Versprechen: Geben Sie keinen Laut von sich und gebrauchen Sie Ihre Sinne. Mein Plan, Sie durch das Hintergebäude hinaufzuführen, ist vom Zufall vereitelt worden. Wir müssen durchs Vorderhaus.«

Kappel antwortete nicht. Er hatte genug zu tun, sich auf dem mit Schutt und Kehricht bedeckten schmalen Hofraum vor geräuschvollem Stolpern zu bewahren. Vor ihm lag es wie ein himmelhoher, schwarzer Wall. Nur in der Höhe des vierten Stockwerks bemerkte er ein matt erleuchtetes Fenster mit kleinen bleigefaßten Scheiben.

Gleich darauf öffnete seine Führerin eine Tür.

»Treten Sie leise auf,« flüsterte sie ihm zu, »und suchen Sie Ihre Schritte hinter das Geräusch der meinigen zu verstecken.« Dann zog sie ihn in das Haus hinein, die Tür nachlässig hinter sich zuwerfend.

Nach mehreren Schritten öffnete sie wiederum eine Tür, durch die statt der früheren warmen Atmosphäre feuchte Kellerluft ihnen entgegenströmte.

Sie waren um eine Ecke herumgebogen, als aus der Richtung, aus der gedämpftes, regelmäßiges Poltern Kappels Ohren schon früher erreicht hatte, plötzlich das heftige Zurückschieben eines Stuhles erschallte. Fast gleichzeitig fühlte Kappel sich hinter die Mauerecke zurückgedrängt.

»Keine Bewegung, wenn Ihr Leben Ihnen lieb ist,« vernahm er noch die Warnung seiner Führerin, dann, indem eine Tür knarrend ausgestoßen wurde, schoß ein heller Lichtstrahl in den dumpfigen Gang hinein, seine Wirkung bis in die äußersten Winkel ausdehnend.

In der Tür stand, scharf beleuchtet durch eine seitwärts von ihm in dem Zimmer brennende Lampe, ein Mann, von herkulischem Körperbau. Neben ihm erblickte Kappel seine bisherige Führerin: eine Frau, deren Blütezeit allerdings weit hinter ihr lag, die aber noch immer Spuren früherer Reize an sich trug.

»Muß der Teufel dich zehnmal des Abends hier vorbeiführen und uns ebensooft stören?« schnaubte der Mann ihr zu, sobald er die vor ihm Stehende erkannt hatte.

»Warum laßt Ihr Euch stören?« fragte Rosamunda höhnisch, und aus Besorgnis für Kappel trat sie in das Zimmer, jedoch ohne die Tür hinter sich zu schließen.

»Leben außer dir keine anderen Menschen in diesem Hause?« fuhr Schmelzer grimmig fort, und aus dem zu ihm herüberdringenden Geräusch erriet Kappel, daß er sich niedersetzte.

»Höchstens Mutter Sarahs Küchlein,« versetzte Rosamunda trotzig, »die aber sind ausgeflogen. Auch wüßte ich nicht, wer von ihnen sich hierher wagen möchte.«

»Wer brach vor kurzem hier ein?« fragte Schmelzer.

»Die hat dir keinen Schaden getan« – hob Rosamunda an, als Schmelzer ihr wütend ins Wort fiel:

»Keinen Schaden? Sie hat uns den Schaden getan, daß unsere Sicherheit zum Teufel ist und nur 'ne Ratte durch diesen Gang zu schleichen braucht, um mich wild zu machen! Verdammt! Das Spionieren hätte ich mir gefallen lassen, allein die Hexe mitzuschleppen und ihr die Freiheit zu geben, das ist's, was ich dir noch heimgeben werde!«

»Die Freiheit gab ich ihr nicht,« erwiderte Rosamunda, »und wenn ihr Entsetzen erregt und sie dadurch veranlaßt wurde, zu entlaufen, so ist's nicht an mir, ihr nachzusetzen. Ich schere mich übrigens weder um deine, noch um Sarahs Wut. Schlagt mich tot, wenn Ihr wollt, mir ist's recht, lieber heute, als morgen!«

»Und das geschieht,« fuhr Schmelzer auf, »ja, 's geschieht, sobald sich herausstellt, daß du uns den Teufel auf den Hals gezogen hast. Denn daß dir's die schwarzlockige Hexe angetan hat, brauchst du nicht zu leugnen. Ich bin heller, als du denkst, und ich müßte einfältiger sein, als Mutter Sarahs zerkratzte Haubenstöcke, sähe ich nicht ein, daß mit dir irgend etwas nicht richtig ist. Aber hüte dich! Ist innerhalb vierzehn Tagen die Kröte nicht zur Stelle, dann würgte ein Krametsvogel sich nie schneller in einer Pferdehaarschlinge, als dir die Luftröhre zugedrückt wird.«

»Wo soll ich sie suchen?«

»In der Stadt, aus dem Lande, mir ist's einerlei. Sie muß herbei, und danach richte dich. Hier in dem Gange hast du ebenfalls nichts zu suchen; es sind mehr als zu viel andere Röhren in diesem Fuchsbau!«

»Vom liegt jemand krank, und Kranke sind mir 'n Widerwillen; ich mag nicht bei ihnen durchgehen.«

»Bis du selber daliegst und vergeblich nach Atem ringst – das aber dauert nicht lange, wofern du mir nicht die Unsicherheit von der Seele nimmst.«

»Heute störe ich dich nicht mehr,« versetzte Rosamunda ruhig; »vielleicht daß ich später noch auf 'ne Stunde fortgehe.«

Das Hämmern hatte wieder begonnen, und Rosamunda trat auf den Gang hinaus, doch nicht eher zog sie die Tür zu, als bis sie Kappel einen Wink gegeben hatte, der alsbald neben sie hinglitt und sogleich von ihr mit fortgezogen wurde.

»Das war die gefährlichste Stelle,« bemerkte Rosamunda, nachdem sie aus dem Gang in ein finsteres Gemach getreten waren, »das andere ist Kinderspiel. Aber Vorsicht ist trotzdem bis zum letzten Augenblick geboten.«

Sie schlichen noch durch zwei Räumlichkeiten, in denen eine Art Kellerluft schwebte, bevor sie auf den eigentlichen Hausflur gelangten und dort eine knarrende Treppe zu ersteigen begannen.

Im vierten Stockwerk, unmittelbar unter dem Dache, bog Rosamunda von der obersten Stufe aus auf eine Tür zu, vor der sie Kappel bedeutete zurückzubleiben und sich hinter einem Schornsteinverschlag zu verbergen. Sie selbst begab sich in das Zimmer hinein, dessen Tür sie hinter sich aufließ, so daß Kappel den dürftigen Raum zu überblicken vermochte, gleichzeitig aber auch hören konnte, was drinnen gesprochen wurde. Zunächst entdeckte er einen elenden Strohsack, auf dem unter einer wollenen Decke eine menschliche Gestalt lang ausgestreckt lag. Das Gesicht konnte er nicht unterscheiden; wohl vernahm er einen schwer röchelnden Atem, zuweilen unterbrochen durch schmerzliches Stöhnen. Vor dem Strohsack auf einem niedrigen Schemel und weit übergebeugt saß die Besitzerin des Hauses, die alte Sarah, durch ihren Anblick sogar den furchtlosen Korpsburschen mit Grausen erfüllend.

Als Rosamunda die Tür öffnete, kehrte Sarah sich ihr zu.

»Lange genug habe ich auf dich gewartet,« hob sie krächzend an, »oder glaubst du etwa, 's sei 'ne Lust, bei 'nem Verscheidenden zu sitzen?«

»So weit ist's nicht, nein, es kann nicht so weit sein,« versetzte Rosamunda hastig.

»Meine Minuten sind gezählt,« sprach eine matte Männerstimme, »und meine Rechnung mit der Welt ist abgeschlossen. Hier in meiner Hand halte ich das Letzte, was mir gelassen wurde – vier Goldstücke sind's – und die werden wohl ausreichen für die Pflege der paar Stunden, die mir noch beschieden sein können.«

»Ich bin zufrieden damit, zufrieden damit« – fiel die alte Wölfin gierig ein, »allein 's ist ratsamer, Sie geben mir das Geld gleich. Im Todeskampfe möchten Sie's von sich werfen oder gar verschlingen –«

»Laß ihm seinen Willen,« schnitt Rosamunda des scheußlichen Weibes Erklärung ab, »ich habe ihm versprochen, daß er unbehelligt sterben soll, und ich werde sorgen, daß das geschieht.«

»Das danke Ihnen der Himmel,« ließ sich die matte Stimme wieder vernehmen, »obwohl mir's gleichgültig sein könnte, wie ein Hund abgetan zu werden.«

»Ihre Wünsche sollen erfüllt werden,« bestätigte Rosamunda, »dafür bürge ich, und geschäh's auch nur der Erinnerung an alte Zeiten wegen.«

»Meine Leiche wird in den Fluß gesenkt?«

»So soll es geschehen.«

»Nachdem ich zuvor rasiert und in einen schwarzen Gesellschaftsanzug gekleidet wurde?«

»Was helfen seine Kleider einem Toten?« hob Sarah an, »sie machen ihn nicht lebendig –«

»Für alles bürge ich,« fiel Rosamunda heftig ein, dann zu dem Weibe: »Ich dächte, du hättest genug von ihm gezogen. Doch gehe hinab jetzt; dein Anblick gereicht ihm ebensowenig zum Trost, wie dir drum zu tun ist, jemanden vor seinen letzten Richter hintreten zu sehen.«

Die letzten, mit feierlichem Ernste gesprochenen Worte übten auf das Scheusal offenbar einen tiefen Eindruck aus. Es erhob sich, als wäre ein Gespenst vor ihm aus den morschen Brettern aufgetaucht, und wie auf der Flucht vor einem solchen schlüpfte es nach der Tür hin. Dort kehrte es sich noch einmal um.

»Leuchte mir, Rosamunda,« flüsterte es in grausigster Weise, »leuchte mir, Schätzchen, die Treppe hinunter. Meine Füße sind nicht mehr so sicher, wie vor Zeiten –«

»Ja, ja,« höhnte Rosamunda, indem sie die Lampe nahm und sich zu Sarah hinausbegab, »leuchten will ich dir, und wär's bis in die Hölle hinein. Deine Füße sind zwar sicher genug, allein der Tod, der in diesem Stalle umgeht, möchte dich aus irgend 'nem dunkeln Winkel beim Genick fassen –«

»Laß die Spottreden,« flüsterte Sarah, die Treppe hinunterschlüpfend, »ich bin noch zu jung – viele Menschen sind über hundert Jahre alt geworden – nur noch 'ne Minute leuchte, Schätzchen, nur noch 'ne halbe Minute!« rief sie hinauf, sobald sie inne wurde, daß Rosamunda von der Treppe zurücktrat, »und wenn er tot ist, rühr' ihn nicht an – ich selbst will seine Hand öffnen –«

Rosamunda lachte heiser. Nicht mehr auf das Geräusch der sich mit verdoppelter Eile Entfernenden achtend, kehrte sie sich um. Vor ihr stand Kappel, mit einem Gesicht so bleich, als hätte der umherschleichende Tod auch nach ihm bereits seine Hand ausgestreckt gehabt.

»Es ist entsetzlich hier,« flüsterte er.

»Für jemand, der an dergleichen nicht gewöhnt ist, wohl,« bestätigte Rosamunda, »allein für mich?« Wiederum ihr unmelodisches, gehässiges Lachen, dann Kappel winkend, ihr zu folgen, begab sie sich in den Verschlag zurück.

»Lassen Sie die Tür offen,« gebot sie, und gemeinschaftlich mit jenem trat sie vor dem Sterbenden hin.


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