Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Kapitel.

Um Mein und Dein.

Maßlieb! Holde Wiesenblume! Gekeimt auf ungepflügtem Boden in frischer, freier Luft; gezeitigt unter einem wechselnden Himmel im warmen Sonnenschein; gekräftigt durch niederströmende Regenschauer; abgehärtet und geprüft durch feindliche Kälte und wild einherbrausende, mit Vernichtung drohende Stürme! Und dennoch, wie zart, du anspruchsloses Wiesenblümchen, du teures, teures Maßliebchen! Als ein freundliches Rätsel erschienst du mir einst auf meinem Lebenswege; ich blickte in deine unergründlich tiefen Augen, suchte den leisen Anflug einer sanften Schwermut auf deinen jugendlichen Zügen zu entziffern, und lauschte mit Wohlgefallen dem Klange deiner süßen Stimme. Wie dein Bild mir vorschwebt! Wie es gewinnt an Wärme und Leben! Und dennoch: ein liebliches Rätsel, mit dem ich in einen viele Monate dauernden geistigen Verkehr trat, ein Rätsel, das am hellen Tage meine Sinne unwiderstehlich umfing, als holdes Rätsel mich bis in meine Träume hinein begleitete! Wie einem holden Rätsel reichte ich über Zeiten und Räume hinweg in der Erinnerung dir die Hand zur gemeinschaftlichen Wanderung auf dornenvollen Pfaden. Ich machte dich vertraut mit dem Vagabundentum, stellte dich unter den Schutz ehrlicher Verkommenheit, brachte dich in Zwiespalt mit Heuchelei und Verbrechen, und du bliebst mir ein Rätsel. Ich gestattete dir einen Blick in geregelte häusliche Verhältnisse, führte dich sicher in die Höhlen der Hyänen und Wölfe und wieder hinaus auf lachende Fluren und in schattige Wälder, und – du bliebst mir ein Rätsel. Ich lockte dich in den Pfuhl des Lasters, jagte dich atemlos durch Nacht und Gefahr und zeigte dir eine traute Heimstätte; ich weckte deinen Mutwillen, reizte deinen Zorn und zwang dich zu Täuschungen; Hoffnung und Entsetzen ließ ich mit Bedacht in deinem armen Herzen abwechseln; wilde Verzweiflung, Haß und Liebe, banges Sehnen und ängstliche Scheu! Alles, alles versuchte ich an dir, du schöne, anspruchslose Wiesenblume, und du bliebst mir fort und fort ein Rätsel, ein Rätsel über viele, viele Seiten hinweg, durch lange Bände hindurch.

Diejenigen, die sich um dich gruppierten, eingriffen in dein Leben, gleichviel ob mit rauher, feindlicher Hand, oder zart und liebevoll, mein Verkehr mit ihnen erreichte sein Ende. Mit Wehmut trennte ich mich von den einen, erleichtert aufatmend von den andern. Ich schloß Gräber über Beweinte, wie über die von einem rächenden Geschick Ereilten, führte freundliche Gestalten an ein beglückendes, friedliches Ziel. Diesen lenkte ich zurück auf die Bahn der Gesittung, jenen ließ ich ungestraft weiter jagen auf den ergiebigen Revieren der Hyänen des Kapitals. Wie im Leben das Geschick, so habe ich ausgeteilt in der Erzählung nach bester Überzeugung, jedem angewiesen seine Stätte, wie er sie selbst sich bereitete. Von allen nahm ich Abschied, nur nicht von dir, du teures Maßliebchen, du anspruchslose, liebliche Wiesenblume.

Indem ich mich aber dir allein zuwende, erstehst du vor mir in erhöhter Anmut und Holdseligkeit, und – du bist mir kein Rätsel mehr. Ich sehe dich im Geiste, wie du sitzest vor dem alten, bekannten Hause in der von Jasmin und Rosen eifersüchtig bewachten Ligusterlaube. Dort vor dem kleinen Tischchen, wo niemand dich beobachtet, weder von der Straße, noch von den Fenstern des Hauses aus, weilst du oft stundenlang einsam mit deiner Handarbeit beschäftigt. Du bist ernster, stiller geworden. Deine Freunde achten deine Stimmung, und ob ein süßes Lächeln sie jedesmal lohnt, ungern stören sie dich in deinen Betrachtungen. Deine Betrachtungen aber? Mechanisch lauschest du aus das schrille Zirpen der Heimchen in der nahen Mauer. Es sind dieselben Heimchen, die einst einem glücklichen Herzen lustige Geschichten vom Kosen und Hadern zusangen.

Auch dir singen sie ein helles Liedchen, gleichsam deine geheimsten Gedanken begleitend. Sie singen von einem dem Verfall geweihten Gehöft und von wüsten Feldern; sie singen von einem jungen, ernsten Manne mit schwermütigem Blick. Du glaubst seine ruhige Stimme zu hören – Tränen rollen über deine Wangen, die geschäftigen Hände rasten. Dann schreckst du empor. »Landstreicherin!« gellts in deinen Ohren; in deiner Seele brennen die furchtbaren Blicke der Mutter Sarah. Und wiederum erschrickst du wie eine Taube, über die der Schatten des in den Lüften schwebenden Stößers hingleitet; und doch hat nur der Draht leise gerasselt, der von der Pforte aus im Hause die Anwesenheit eines Einlaß Begehrenden verkündet. –

Einen Blick warf Maßlieb zwischen dem Blätterwerk hindurch; krampfhaft preßte sie die Hand auf ihr Herz, einige Sekunden zögerte sie noch; dann aber auf einem Seitenpfade durch das Gebüsch um den Giebel des Hauses herumeilend, verschwand sie durch die Hintertür.

»Er ist da!« flüsterte sie angstvoll, indem sie vor Meredith auf die Knie sank und die gefalteten Hände flehentlich erhob, »wenn er mich sieht, ich ertrage es nicht – ich muß entfliehen – retten Sie mich – vor ihm –«

Meredith betrachtete sie ein Weilchen verständnisvoll.

»Beruhige dich,« antwortete sie darauf ernst, Maßlieb sanft zu sich emporziehend, »wohl hätte ich ein Wiedersehen gewünscht, allein wenn du unerschütterlich darauf bestehst, will ich dir keinen Zwang auferlegen. Gehe nur wieder hinein in das Nebenzimmer, wie vor Zeiten. Es ist das geringste, was ich von dir verlangen darf, daß du mein Gespräch mit ihm überhörst, zumal ihn nur der Zweck hierherführen kann, über die Schuldforderung mit uns Rücksprache zu nehmen.«

»Ich will nichts von ihm – alles soll er behalten – ich hasse ihn; ich würde ihn verachten – zwänge er mich –«

Auf dem Flur ertönten Schritte; Maßlieb verschwand in dem Nebenzimmer, und gleich darauf klopfte es.

Noch unter dem vollen Eindruck von Maßliebs Bestürzung hieß Meredith Ulrich mit einer gewissen höflichen Gemessenheit willkommen.

»Ich hoffe, Ihre Verhandlungen mit Herrn Maller haben zu einem befriedigenden Resultat geführt,« eröffnete sie alsbald das Gespräch.

»Zu gar keinem Resultat,« antwortete Ulrich sichtbar heftig erregt, »nach mehrstündiger Beratung befanden wir uns auf demselben Punkte, von dem wir ausgegangen waren, und ich komme daher mit der Bitte, Ihren Einfluß zu meinen Gunsten geltend zu machen. Es kann mir unmöglich zugemutet werden, Schuldforderungen an meinen verstorbenen Vater als erloschen zu betrachten, weil die schriftlichen Belege dafür verloren gegangen. Ein solches Verfahren steht der Vormundschaft rechtlicherweise nicht zu. In Vertretung der minorennen Hildegard Pattern ist es sogar deren Pflicht, meine Verbindlichkeiten anzuerkennen.«

»Ich glaube, sie ist zu nichts gezwungen, was auf unbestätigte Aussagen eines einzelnen Mannes beruht,« versetzte Meredith überlegend.

»So bezweifeln Sie mein Wort? Freilich, ich bin nicht in der Lage, solche Zweifel zu verscheuchen,« erwiderte Ulrich tief errötend.

»Ihr Wort in Ehren,« bemerkte Meredith, den jungen Mann mit unverkennbarem Wohlwollen betrachtend, »allein können Sie selbst nicht einer Täuschung unterworfen sein?«

»Ich zog meine Berechnungen aus den noch vorhandenen Briefschaften meines verstorbenen Vaters,« fiel Ulrich ein.

»Und diese Briefschaften ergeben mancherlei, was des verstorbenen Nathans halber, namentlich mit Rücksicht auf dessen Erbin, am besten der Vergessenheit überantwortet würde,« erwiderte Meredith laut genug, um von Maßlieb verstanden zu werden, »außerdem würde, wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, bei genauerer Prüfung des vorhandenen unzuverlässigen Materials die Summe sich vielleicht auf den dritten Teil reduzieren lassen.«

»Ich erkenne Ihre freundlichen Gesinnungen für mich an,« versetzte Ulrich mit leichtem Spott, »war aber mein Vater zufrieden mit dem ihm vorgeschlagenen Zinssatz und den Prolongationsprämien, so habe ich, sein Andenken ehrend, keine Veranlassung, die von ihm eingegangenen Verträge zu brechen.«

»Wenn trotz alledem die ganze Summe berichtigt wäre?« wendete Meredith ein, »es hat sich herausgestellt, daß kurz vor dem Dahinscheiden Ihres Herrn Vaters mehrere Dokumente vergeblich gesucht wurden. Wer bürgt dafür, daß nicht eins derselben eine Generalquittung?«

»Ich berufe mich auf das Zeugnis Röchlers,« entgegnete Ulrich schnell; »nach seinen Aussagen, die zu bezweifeln wir keinen Grund haben, bezogen sich jene Dokumente auf verpfändete Pretiosen. Es ist sogar festgestellt worden, daß nur tausend Taler als Pfandsumme auf ihnen ruhen.«

»Und Sie kauften dieselben zurück?« fragte Meredith gespannt.

»Bis jetzt nicht,« räumte Ulrich ein, und im Tone seiner Stimme prägte sich aus, wie schwer ihm das Geständnis wurde, »sie liegen noch auf dem Gericht; eine kurze Frist bedang ich mir aus, um zu entscheiden, ob ich alles zurückkaufe oder durch einen Teil der verpfändeten Gegenstände selbst die tausend Taler decke. Letzteres wird wohl geschehen; was sollte ich mit Schmuck, durch dessen Anblick nur trübe Erinnerungen in mir wachgerufen würden?« Er lachte vor sich hin, daß es Meredith durch die Seele schnitt; dann fuhr er ruhiger fort: »Doch ich schweife ab von meinem Hauptzweck, und wiederhole noch einmal, daß ich alle nur denkbaren Schritte tun werde, um die drückende Last von meiner Seele zu wälzen. Selbst eine Kreditgewährung auf eine Reihe von Jahren würde ich ablehnen, weil ich die Unmöglichkeit einsehe, unter den obwaltenden Verhältnissen das Gut jemals wieder emporzubringen. Neuer Kredit legt mir neue Verpflichtungen auf, und ich habe mich im Laufe des letzten Jahres durch meiner eigenen Hände Arbeit überzeugt, wie schwer es ist, ohne die entsprechenden Mittel nur für einen einzigen Menschen den Unterhalt einem vernachlässigten Boden zu entwinden. Nein, es ist vorbei, und tief beklage ich den Tod des alten Nathan; das Gut wäre längst subhastiert, den schwersten Schritt hätte ich überstanden und ich wäre frei.«

»Aber wie, Herr Ulrich,« nahm Meredith nach einer kurzen Pause das Wort, »wenn die Vormundschaft in dem von Ihnen getadelten Verfahren sich streng an die Wünsche der jungen Erbin hielte?«

»Fräulein Hildegard Pattern ist minorenn; sie dürfte bei derartigen Entscheidungen kaum eine Stimme haben,« bemerkte Ulrich kalt.

Meredith biß sich auf die Lippen, bezwang indessen ihren Unmut, und obwohl nicht blind dafür, daß die Fortsetzung des Gespräches weitere Prüfungen für Maßlieb in sich barg, hob sie zögernd an:

»So lassen Sie alles auf sich beruhen, bis Hildegard Pattern ihre Volljährigkeit erreicht, bis zu dem Tage, an dem sie unumschränkte Besitzerin ihres Vermögens geworden.«

»Noch Jahre auf diesem Prokrustesbett liegen?« rief Ulrich leidenschaftlich aus, »noch Jahre hindurch mich winden unter einer Last, die bis jetzt zu tragen nur die Pietät für das Erbe meiner Väter mir die Kraft verlieh? O, Fräulein Kabul, wenn auch geleitet von den freundlichsten Absichten, Sie muten mir Übermenschliches zu. Und ginge ich wirklich auf die Vorschläge der Vormundschaft ein, entschlösse ich mich wirklich, noch einige Jahre zu opfern, planlos zu vergeuden, anstatt mich irgendeiner nützlichen Beschäftigung zuzuwenden, was dann?«

»So würden Sie aus dem Munde der jungen Hildegard Pattern rechtsgültig bestätigt hören, was die Vormundschaft vorgeschlagen hat, nur vorschlagen konnte,« erklärte Meredith lebhaft, denn sie meinte, bereits den Sieg halb errungen zu haben.

Als Maßlieb aufblickte, gewahrte sie den greisen Komödianten und die Haushälterin in der Tür.

Ulrich betrachtete sie ein Weilchen ernst, jedoch nicht unfreundlich.

»Man scheint zu glauben,« hob er an, und seine Stimme bebte seltsam, »daß ich mit Rücksicht auf die Übervorteilung meines Vaters durch den alten Nathan mich geneigt zeigen würde, ein Geschenk – nein, ein Almosen von seinen Erben anzunehmen? Doch man täuscht sich. Möge es sich um neunzigtausend Taler handeln oder um einen leeren Bogen Papier, ich besitze einen gesunden Kopf, meine gesunden Arme, bin also nicht in der Lage, fremdes Mitleid für mich in Anspruch zu nehmen, am allerwenigsten von jemand – mag er immerhin tot sein –, dem mein Vater gewiß die schwersten Stunden seines Lebens, wenn auch nur mittelbar, verdankte.«

Meredith war während des letzten Teils von Ulrichs Rede unruhig geworden. Sie bedurfte kurzer Zeit, um sich zu sammeln; dann hob sie plötzlich in einem Tone an, als hätte sie den Verlust eines teuren Kleinods zu betrauern gehabt:

»Ich begreife die Sie leitenden Empfindungen, und wenn auch nicht mit Ihnen einverstanden, werde ich es doch aufgeben müssen, Ihren einmal gefaßten Entschluß zu bekämpfen. Aber auch Sie mögen es als vergebliche Mühe betrachten, eine andere Entscheidung von seiten der Vormundschaft oder der jungen Waise selber herbeiführen zu wollen. Beide Teile stellen sich auf den Standpunkt des Gesetzes, Ihnen anheimgebend, nach Belieben über die betreffenden Summen zu verfügen. Es bleibt Ihnen also kein anderer Ausweg –«

»Kein anderer Ausweg,« fiel Ulrich erregter ein, »als das Gut zu verlassen, in die Welt hineinzugehen ohne die Genugtuung, die Anerkennung empfangen zu haben, daß die Verpflichtungen, die mein Vater einging, von mir gewissenhaft gelöst wurden. O, Fräulein Kabul, ich glaubte die Achtung der Menschen von der Stätte meiner Kindheit mit fortzunehmen; statt dessen wird es heißen, daß es nicht die ehrenhaftesten Gründe gewesen, die mich zu einer heimlichen Flucht veranlaßten. Hahaha, –« und in diesem Lachen offenbarte sich eine so lange mit Gewalt bekämpfte Verzweiflung – »warum ging ich nicht früher? Warum ließ ich mich wie ein Kind durch die Scholle selber fesseln? Warum mich halten durch den Vorsatz, wenn auch nichts weiter, als den fleckenlosen Namen meines Vaters aus den Trümmern zu retten?«

»Sie könnten – Sie wollten jene Stätte, an der Ihr Herz mit so viel Liebe hängt, ihrem Schicksal überlassen?« fragte Meredith zweifelnd.

»Ihrem Schicksal,« lachte Ulrich herbe, »ist dieses Schicksal nicht längst besiegelt gewesen? Trifft doch nur das ein, was seit Jahren vorbereitet wurde und allein durch Nathans unerwartetes Ende einen Aufschub erfuhr. Nathan wünschte das Gut in seinen Besitz zu bringen, und da er selber nicht mehr lebt, brauche ich nur meiner Wege zu gehen, und es fällt ohne weitere Hindernisse an die Hauptgläubigerin, an Fräulein Hildegard Pattern.

»Welche es ausschlagen wird, und müßte sie dafür das tägliche Brot mit ihren schwachen Händen erwerben,« versetzte Meredith heftig.

»Fräulein Kabul,« rief Ulrich mit einer gewissen krankhaften Heiterkeit aus, »hinter Ihnen liegen gewiß reichere Erfahrungen, als ich von mir behaupten darf, und dennoch ruft es den Eindruck hervor, als ob Sie die Welt weniger genau von deren unfreundlichster Seite kennen lernten! Stellen Sie die Mehrzahl der Menschen zwischen ein namhaftes Vermögen und den Bettelstab, knüpfen Sie an die Wahl die bösesten Bedingungen, und Sie werden kaum jemand finden, der dem Glanze des Goldes lange zu widerstehen vermöchte. Und wer heute noch, edleren Regungen nachgebend, Verzicht auf Fülle und Reichtum leistet – o, Fräulein Kabul, unter hundert Fällen ist kaum einer, in dem nach Ablauf einiger Jahre nicht Reue erwachte und zugleich der Wunsch, den begangenen Fehler wieder auszugleichen!«

»Und diesen einzigen Ausnahmefall würde Hildegard Pattern bilden,« eiferte Meredith, gänzlich vergessend die Nähe Maßliebs, »wie heute, so würde sie nach Jahren es als eine – als eine Gefälligkeit von Ihnen betrachten – nein, mehr noch – mit Entrüstung würde sie die Zumutung zurückweisen, sich durch eine Geldsumme zu bereichern, an die kein Anrecht zu haben sie überzeugt ist.«

»So würde ich ihr ebenso wie heute, den ganzen Betrag oder vielmehr das Gut vor die Füße werfen,« ließ Ulrich sich in seiner verzweifelten Stimmung hinreißen, »wie von dem alten Nathan so von ihr –«

Meredith war aufgesprungen, nahm aber sogleich wieder Platz, ihre Hand abwehrend gegen Ulrich erhebend. Ihr Antlitz hatte sich entfärbt, um ihre Lippen zuckte es wie verhaltener Schmerz.

»Kennen Sie Hildegard Pattern?« fragte sie vorwurfsvoll, und durchdringend blickte sie in die Augen des jungen Mannes.

»Nein, Fräulein Kabul,« erwiderte dieser beschämt – »verzeihen Sie meine Leidenschaftlichkeit – nein, ich kenne sie nicht, und ich verspüre auch nicht die leiseste Neigung, diejenige kennen zu lernen, die sich – nun – ich will annehmen: aus jugendlich freundlicher Laune zu meiner Wohltäterin aufwerfen möchte. Nein, ich will sie nicht kennen lernen, will ihr und mir das Peinliche einer solchen Zusammenkunft ersparen.«

»Sie würden Ihr Urteil ändern,« versetzte Meredith, und ängstlicher blickten ihre Augen.

»Nimmermehr, Fräulein Kabul,« entschied Ulrich, und er reichte Meredith mit einer gewissen zutraulichen Höflichkeit die Hand, dann fuhr er beinahe bittend fort: »Wie bei Herrn Maller, so ist auch hier mein Besuch resultatlos geblieben, nur der Unterschied waltet, daß ich von hier, erzeugt durch Ihre Herzensgüte und den Wunsch, alles zu einem guten Ende zu führen, freundlichere Eindrücke mit fortnehme.« Er lachte sorglos, wenn auch nicht frei von Bitterkeit, und gleichsam schmeichelnd sprach er weiter: »Würde es mich jetzt doch kaum noch überraschen, wenn Sie mir vorschlügen, den gordischen Knoten mit einem Schlage zu durchhauen und mit Fräulein Hildegard Pattern mich zu verheiraten.«

Merediths Atem stockte, und suchend nach einem Auswege aus der peinlichen Lage, antwortete sie fast tonlos: »Wäre das etwa ein Unglück?«

»Eine Heirat sollte ich als Mittel benutzen, mein zerfallenes Gut und die wüste Feldmark neu zu beleben?« fragte Ulrich geringschätzig; »nimmermehr! Da indessen unser Gespräch einmal die scherzhafte Wendung nahm,« lenkte er herzlicher ein, »so will ich meine Weigerung von einer freundlicheren Seite beleuchten. Ich bin vielleicht Phantast, und es kann kaum anders sein bei dem vollständig zurückgezogenen Leben, das ich seit länger als Jahresfrist führte und in dem ich mehr als jeder andere Gelegenheit fand, mich in Grübeleien und oft in recht düstere Grübeleien zu versenken. Ich beschäftigte mich sogar mit Idealen, und es entstanden Bilder in meiner Phantasie, in den nicht Glanz und Reichtum – wie es wohl meinem Lebensalter angemessen gewesen wäre – den Mittelpunkt bildeten, sondern Armut sich zur Armut gesellte zu regem Schaffen, zur Begründung eines dauernden Glückes. Seltsamerweise fällt in diesen idealen Entwürfen die Hauptrolle einem Wesen zu, das ich nie in meinem Leben sah. Ich erinnere Sie an einen früheren Besuch, bei dem ich den Eindruck schilderte, den eine jugendliche Mädchenstimme auf mich ausübte. Arme Leute sangen und spielten vor meiner Tür, und ich war so ergriffen von der ganzen Art des Vortrages, daß ich darüber verabsäumte, hinauszugehen und sie persönlich zu begrüßen. Ich sollte es vielleicht nicht bereuen; denn das Bild der Wirklichkeit wäre sicher hinter dem meiner Phantasie zurückgeblieben, und um einen freundlichen Traum, oder vielmehr um eine ausgiebige Quelle zu freundlichen, bis zu einem gewissen Grade sogar tröstlichen Träumereien hätte ich mich selber gebracht.«

Er stockte und blickte, wie in das Anschauen einer lieblichen Szene versunken, vor sich nieder. Er sah daher nicht, wie es auf Merediths Zügen arbeitete, wie in ihren guten Augen ängstliche Spannung und tiefe Rührung um den Vorrang kämpften.

»Was hindert Sie, jener geheimnisvollen Sängerin das Bild eines jungen Wesens zu verleihen, an dessen Seite Sie hoffen dürften, das Ihnen so verlockend erscheinende Ziel zu erreichen?« brach Meredith endlich wieder das Schweigen.

Wie aus tiefem Schlaf erwachend, sah Ulrich empor. Ein herbes Lächeln ruhte auf seinen Zügen.

»Fast möchte ich glauben,« bemerkte er gutmütig, »daß es mit dem Vorschlage betreffs des Fräuleins Hildegard Pattern ernstlich gemeint gewesen. Aber es ist vorbei, und fände ich in ihr einen Engel der Anmut und Herzensgüte, und wäre sie wirklich geneigt, einem zu früh gealterten Sonderling ihre Hand zu reichen, so würde dadurch nimmermehr die unübersteigliche Scheidewand beseitigt, die jene leidige Vermögensfrage mit ihren Ursachen und Folgen zwischen uns errichtete. Doch abgesehen von diesem allem – und wiederum muß ich mich als einen Sonderling anklagen –« schaltete er heiterer und lebhafter ein, »wäre es auch zu spät. Denn zu jener Stimme fand sich längst ein Bild, das ich gern in meine phantastischen Grübeleien verflechte und bereits so innig verflocht, daß es von jener Stimme unzertrennbar geworden, ein Bild, das Ihnen selbst nicht fremd, das wie ein Traum unter Ihrem Dach erschien und wieder verschwand, und dessen ich selbst eben nur als einer holden Vision zu gedenken vermag.«

»Maßlieb – Maßlieb Kabul,« brachte Meredith mühsam hervor unter dem Andrange ihrer Empfindungen; denn erfüllte auf der einen Seite Ulrichs Schilderung sie mit freudigem Erstaunen, so unterschätzte sie auf der anderen nicht die Wirkung seiner Worte auf Maßlieb, als er der unübersteiglichen Kluft erwähnte.

»Ja, Maßlieb nannten Sie das rätselhafte junge Mädchen mit dem schüchternen Blick und dem sprechenden Ausdruck leidvoller Erfahrungen. Doch das ist alles dahin –« er erhob sich, um sich zu verabschieden – »und bleibt es auch nur ein phantastischer Traum, er soll mir viel tausendmal willkommen sein in der nackten Wirklichkeit eines nüchternen Lebens.«

Begleitet von Meredith war er auf den Flur hinausgetreten.

»Sie beharren störrisch auf Ihren Willen?« fragte Meredith noch im letzten Augenblick in der Haustür, als Ulrich ihr die Hand zum Abschied reichte.

»Störrisch,« erwiderte Ulrich entschieden, »für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder der Verkauf des Gutes wird binnen kürzester Frist bewirkt und mir dadurch Gelegenheit geboten, mich mit meinen Gläubigern auseinanderzusetzen, oder ich antworte auf eine Weigerung von seiten der Vormundschaft damit, daß ich augenblicklich abreise und ein schwer zu entwirrendes Chaos in den Händen irgendeines beliebigen Rechtsanwalts zurücklasse. Wohin ich mich wende, mag Gott wissen.« – – –

Meredith schien noch etwas auf dem zu Herzen haben, denn sie begleitete den Scheidenden, ganz gegen ihre Gewohnheit, bis an die Straßenpforte. Ihr war, als hätte sie ihn mit Gewalt zurückhalten müssen und doch bebte sie vor der Enthüllung eines Geheimnisses, das sie nicht als das ihrige betrachtete, wie vor einem Abgrunde zurück. Hatte es doch bisher ihrer peinlichsten Aufmerksamkeit bedurft, zu verhüten, daß Ulrich durch andere über Maßliebs Beziehungen zu Hildegard Pattern unterrichtet wurde. Um den Rasenplatz herumschreitend, führten sie daher eine Unterhaltung, wie wohl zwischen Personen geschieht, die der Zufall miteinander bekannt machte, um sie bald darauf wieder nach verschiedenen Himmelsrichtungen zu entführen. Sie sprachen vom Wetter und von der Jahreszeit, von dem Duft der Rosen und den betäubenden Eigenschaften des blühenden Jasmin. Und als Ulrich endlich vor der Gitterpforte von Meredith schied, da meinte er mit bedauerndem Ausdruck und einem freundlichen Blick: »Auf Nimmerwiedersehen! –«

Maßlieb befand sich um diese Zeit noch in dem Nebenzimmer. Sie lag auf den Knien, die Arme auf einen Sessel gestützt und ihr Antlitz in beide Hände vergraben. Erst als sie Meredith eintreten hörte, erhob sie sich, und festen Schrittes und mit aufrechter Haltung ging sie ihr entgegen. Ihre Augen waren trocken, ihr liebes Antlitz dagegen bleich, erschreckend bleich.

»Das war eine schwere Stunde für mich,« flüsterte sie, wie aus Besorgnis, daß ihr Geheimnis von den ringsum hängenden Altertümern hätte weiter getragen werden können.

»Und ich handelte in deinem Sinne?« fragte Meredith tief ergriffen.

»Ich werde ihn nicht wiedersehen,« antwortete Maßlieb, »das ist alles, was ich hoffen und wünschen konnte.«

Sie vermochte nicht, weiter zu sprechen. Ihre Arme ausbreitend, sank sie an Merediths Brust. Ihre Fassung, die sie mit äußerster Anstrengung bewahrte, sie war dahin. Sie weinte so bitterlich, als hätte das junge Leben, vereinigt mit ihren Tränen, der gequälten Brust entströmen wollen.


 << zurück weiter >>