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Achtzehntes Kapitel.

Die beiden Pilgerinnen.

Wüst und öde sah es in Merediths Wohnung aus. Die wenigen Gegenstände, die zur Einrichtung eines bescheidenen Hausstandes notwendig waren, hatte sie fortgeschickt. Niemand wußte wohin. Den Rest hatte sie Maller übergeben. Ihre Altertümer standen dagegen noch in den schweren Kisten in dem Wohnzimmer.

Auf einer dieser Kisten saß Meredith, das Haupt sorgenvoll auf beide Hände und Knie gestützt. Bis zum letzten Augenblick wollte sie in den Räumen weilen, die so viele Jahre hindurch ihre Heimat gewesen waren, dann – die Welt lag offen vor ihr da – brauchte sie nur Maßliebs Hand zu ergreifen, und zerrissen war das letzte Band, das sie an die traute Stätte fesselte. Ihr gegenüber saß Maßlieb, mit schmerzlicher Teilnahme ihre Wohltäterin beobachtend. Wohl eine halbe Stunde war in dumpfem Schweigen verronnen, als der Helm den Eintritt eines Fremden in den Garten meldete.

Maßlieb eilte ans Fenster, kaum aber hatte sie einen Blick ins Freie hinausgeworfen, als sie entsetzt zurückschwankte. Einige Sekunden verharrte sie regungslos, dann zu Meredith hineilend, ergriff sie angstvoll deren Hand.

Meredith sah befremdet zu ihr empor.

»Er ist's!« preßte Maßlieb mühsam hervor.

Meredith erhob sich entschlossen.

»Noch bin ich Herr in diesem Hause,« sprach sie drohend, denn sie konnte nur glauben, daß jemand komme, um Maßlieb von ihr zurückzufordern.

»Nein,« flüsterte diese atemlos, »niemand, der mir nachstellt – nein – der Gutsherr – derselbe, vor dessen Tür ich sang – ich kann ihn nicht wiedersehen – will nicht von ihm gesehen werden; die Scham würde mich vernichten –«

»Tröste dich, Kind,« beruhigte Meredith ernst; aber Maßliebs erglühendes Antlitz schärfer beobachtend, trat ein bitteres Lächeln auf ihre Züge; »du willst ihn nicht wiedersehen? gut; ich kenne solche Empfindungen,« und tieftraurig klang ihre Stimme, »wurden sie an mir nicht geachtet, will ich sie wenigstens an dir achten. Dort hinein gehe;« und sie wies auf die offene Tür des Nebenzimmers, »gehe hinein und verhalte dich ruhig – kann's sich doch nur um eine kurze Zusammenkunft handeln.«

Auf dem Flur ertönten Schritte. Maßlieb verschwand im Nebenzimmer und gleich darauf klopfte es.

»Ich komme, um Lebewohl zu sagen,« sprach Ulrich grüßend, indem er eintrat, »ich hörte von Ihrer Abreise –«

»Eine halbe Stunde später, und sie hätten ein verschlossenes Haus gefunden,« fiel Meredith freundlich ein, »Sie sehen, nur Holzkisten ermöglichen es mir noch, Sie zum Niedersitzen einzuladen.«

Ulrich nahm Platz. Er war sichtlich befangen, wie jemand, der den Erfolg eines Anliegens bezweifelt.

»Sie ließen sich bestimmen, meine Waffensammlung anzukaufen,« hob er zögernd an; »da mir nun die Kunde von Ihrer bevorstehenden Abreise zuging, so hielt ich mich zu der Frage verpflichtet, ob Sie vielleicht geneigt wären, den Kauf – das heißt nur teilweise –« hier bedeckte eine dunkle Glut sein Antlitz – »rückgängig zu machen.«

»Alles ist bereits verpackt,« versetzte Meredith befremdet.

»Wird das Mitführen dieser Kisten Ihnen nicht zu beschwerlich, wohl gar lästig?« fragte Ulrich zaghaft.

Meredith antwortete nicht gleich, sondern betrachtete den jungen Mann durchdringend, bis er die Augen vor ihr senkte.

»Warum verbergen Sie ihre wahren Gedanken?« brach sie das peinliche Schweigen, und ihre Stimme zitterte leise; – »warum gönnen Sie mir nicht, eine freundliche Erinnerung mehr – es sind ohnehin deren so wenige – mit von hier fortzunehmen?«

»Sollte ein Mißverständnis –« stotterte der Angeredete.

»Kein Mißverständnis,« fuhr Meredith milde fort, »Sie hörten von meinem Unglück, hörten, daß ich durch die Zentrifugalbank um mein ganzes Vermögen gebracht wurde, und das erweckte Ihre Teilnahme. Es berührte Sie um so schmerzlicher, weil Ihnen selbst drückender Mangel nicht fremd ist! Darf ich nach diesen einleitenden Worten fortfahren?«

Der junge Mann, anfänglich bestürzt, verneigte sich zustimmend.

»Wohlan: Sie entäußerten sich Ihrer Altertümer, weil die Not Sie zwang – o, scheuen Sie nicht die Wahrheit; denn Ihre Schuld ist es nicht, wenn alles so kam – und nun, da Sie sich sagen, daß ich heute nicht mehr imstande wäre, meinen Liebhabereien erheblichere Summen zu opfern, beeilen Sie sich, durch Rückgabe des Geldes, soweit Ihnen dies noch möglich ist, zur Erleichterung meiner Lage beizutragen. O, ich durchschaue alles: Der Gedanke, kurz vor dem Hereinbrechen des Mißgeschicks mich zu einer ungewöhnlichen Ausgabe veranlaßt zu haben, gönnt Ihnen keine Ruhe.«

»Ich leugne es nicht,« antwortete nunmehr Ulrich freier, »und hoffe jetzt um so zuversichtlicher auf die freundliche Billigung meines Vorschlages.«

»Und dennoch muß ich Ihr Anerbieten zurückweisen,« entgegnete Meredith, dem jungen Manne mit Herzlichkeit die Hand reichend. »Durch den Verkauf meines übrigen Hausstandes habe ich mich für das nächste Jahr und wohl noch länger vollkommen sicher gestellt, so daß ich die Versteigerung meiner Altertümer noch eine geraume Zeit hinausschieben mag. Unwahrscheinlich ist dagegen, daß Sie augenblicklich sich in einer ähnlichen günstigen Lage befinden; ich befürchte sogar, daß der Rückkauf Sie in neue Verlegenheiten stürzen würde. Lassen wir daher alles beim alten; bringt die Zeit doch oft genug Rat. Sie sind jung; die ganze Welt steht Ihnen offen, und die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß über kurz oder lang Sie daran denken, die ungeteilte Sammlung käuflich zu erwerben. Es wäre mir eine wahre Herzensfreude, gingen die mit so viel Liebe und unter manchen schweren Opfern gesammelten Schätze in den Besitz jemandes über, von dem ich wüßte, daß er ihnen eine gute Stätte in seinem Hause nicht versagte. Mit mir ist es freilich anders« – und wiederum zitterte ihre Stimme – »für mich gibt es keine Hoffnung mehr, das Verlorene auf die eine oder die andere Art zu ersetzen – und im Grunde – was sollen mir noch Glücksgüter?«

In Merediths Erklärung, obwohl in mildester Weise dargelegt, hatte sich dennoch ein so fester Wille offenbart, daß Ulrich eine Erneuerung seines Vorschlages nicht wagte. Selbst eine Fortsetzung des Gespräches über den angeregten Gegenstand war ihm peinlich, zumal er ähnliche Empfindungen bei Meredith voraussetzte. Plötzlich schrak er aus seiner grübelnden Stellung empor, und Meredith fest anschauend, fragte er mit sichtbarer Unruhe:

»Darf ich wissen, durch wen Sie über meine äußeren Verhältnisse unterrichtet wurden?«

Meredith warf einen verstohlenen Blick auf die halb geöffnete Tür des Nebenzimmers, dann sah sie überlegend vor sich nieder.

»Sollte ich mir selbst eine unvorsichtige Äußerung zum Vorwurf machen müssen?« fragte Ulrich besorgt.

»Nein,« versetzte Meredith lebhaft, »aber wie Sie Kunde von meinem Unglück erhielten, mag ähnlich eine solche mir über Sie zugetragen worden sein. Denn gerade mißliche Ereignisse werden mit besonderer Vorliebe in der Öffentlichkeit verbreitet.«

»Von Ihrer entschwundenen Pflegetochter hörten Sie nichts?« fuhr Ulrich teilnahmvoll fort.

»Nichts,« antwortete Meredith eintönig. Es lag eine unsäglich herbe Klage in diesem einzigen Wort.

Wiederum eine kurze Pause.

»Noch eine zweite freundliche Erscheinung lernte ich in Ihrem Hause flüchtig kennen –«

»Geheimnisvoll, wie sie sich mir zugesellte, verschwand sie auch wieder,« suchte Meredith die weiteren Bemerkungen Ulrichs abzuschneiden.

»Eine rätselhafte Begebenheit,« versetzte dieser sinnend; »viel habe ich an die Ärmste gedacht; vielleicht daß bei eigenem Mißgeschick fremdes Unglück nachhaltiger berührt. Und unglücklich war das freundliche, scheue Kind offenbar –«

»Gewiß, sehr unglücklich,« bestätigte Meredith einfallend, und wie kurz zuvor Maßlieb, so beobachtete sie jetzt den Gesichtsausdruck des jungen Mannes mit gespanntester Aufmerksamkeit, »auch ich erinnere mich ihrer oft und zwar vorwurfsvoll; denn an ihr allein lag es, daß sie nicht meine liebe Hausgenossin wurde.«

»Verhältnisse überwiegen oft den Willen und die Wünsche der Menschen,« entschuldigte Ulrich träumerisch, »und viel« – er lächelte bitter – »viel darf ich kaum sagen, aber Jahre meines Lebens gebe ich dafür hin, ihr wieder zu begegnen – und dennoch, welchen Trost hätte ich ihr zu bieten?«

»Folgen Sie meinem Beispiel,« versetzte Meredith ernst, denn sie fürchtete den Einfluß solcher teilnahmvollen Worte auf die Seelenstimmung ihres nur wenige Schritte entfernten Schützlings, »gedenken Sie ihrer als eines Traumgebildes – und im Grunde war's nur ein Traum, von dem wir nicht wissen, woher er kam und wohin er sich verflüchtigte.«

»Ein freundlicher, ein holder Traum –« fuhr der junge Mann fort, neues Weh in Maßliebs erwachendes Herz zu säen – »ein Traum, an den ich durch die geringfügigsten Umstände gemahnt werde. Ein alter Mann und ein junges Mädchen, wahrscheinlich seine Verwandte, kehrten draußen auf meinem verwaisten Gute ein. Sie spielten und sangen in kunstloser Weise; allein in der lieblichen Stimme der Sängerin ruhte eine so tiefe Innigkeit, eine so rührende Klage, daß ich dabei an jene rätselhafte Erscheinung denken mußte. So macht das Unglück empfänglich für Eindrücke, denen wir im Sonnenschein des Glückes vielleicht fremd blieben. Die armen Leute –« und schwermütiger tönten seine Worte in das Nebenzimmer hinein – das Geld, das ich ihnen hinausschickte, hatten sie gedankenlos auf der Bank vor dem Hause liegen lassen.«

»Dem Darbenden ist nichts gegönnt,« fiel Meredith rauh ein, und sich hastig erhebend, begann sie auf- und abzuwandeln, »wer weiß, ob jene Musikanten überhaupt so viel Teilnahme verdienten. Sie sahen sie nicht?«

»Nein, Und fast bereue ich, sie nicht persönlich begrüßt zu haben. Ich wäre dadurch vielleicht in den Stand gesetzt worden, jetzt nachdrücklicher für sie einzutreten. Jedenfalls bereiteten sie mir freundliche Minuten, für die ich ihnen einen Beweis meiner Dankbarkeit gegönnt hätte.«

Auch er hatte sich erhoben. Die auf Merediths Antlitz sich ausprägenden wechselnden Empfindungen deutete er als einen Wunsch, allein zu sein. Er säumte daher nicht, sich zu verabschieden. Es geschah mit herzlichen Worten von beiden Seiten, und doch schien eine gewisse Entfremdung sich zwischen ihnen geltend zu machen.

Durch das Fenster blickte Meredith dem Scheidenden nach. Sobald er den Garten verlassen hatte, seufzte sie tief auf, und als sie sich umkehrte, stand Maßlieb vor ihr. Ihr Antlitz war bleich, in ihren dunkelglühenden Augen waren noch Spuren von Tränen sichtbar. Deutlich machte sich bemerkbar, wie schwer es ihr wurde, ihrer Beschützerin dankbar zuzulächeln.

»Du hörtest alles, was hier gesprochen wurde?« fragte Meredith gütig.

Maßlieb bejahte leise.

»Und ich handelte in deinem Sinne?«

»Unmöglich wäre mir gewesen, ihm unter die Augen zu treten. Er hätte erraten, daß ich es war, die vor seiner Tür sang und seine Gabe verschmähte, daß ich es war, die in jener entsetzlichen Höhle –«

»Nichts mehr davon,« tadelte Meredith sanft. »Komm jetzt; je schneller von hier fort, um so leichter wird es uns gelingen, das ganze Ereignis zu vergessen.«

Schweigend rüsteten sie sich zum Aufbruch. Die Fensterladen wurden von innen befestigt, dann traten sie in den Garten hinaus.

Als Meredith die Haustür verschloß, rollten Tränen über ihre Wangen. Das war das einzige Zeichen ihres Schmerzes. Arm in Arm wandelten die beiden heimatlosen Pilgerinnen um den Rasenplatz herum. An der Gartenpforte löste Meredith die Drähte von den Griffen, und klirrend fiel die Gittertür hinter ihnen zu. Mit einem vergeistigten Lächeln deutete Meredith auf die leere Stelle, auf der so viele Jahre hindurch der Name Kabul geprangt hatte; ohne ihre Bewegungen zu beschleunigen, bogen sie in die nächste, dem Innern der Stadt zuführende Straße ein.

Die Sonne hatte bereits den Zenit überschritten. Nachdem sie den ganzen Vormittag hinter schweren Dunstschichten verborgen gewesen war, sandte sie plötzlich zwischen dem sich zerteilenden Gewölk hindurch ihre Strahlen auf das vereinsamte Haus und den von den stillen Wanderinnen gewählten Weg nieder. Es war wie ein freundliches Lebewohl, das ihnen nachgerufen wurde.

»Es ist überstanden,« bemerkte Meredith nach einer längeren Pause, »die Stunden, die uns bis zur Abfahrt bleiben, verbringen wir besser in den Straßen.«

Maßlieb pflichtete ihr freundlich bei; dann wanderten sie weiter Arm in Arm. Sie sprachen wenig, und dennoch entrann ihnen die Zeit wie im Fluge.

Als aber die Sterne erst wieder funkelten und unter heimlicher Kälte die aufsteigenden Dünste sich in feine Eiskristalle verwandelten, da befanden sie sich so weit von der Hauptstadt, daß selbst am hellen Mittag ihre Blicke deren Türme nicht mehr erreicht hätten.


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