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Siebzehntes Kapitel.

Der Prüfstein.

Pflanze einen zarten Eichenschößling mit unbeschädigten Wurzeln und gesundem Mark mitten in ein Dickicht von Schierlingskraut, Nachtschatten und Belladonna, so wird die ihn umgebende giftige Atmosphäre seinen Blätterschmuck wohl anfeinden, jedoch nur so lange, bis er sein Haupt über das Unkraut erhebt und dieses nur noch zu ihm emporzuschauen vermag. Was den Giftpflanzen üppige Nahrung zuführt, daß sie blühen und ungehindert Früchte und Samen erzeugen, das treibt den edlen Schößling zum schlanken Stämmchen empor, kräftigt sein Mark und gestaltet ihn zur freundlichen Augenweide.

Wie ein solches Stämmchen auf sumpfigem, mit giftigem Kraut überwucherten Erdreich, so bewahrte auch Maßlieb in jener scheußlichen Höhle des Verbrechens sich ihre Eigenart. Was mit teuflischer Bosheit dazu bestimmt war, entsittlichend auf sie einzuwirken, das verfehlte seinen Einfluß und prallte an ihrer Seelenreinheit ab.

Eine lange Reihe von Tagen war verstrichen, und wie der eingefangene Waldsänger im ersten Jammer um den Verlust der Freiheit blindlings und unbekümmert um die schmerzhaften Folgen gegen die Vergitterung seines Käfigs flattert, dann aber in dumpfe, seine Lebenskräfte zerstörende Trauer versinkt, so hatte auch Maßlieb, das Vergebliche ihres Flehens und Klagens einsehend, sich mit stiller Ergebung in das Unabänderliche gefügt. Ihre Hoffnung auf Befreiung, ihre stete Wachsamkeit, um die erste sich ihr darbietende Gelegenheit zur Flucht zu benutzen, erhielten reiche Nahrung durch Rosamunda selber unter deren besonderer Leitung sie gestellt worden war. Ohne unmittelbare Aufmunterungen zu empfangen, fühlte sie doch heraus, daß diese eine Aufgabe übernommen hatte, der sie nicht gewachsen war.

Ein düsterer Abend war es. Draußen funkelten zwar die Sterne vom Himmel auf die geräuschvolle Stadt nieder, und träumerisch ging der Mond zwischen ihnen spazieren, allein in der Baracke der Mutter Sarah gab es überhaupt nur trübe Abende. Denn je Heller draußen unter freiem Himmel, um so unheimlicher hinter den rußigen und zerbröckelnden Mauern, zwischen denen schon durch Generationen hindurch Verbrechen aller Art ersonnen und vorbereitet wurden.

Mutter Sarahs Küchlein waren ausgeflogen; ausgeflogen wie Schmetterlinge, so leicht, nachdem Mutter Sarah zuvor ihre lustigen Schmetterlingskleider eigenhändig geordnet und eigenhändig die Klebelöckchen auf den mehlig zart angehauchten Schläfen befestigt hatte.

In dem Zimmer, in dem Maßlieb in der ersten Nacht ihr Unterkommen gefunden hatte, saß sie auch heute wieder vor einem viereckigen Tisch. Sie war eifrig beschäftigt, nach einer ihr erteilten Anweisung einen silbernen Löffel zu polieren, der namentlich am oberen Rande des Stiels, wo der Name hingehörte, mittels eines scharfen Instruments abgeschabt worden war, außerdem aber neue Ränder erhalten hatte.

Ihr gegenüber saß Rosamunda, die Blicke auf die emsig schaffenden kleinen Hände gerichtet. Träg hatte sie sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt und beide Arme hinter ihren Kopf geschoben. Sie befand sich in einem schlotterigen Hauskleide, während Maßlieb denselben schadhaften Anzug trug, in dem sie ihren Einzug in die Baracke gehalten hatte. Zwischen ihnen brannte eine Schiebelampe.

»Wie du fleißig bist!« brach Rosamunda das bereits Minuten währende Schweigen. »Raste doch ein Weilchen, Dank hast du ja doch nicht von deiner Mühe.«

»Um Dank arbeite ich nicht; ich möchte mir die Zeit verkürzen. Ich bin nicht gern hier,« erklärte Maßlieb wie aus einem Abgrund endlosen Schmerzes, »mit ganzer Seele sehne ich mich fort; darum suche ich Zerstreuung in nützlicher Arbeit – vielleicht daß Frau Sarah in Anerkennung –«

Ein mißtönendes Lachen schnitt ihr das Wort ab.

»Dir alle Türen öffnet?« fragte Rosamunda mit einem flüchtigen Blick in die bestürzt forschenden Augen, »und nützliche Beschäftigung, meinst du? Hahaha! Du liebe, einfältige Unschuld! Was glaubst du, was du augenblicklich tust?«

»Arbeite ich nicht für eine Fabrik?« fragte Maßlieb befremdet.

»Ja, für eine Fabrik,« rief Rosamunda höhnisch aus, »für eine Fabrik, in der alte Löffel in neue verwandelt werden! Hahaha! Und 'n einträgliches Gewerbe ist's obenein!«

Maßlieb nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie war an das exzentrische Wesen der Gefährtin bereits gewöhnt, legte also kein hohes Gewicht auf die Ausbrüche ihrer tollen, gehässigen Launen. Kaum aber hatte sie begonnen, als Rosamunda ihr den Löffel entriß und klirrend in einen Winkel schleuderte.

»Zweimal sagte ich dir schon, du möchtest innehalten,« rief sie leidenschaftlich aus, »denn ich ertrag's nicht, zu sehen, wie deine Hände das Silber arglos berühren und deine Augen so ernst darauf niederschauen!«

Maßlieb saß vor Schreck wie erstarrt da.

»Ich sehe keinen Grund,« hob sie mit einem so rührenden Ausdruck heiliger Unschuld an, daß der Ton ihrer Stimme Rosamunda wie eine vergiftete Waffe traf.

»Keinen Grund?« kreischte sie, und ihr Antlitz verzerrte sich zu einem häßlichen Lachen. »Keinen Grund? – aber stiere nicht so furchtsam auf mich – ich bin im vollen Besitz meiner gesunden Sinne und weiß, was ich sage –«

Im Nebenraum fiel eine Tür zu. Maßlieb erkannte den schwerfällig schlürfenden Schritt der Haushexe. Schnell setzte sie ihre Arbeit fort.

In diesem Augenblick öffnete Sarah die Tür.

»Hat mein Täubchen aufgearbeitet?« fragte sie mit hämischer Zärtlichkeit. »Hei, das nenne ich ein fleißiges Kind! Der Fabrikant wird erstaunen; aber zeige her, ob keine Schrammen zurückgeblieben sind; denn funkelnagelneu müssen die Geräte aussehen, damit die Menschen nichts Böses von ehrlichen Bürgersleuten denken.«

Maßlieb sandte einen ängstlichen Blick zu Rosamunda hinüber, die jetzt hochaufgerichtet vor die alte Megäre hintrat und furchtlos zu ihr sprach: »Es ist das letztemal, daß jene dort solche Arbeit macht. Das Silber färbt ab, versteh' mich recht, Mutter Sarah, es färbt ab und besudelt reine Hände. Ist das deutlich genug?«

Wiederum das höllische Lachen der Megäre; dann beide Fäuste auf ihre Hüften gestützt, trat sie vor Rosamunda hin.

»Abfärben, meinst du?« kreischte sie, »haben sie etwa bei dir nicht abgefärbt? Hei! Ich weiß 'ne Zeit, in der auch du mit polieren anfingst, und wie bald –«

»Noch eine Silbe,« sprach Rosamunda mit finsterer Entschlossenheit, indem sie emporsprang und den auf dem Tische liegenden Poliermeißel ergriff, »nur noch eins deiner vergifteten Worte, und mir soll's gleich sein, ob ich heute oder morgen ins Zuchthaus wandere!«

Sarah schien an ihrer eigenen Fassungsgabe zu zweifeln. So hatte sie während ihres vieljährigen Zusammenseins mit Rosamunda diese nie gesehen. Eine Antwort schwebte ihr auf den Lippen; allein die drohende Haltung der Gegnerin flößte ihr offenbar Furcht ein.

Maßlieb aber stand zitternd da; nicht einmal Tränen hatte sie in ihrer Not und Verzweiflung. Rosamunda wandelte auf und ab, die Blicke finster gesenkt und die Arme ineinander verschlungen.

»Nur noch 'ne halbe Stunde Arbeit, mein Täubchen, und dem Löffel sieht's kein Teufel an, wie lange er schon –« begann Sarah.

»Still jetzt,« herrschte Rosamunda ihr zu, und drohend hob sie die Hand empor, »weder heute, noch an einem andern Tage wird das Kind diese Arbeit fortsetzen; und was ich will, das geschieht, und müßte ich den Schmelzer zu Hilfe rufen!«

»Was soll sie denn hier?« keifte die scheußliche Megäre bebend vor Wut, »gebe ich ihr das Essen umsonst? –«

»Heute noch werde ich sie in die Welt einführen,« versetzte Rosamunda entschlossen, »denn ob heute oder nach Wochen oder Monaten, bei Maßlieb bleibt die Wirkung dieselbe!« Sie lachte höhnisch; »ja, die Wirkung bleibt dieselbe,« wiederholte sie noch entschiedener, »und daher lieber heute, damit du in dieser Pesthöhle nicht verschimmelst und verrottest,« wendete sie sich an Maßlieb, »und benimmst du dich verständig, wird die Mutter Sarah deine beste Freundin –«

»Deine beste Freundin,« fiel Sarah grinsend ein, »und wohlmeinend rate ich dir, den Anweisungen der Rosamunda pünktlich zu folgen; denn sie ist in solchen Dingen sehr erfahren, und du bist nicht die Erste, die von ihr in die Welt eingeführt wird –«

»Es ist gut,« schnitt Rosamunda die Rede des Weibes kurz ab, »in diesem Aufzuge können wir indessen nicht gehen –«

»Ich eile, ich eile,« nahm Sarah schnell und im höchsten Grade befriedigt das Wort, »aber nicht gleich zu prachtvoll, denke ich; mehr ländlich bescheiden und einfach, wie's solchen Lockenkopf am besten kleidet – und außer den Locken kein Schmuck –«

»Mach's wie du willst,« grollte Rosamunda, »geh nur mit, Maßlieb – doch nein, du darfst nicht allein mit ihr bleiben; die Alte hat 'ne Art zu reden, die du vielleicht nicht verstehst, aber dennoch –«

»Nun gut,« fiel Sarah lebhaft ein, »wenn die Rosamunda darauf besteht, hole ich die Garderobe herbei, und sie selber mag 'ne Hand mit anlegen.« Damit schlüpfte sie aus der Tür.

Sie befand sich kaum außer Hörweite, als Rosamunda vor Maßlieb hintrat und beide Hände auf deren Schultern legte. »Maßlieb,« hob sie ernst an, diesmal ohne Scheu in die angstvoll auf sie gerichteten großen Augen blickend, »ich verspreche nichts; allein unmöglich ist's nicht, daß wir nächstens voneinander getrennt werden. Sollte dieser Fall eintreten, Maßlieb, dann erwarte ich zuversichtlich von dir, daß du über deinen Aufenthalt in dieser Höhle und über das, was du hier sahst und erfuhrst, unverbrüchliches Schweigen beobachtest, und meiner gedenke fortan nur noch mit Bedauern – mehr kann ich dir nicht sagen.«

»Sie wollen mich befreien, Sie wollen mich hinausführen aus diesen entsetzlichen Räumen!« flüsterte Maßlieb, und Furcht und Hoffnung kämpften auf ihrem plötzlich erglühenden Antlitz.

Rosamunda schüttelte verneinend das Haupt.

»Du wirst mich begleiten,« sprach sie unsäglich bitter, »du wirst mich begleiten, wie das Lamm den Menschen, der es zur Schlachtbank führt. Und dennoch können wir voneinander getrennt werden, und geschieht's nicht heute, so geschieht's zu einer anderen Zeit. Doch da kommt die Alte mit den Kleidern. Wundere dich über nichts; tue alles, was von dir verlangt wird, und sprich so wenig wie möglich.«

Gleich darauf trat Sarah ein, schwer beladen mit weißen Röcken und Mullkleidern, außerdem mit einem dunkelfarbigen Regenmantel. Sogar Handschuhe, Strümpfe und Schuhe hatte sie nicht vergessen. Nachdem sie alle Vorzüge jedes einzelnen Stückes in ihrer widerwärtigen Weise aufgezählt hatte, ging sie ans Werk, Maßlieb, die wie eine Träumende alles mit sich geschehen ließ, umzukleiden. Auch Rosamunda vertauschte ihren schlotterigen Hausanzug mit einem schweren, seidenen Kleide, worauf sie ihr Haar flüchtig ordnete und eine mit Schwanendaunen verbrämte Sammetkappe aufsetzte. Sie war schneller fertig, als Maßlieb, die sich nur mechanisch nach den Anordnungen Sarahs bewegte. Als sie dieser aber ihre Aufmerksamkeit zuwendete, vermochte sie kaum, einen Ausruf des Erstaunens über das sich ihr darbietende liebliche Bild zu unterdrücken. Von Kopf bis zu den Füßen in duftiges Weiß gekleidet, mit der bräunlichen Hautfarbe, den üppigen Locken und den dunkeln Samtaugen, glich Maßlieb einem verkörperten Märchen. Ihre holde Erscheinung wurde aber noch verschönt durch ein süßes Lächeln, das bekundete, daß natürliche, harmlose Eitelkeit vorübergehend alle anderen, selbst die schmerzlichsten Regungen verdrängte.

»Du siehst gut aus, Maßlieb,« bemerkte Rosamunda mit tiefem, zitternden Organ; »weiß ist die Farbe der Unschuld; o, Mutter Sarah versteht es, ihre Küchlein herauszuputzen.«

»Gut?« schmunzelte das Weib, indem es einige Schritte von Maßlieb zurücktrat, und, bald nach der einen, bald nach der andern Seite tretend, ihr Werk mit funkelnden Blicken prüfte, »nur gut? Was ist gut? Köstlich! Wunderbar! Bezaubernd! Das ist's, was sie ihr zuraunen werden beim perlenden –«

»Kein Wort mehr!« herrschte Rosamunda wiederum, »noch eine einzige Silbe aus deinem giftigen Munde, und ich zerstöre alle deine teuflischen Hoffnungen auf einen Schlag! Hahaha! Wie kann ich als Lehrerin und Ehrendame auftreten, ohne zuvor beobachtet zu haben, welchen Eindruck die glänzende Welt auf meine Schülerin ausübt? Der natürliche Anstand aber darf bei solcher Jugend nicht durch verfrühte Verhaltungsregeln verkrüppelt werden. Wird die Jugend verblendet – wohlan, ich wasche meine Hände in Unschuld –, was soll das Geschmeide?« fragte sie heftig, als Sarah mehrere wie echtes Gold glänzende Armbänder aus der Tasche zog und sich Maßlieb näherte, um sie ihr anzulegen.

»Schmücken will ich mein Täubchen,« versetzte das Weib, verwirrt durch Rosamundens ungewöhnliches Auftreten; »schmücken, daß es bezaubert –«

Nichts da,« entschied Rosamunda, »das Bild der Unschuld bedarf keines Geschmeides; hat es in einer Lumpenhülle mich doch schon mehr bezaubert, als mir lieb ist – setze ihr eine Sammetkappe auf, zum Schutz gegen die kühle Nachtluft –, so, nun den Mantel, und dann vorwärts.«

Bevor sie den düstern Raum verließen, betrachtete Rosamunda ihren Schützling noch einmal von allen Seiten, sorgfältig den Regenmantel über die weißen Kleider hinziehend. Dann trat sie mit Maßlieb auf den feuchten Flur hinaus. Letztere schritt wie betäubt einher, während Sarah Riegel und Sicherheitskette von der Tür entfernte. Diese war kaum nach innen gewichen, als ein breitschulteriger Mann sich von der Straße hereindrängte. Beim Schein von Sarahs Lampe erkannte Maßlieb in ihm denjenigen wieder, der sie am ersten Abend ihres Aufenthalts in der Baracke beinah gewürgt hatte. Bei Rosamundens Anblick prallte er überrascht zurück.

»Wohin?« fragte er drohend, indem er auf ihre vor Entsetzen zusammenschauernde Begleiterin wies.

»Hinaus in die Welt,« antwortete Rosamunda mit krampfhafter Heiterkeit, »hin zu Spiel und Tanz! Was weiß ich's? Dahin, wo Glanz das Auge blendet, rauschende Musik dem Ohr schmeichelt, des Lebens höchste Freuden und Genüsse uns winken!«

»Damit sie dir entwischt?« versetzte der Mann in demselben wilden Tone.

»Geh aus dem Wege, Schmelzer!« erwiderte Rosamunda halb begütigend, halb trotzig, »ich bürge für alles, aus dem Wege, sage ich dir!«

»Aus dem Wege!« fiel Sarah, der offenen Tür wegen flüsternd, ein, je eher ins Leben hinaus, um so früher reifen die Früchte. Und geputzt haben wir das Kind, wie'n Dornröschen – die reine, weiße, himmlische Unschuld –«

»Komm, Maßlieb,« versetzte Rosamunda ungeduldig, die Hand ihres jungen Zöglings ergreifend, und hastig drängte sie sich in die Tür. Bevor sie auf die Straße hinaustrat, neigte Schmelzer sein Haupt ihrem Ohr zu.

»In dir steckt der Teufel,« flüsterte er leidenschaftlich.

Wenn du nichts Schlimmes im Sinne hast, gebe ich keinen Strohhalm für meine Augen. Aber hüte dich, ich verstehe in solchen Dingen keinen Spaß.«

»Nie habe ich dich betrogen, und auch heute werde ich's nicht tun,« entgegnete Rosamunda, und in der nächsten Sekunde schlüpfte sie mit Maßlieb die Stufen nach der Straße hinauf. Die Tür schlug hinter ihnen zu und schnellen Schrittes entfernten sie sich.

Es war ein kalter, sternenklarer Abend. Die starken Regenschauer der letzten Wochen hatten die Gossen gesäubert und ausgewaschen. Eine verhältnismäßig frische Atmosphäre umfächelte daher Maßliebs Schläfen. Nach dem ununterbrochenen Aufenthalt in den dumpfen Räumen der elenden Baracke atmete sie mit Entzücken die kühle Nachtluft ein; und je weiter sie sich von dem Orte des Entsetzens entfernte, um so freier klopfte ihr armes, geängstigtes Herz, um so hoffnungsvoller blickte sie in die Zukunft. Verlangte und wünschte sie doch nichts weiter, als Freiheit und den Verkehr mit Menschen, denen sie vertrauensvoll nahen durfte.

»Was wollte der Mann von uns?« forschte sie zaghaft, nachdem sie aus einem Gewirr enger Gassen in eine breitere Straße getreten waren; »er sah drohend aus und geheimnisvoll klangen seine Worte.«

»Vergiß ihn,« antwortete Rosamunda bitter. »Auch er zählt nicht zu den Glücklichen. Er verschuldet das zwar selbst, allein wenn sich das Herz an jemand gehangen hat, fragt's nicht lange, ob achtbar der Charakter, oder ob tief gesunken.«

Maßlieb schwieg. Vor ihrer Seele schwebten freundliche Gestalten, durch deren äußere Verhältnisse ihre Anhänglichkeit nicht im entferntesten beeinflußt wurde.

»Wo liegt unser Ziel?« fragte sie nach einer Pause, denn es beängstigte sie, daß Rosamunda, fortgesetzt ihre Hand haltend, sie schweigend mit sich zog.

Die Angeredete lachte gehässig.

»Nicht weit mehr,« bemerkte sie, »und ob es dir daselbst gefallen wird, ist deine Sache. Hörtest du jemals von einem Prüfstein?«

»Das Wort kenne ich, allein dessen eigentliche Bedeutung ist mir fremd.«

»Wohlan, auf einem Prüfstein wird untersucht, ob edles Metall unverfälscht oder mit wertloseren Stoffen vermischt ist. Siehst du dort die bunten Lampen? Da hinein gehen wir. Was für andere eine Quelle üppiger Genüsse bildet, für dich ist's ein Prüfstein.«

»Wie soll ich mich benehmen an dem fremden Ort?« fragte Maßlieb, von neuen Besorgnissen erfüllt; »ich fürchte mich; der weiße Anzug, die vielen Lichter – am liebsten ginge ich nicht hinein. Die Prüfung muß gegen mich zeugen – und es schmerzt tief, durch unverschuldetes –«

»Wie's der Augenblick und dein Herz von dir fordern, so zeige dich, und nicht anders,« belehrte Rosamunda ernst, dein Geschick liegt in deinen Händen.«

Maßlieb sann noch über die Bedeutung des ihr erteilten Rates nach, als sie vor den bunten Lampen eintrafen, die ein großes, prachtvolles Portal umkränzten. Zahlreiche Menschen wogten durcheinander. Manche kamen, andere gingen. Alle waren mehr oder minder festlich gekleidet. Wilde Ausgelassenheit charakterisierte jedes Antlitz. Hinüber und herüber flogen von tollem Lachen begleitete Bemerkungen, die Maßlieb ebenso unverständlich blieben, wie die seltsam forschenden Blicke und vertraulichen Grüße, denen sie nach allen Richtungen hin begegneten.

Ängstlicher schmiegt sie sich an ihre Begleiterin, als diese sie in eine blendend erleuchtete Vorhalle hineinzog. Männer des verschiedensten Alters schoben sich seitwärts nach einem kleinen Fenster hin, um dort Eintrittskarten zu lösen. Rosamunda nickte nur hinüber; der Kassierer antwortete ähnlich, und durch eine breite Glastür gelangten sie in einen geräumigen, mit Spiegeln, Statuen und kostbaren Pflanzengruppen geschmückten Korridor. Rauschende Musik, durch dazwischenliegende Räumlichkeiten gedämpft, strömte ihnen entgegen. Maßlieb, geblendet durch die vielen Gaslampen, fühlte ihren Atem stocken. Der Übergang von kalter Nacht zu sinnebetäubendem Glanze war zu plötzlich, der Unterschied zwischen der verpesteten Höhle der Mutter Sarah und den dufterfüllten, strahlenden Festhallen zu gewaltig: sie vermochte die Wirklichkeit nicht zu fassen. Weiter fortgezogen, wagte sie nicht mehr aufzuschauen. Die sie verfolgenden Blicke verwirrten sie vollständig.

Plötzlich blieb Rosamunda stehen, und als Maßlieb die Augen emporschlug, sah sie in das volle, vor Lebenslust sprühende Antlitz eines älteren Herrn, der sich durch die Gewähltheit des Anzuges, eine schwere, goldene Uhrkette und mehrere blitzende Diamantknöpfe auszeichnete, und mit einer gewissen Selbstgefälligkeit an den lordmäßig von seinen Wangen niederhängenden Paradiesvogelschweifen zupfte.

»Rosamunda, ich grüße dich! Aber bei allen frohen Stunden, die wir jemals zusammen verlebten, wen bringst du hier?« fragte er, indem er Maßlieb ins Antlitz starrte, als hätte er in ihrer Seele lesen wollen.

»Ei, Herr Bankdirektor,« erwiderte Rosamunda vertraulich spöttelnd, »der Bankerott scheint Ihnen nicht übel bekommen zu sein? Immer frisch und munter, wie ich sehe; freilich, wer sich im Besitz einer so reichen Frau befindet – hahaha! Ich wäre gewiß eine ebenso stattliche Frau Bankdirektor geworden, wie die stumpfnasige Klotilde – wunderbar, wie das Schicksal zuweilen mit dem Lebensglück armer Sterblichen würfelt!«

Nailleka, dem derartige Bemerkungen offenbar nichts Neues waren, zuckte die Achseln geringschätzig, ohne seine Blicke von Maßlieb abzuziehen. Er bemerkte daher nicht, wie auch Rosamunda ihren Schützling mit atemloser Spannung beobachtete, und fuhr daher im leichtfertigsten Tone fort:

»Bei Gott, Rosamunda, dies holde Pflänzlein macht deinem Geschmack alle Ehre, ich lade euch beide hiermit zu einem Champagnersouper ein.«

»Ich habe nicht zu bestimmen,« versetzte Rosamunda, und sie erbleichte, als sie bemerkte, daß Maßlieb, dieselbe Maßlieb, die dem warnenden Kappel gegenüber behauptet hatte, für des Lebens Kämpfe gerüstet zu sein, mit rührender, fast ehrerbietiger Befangenheit zu dem Bankdirektor emporschaute, »die Entscheidung liegt in den Händen meiner Begleiterin.«

»In deinen Händen?« fragte Nailleka süßlich, indem er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an Maßliebs Kinn legte und ihr Antlitz höher emporrichtete, »nun, über deine frischen Lippen ist noch nicht viel Champagner geflossen, mein süßes Schneewittchen; und fragen soll ich dich? O, solch' süße Kinder sind nur zum Gehorchen da,« und Maßliebs Hand ergreifend, zog er ihren Arm unter den seinigen.

Rosamunda seufzte tief auf. Sie hatte entdeckt, daß die Glut auf Maßliebs Zügen in tödliche Blässe übergegangen war und heftiges Zittern ihre Gestalt durchlief. Über die verlassene Waise hatte ihr guter Engel seine Arme schützend ausgebreitet, die arglos vertrauende Kindlichkeit wachgerufen zu dem Bewußtsein einer drohenden Gefahr. Woher diese Gefahr kam, wohin sie zielte, sie wußte es nicht, ahnte es nicht; aber das Bild einer Hyäne hatte seinen Schatten in den klaren Spiegel ihrer Seele geworfen und sie mit Entsetzen erfüllt. Einen Blick der Verzweiflung warf sie auf Rosamunda, die sie erwartungsvoll beobachtete, einen Blick der Abscheu auf den Bankdirektor, der gefallsüchtig an seinen lordmäßigen Bartschweifen zupfte; dann riß sie sich los, und mit der Gewandtheit eines unter freiem Himmel aufgewachsenen Karussellkindes zwischen den ab- und zugehenden Menschen hindurchschlüpfend, eilte sie auf die Straße hinaus.

Rosamunda triumphierte; denn Nailleka stand da mit offenem Munde, als hätte er seinen Augen nicht getraut.

»Auch auf diesem Felde scheinen der Herr Bankdirektor vor dem Konkurs zu stehen,« höhnte sie, »ei, ei, 's gibt also dennoch Naturen, die nicht leicht verblendet werden durch alternde, goldklingende Liebenswürdigkeit!«

»Was soll das heißen?« fragte Nailleka entrüstet.

»Es heißt, daß wir alt und unansehnlich werden,« geißelte Rosamunda ihren einstigen Verehrer; »auch Ihre Frau Gemahlin, Herr Bankdirektor außer Dienst, ist nicht mehr das frische Mädchen von damals, die so gewandt die Gäste bediente.«

Nailleka zuckte wiederum die Achseln, während er vor Wut mit den Zähnen knirschte. Dann kehrte er sich mit erhabener Bewegung ab, im Gedränge des Ballsaales verschwindend.

Die Hyäne war nur auf eine falsche Spur geraten; kurzes Umherspüren und neue Beute trat in ihren Gesichtskreis. –

Wie damals, als Maßlieb zum ersten Male schutzlos und auf ihr gutes Glück bauend in die Welt hineinstürmte; wie wenige Tage später, als sie auf ihrer Flucht aus Merediths Hause atemlos durch die belebten Straßen eilte, so eilte sie auch an dem heutigen Abend flüchtigen Fußes davon. Wohin sie ihre Schritte lenkte, es war ihr gleichgültig; nur fort von der Stätte des Glanzes, die ihr noch mehr Angst einflößte, als die Höhle des Verbrechens. Fort und immer tiefer in die Stadt hinein, beflügelten Schrittes und angstvoll pochenden Herzens, und doch langsam weiter, um kein Aufsehen zu erregen. Weiter durch hellerleuchtete Straßen und über umfangreiche Plätze. Nur hinaus aus dem Häusermeer und dem Menschengewirr; hinaus ins Freie auf die herbstlich kahlen Fluren, unter die blätterstreuenden Bäume. Jammernden Herzens dachte sie an den greisen Komödianten und an ihren Freund Kappel. Wie wären sie zu ihrem Schutze herbeigeeilt, hätten sie gewußt, daß ihr Liebling obdachlos umherirrte! Doch wo mochten sie weilen?

Leerer wurden die Straßen und weniger vertrauenerweckend erschienen ihr die vereinzelten Fußgänger, die sie in ihrer Not um freundlichen Rat hätte ansprechen können. Ihre Füße erlahmten und Tränen entrollten ihren Augen in dem Bewußtsein, binnen kurzem erschöpft zusammenbrechen zu müssen.

Wiederum schritt sie über einen Platz, auf dem der Schein der Laternen nur dürftig wirkte. Sie stolperte über einen Pfahl. Erschreckt spähte sie um sich. Strohhalme zeichneten sich matt auf dem Erdboden aus. Auch einen Kreis unterschied sie, der allmählich unter menschlichen Füßen entstanden war. Nur zu genau kannte sie solche Stätten. Ein Karussell hatte dort gestanden, und zwar, wie sie durch einen Blick auf die nächsten Häuserreihen sich leicht überzeugte, das zur grünen Arche gehörige. Sie entsann sich des Weges, den sie in Merediths Begleitung nach deren Wohnung zurückgelegt hatte. Nicht einmal weit war es bis dahin. Und die alte gütige Dame gewann vor ihren geistigen Blicken Leben, und Esther, die heitere Esther mit dem bezaubernden hausmütterlichen Wesen winkte ihr und lud sie ein, sich ihrer wieder zuzugesellen!

Noch immer stand sie auf der alten Karussellstätte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, während die nächtliche Kälte doppelt empfindlich auf ihren erhitzten und unzureichend geschützten Körper fiel. Nur unter Aufbietung ihrer äußersten Kräfte hielt sie sich aufrecht.

»Sie werden mich nicht fortweisen,« sprach es in ihrem Herzen, sie werden Erbarmen mit mir haben, mir ein Winkelchen gönnen für diese einzige Nacht, und dann will ich ja gern weiterziehen.

Sie ging weiter, aber nur langsam kam sie von der Stelle. Wie Blei ruhte es in ihren Gliedern, und endlos erschien ihr die Strecke bis zu Merediths Heimstätte.

Endlich lag diese vor ihr. Die Läden waren geschlossen. Wie auf den Straßen sich kaum noch ein Mensch zeigte, schien auch in Merediths Wohnung sich alles zur Ruhe begeben zu haben. Zögernd öffnete sie auf die ihr bekannte Weise die Pforte, zögernd trat sie in den Garten ein, und quer über den Rasenplatz schlich sie auf die Haustür zu. Vor den Stufen eingetroffen, bemächtigte sich ihrer neue Besorgnis. Es war so spät; wenn Meredith und Esther schliefen, besaß sie ein Recht, deren Ruhe zu stören?

Leise schlich sie die Stufen hinauf, und auf der obersten in den von dem Mauerwerk und der Tür gebildeten Winkel niederkauernd, hüllte sie sich in ihren Regenmantel ein. Kalt waren die Steine, kalt das Holz, und dennoch fühlte sie sich getröstet und ermutigt unter dem kaum nennenswerten Vordach. Sich vorbereitend zum Schlaf, hauchte sie fröstelnd in ihre Hände; fröstelnd zog sie die Falten des Mantels über ihr Antlitz, so daß sie das leise Klirren des Schlosses zu ihren Häupten und das Zurückweichen des einen Türflügels nicht vernahm.

Ein flackerndes Licht sandte seinen unsteten Schein in den Garten hinaus.

»Von selbst schlägt er sein Visier nicht empor,« lispelte Meredith über die von ihrer Hand beschattete Flamme hin, und geisterhaft spähte das mit rötlichen Reflexen geschmückte Antlitz nach der Straße hinüber; »ein Kundiger öffnete und schloß die Pforte.« Dann rief sie laut aus: »Ist jemand hier, der mich zu sprechen wünscht?«

Ein leises Geräusch seitwärts von ihr veranlaßte sie, in den Türwinkel hinabzuleuchten.

Furcht hatte Meredith nie kennen gelernt, und dennoch erschrak sie, als sie in ein bleiches, in Tränen schwimmendes, liebliches Antlitz schaute; als sie sah, wie zwei Arme sich ihr flehentlich entgegenstreckten, dem unter einem Regenmantel verschwindenden schlanken Körper aber die Kraft fehlte, sich zu erheben.

»Vor meiner Tür eine Kabul?« brach ihr Erstaunen sich Bahn, sobald sie Maßlieb erkannte.

»Vor meiner Tür eine Kabul?« brach ihr Erstaunen sich Bahn, sobald sie Maßlieb erkannte; dann trat sie eine Stufe niedriger, wie um sich von der Wirklichkeit zu überzeugen.

»Erbarmen,« flehte Maßlieb, indem sie Merediths Hand ergriff und an ihre zuckenden Lippen führte; »ich habe Sie getäuscht und betrogen, dann haben die Menschen mich gequält, verfolgt und gehetzt bis auf den Tod – retten Sie mich – ich will alles eingestehen, nur vor den schrecklichen Menschen retten Sie mich!«

»Vor meiner Tür in kalter Nacht, du armes, armes Kind?« versetzte Meredith, Maßlieb zu sich emporziehend, und Tränen des heiligsten Mitgefühls drangen unaufhaltsam in ihre Augen, »zu mir hast du dich geflüchtet? Zu mir, der Verlassenen, der Vereinsamten? Aber ich begreife, ein versöhntes Geschick sandte dich mir, auf daß ich nicht die letzte Kabul bleibe –«

»Ich habe Sie getäuscht,« klagte Maßlieb mit herzzerreißendem Ausdruck, »weder Kabul noch Kappel –«

»Für mich bleibst du eine Kabul,« versetzte Meredith unbeschreiblich milde, »aber komm,« und sie freundlich unterstützend, führte sie die Schwankende ins Haus hinein, »an deiner Rechtschaffenheit zweifelte ich nie, mögen immerhin widrige Verhältnisse dich feindlich umhergestoßen und zur Umgehung der Wahrheit gezwungen haben. Bei mir ist deine Stelle, und so frei von Fehl ist kein Mensch, daß er leichtfertig den Stab über einen Mitmenschen brechen dürfte.«

Sie waren in das Wohnzimmer eingetreten, das sich vollständig verändert hatte. Die Wände waren leer, an den Fenstern fehlten die Gardinen. Dafür standen große Kisten auf der Erde umher und mehrere Koffer, die die sorgfältig verpackten Altertümer bargen. Nur der Anmeldehelm thronte noch auf seiner Konsole.

Meredith hatte Maßlieb nach der rohrgeflochtenen Bank hingeführt, auf die sie erschöpft niedersank. Ihre Blicke schweiften im Kreise und blieben fragend auf dem Antlitz ihrer Beschützerin haften.

»Du erstaunst,« beantwortete diese die stumme Frage: »Ein feindliches Geschick hat mir alles, alles, bis auf einen kaum nennenswerten Rest geraubt. Verlassen von der ganzen Welt, von allem, was ich so herzlich liebte, nicht einmal mehr freie Gebieterin meiner teuren Reliquien, habe ich dir, die Hilfe suchend sich zu mir flüchtete, nichts zu bieten – nein, Maßlieb, nichts, als eine Stelle in meinem vereinsamten Herzen.«

Da entstürzten Maßliebs Augen aufs neue heiße Tränen, während eine tiefe Glut ihr liebliches Antlitz bedeckte. Sie, die bisher nur mit heimlicher Scheu Merediths gedachte – als sie solche Worte vernahm, gab sie den überwältigenden Regungen furchtlos nach. Mit einer heftigen Bewegung sprang sie empor, und ihre Arme weit ausbreitend, fiel sie Meredith laut schluchzend um den Hals.

»Ich kann arbeiten,« sprach sie kaum verständlich, als sie fühlte, wie die sie umschlingenden Arme sie fester drückten, »viele Lieder lernte ich, und reichen Ertrag erzielte ich mit meinem Gesang. Für uns beide will ich arbeiten und singen, wie ich es getan für einen treuen, alten Mann –«

»Eine echte Kabul, eine echte Kabul,« lispelte Meredith tief ergriffen, »stets opferwillig und beständig.«

»Und Esther?« fragte Maßlieb plötzlich wieder befangen und von neuen Besorgnissen erfüllt.

»Von ihr sprich nicht,« antwortete Meredith dumpf, daß es Maßlieb kalt durchrieselte, »nein, nicht von ihr – wenigstens nicht in nächster Zeit. Die Verhältnisse waren stärker, als ihr und mein Wille. Sie ist verschwunden auf unerklärliche Weise. Aber sie ist eine Kabul, und wie du heute, so wird auch sie einst zur guten Stunde dahin zurückkehren, wohin sie laut heiliger Naturgesetze gehört.«

Erschüttert hatte Maßlieb die betrübende Kunde vernommen. Vor ihrem Geiste schwebten die Fährnisse, denen sie selbst ausgesetzt gewesen war und Besorgnis sprach aus ihren zu Meredith erhobenen Augen.

Diese blickte ein Weilchen sinnend aus das gute, offene Antlitz, dann bemerkte sie mit schwermütigem Ausdruck:

»Ich beklage das Verlorene; Dankbarkeit beseelt mich für das Zurückerstattete; du aber sollst nicht mehr von meiner Seite weichen. Ich will über dich wachen und mit allen Kräften dich gegen Nachstellungen verteidigen, denn ich allein besitze noch ein Recht über dich.«

Maßlieb vermochte nicht zu antworten. Es verwirrte sie, gerade da eine Welt voll Anhänglichkeit zu finden, wo sie sich verachtet glaubte. Als sie aber später, nachdem sie sich des Flitterstaates entledigt hatte, traulich neben Meredith saß, da durchströmte sie ein Gefühl süßer, friedlicher Ruhe nach vollbrachtem schwerem Tagewerk. Aufrichtig und wahr erzählte sie alles, was sie über sich selbst wußte. Nichts verschwieg sie; weder ihr Verhältnis zu dem heruntergekommenen Korpsburschen, noch ihr Zusammenleben mit dem alten Schwärmer. Mit Grauen schilderte sie ihre gewaltsame Entführung und den Aufenthalt in Mutter Sarahs scheußlicher Baracke, wohin sie durch List gelockt worden war; wehmütig erregt dagegen ihren Besuch auf dem zerfallenen Gute, dessen Besitzer seine Altertümer und Reliquien an Meredith verkauft hatte. Als sie dann endlich schloß, da legte Meredith ihre Hand schmeichelnd auf das liebliche Lockenhaupt; in ihrem ernsten, nachdenklichen Blick aber offenbarte sich das in ihrer Phantasie auftauchende Bild eines Engels mit erstarrten Gliedern und gebrochenen Augen. –

»Spurlos werden wir verschwinden,« mit diesen Worten verabschiedete Meredith sich von Maßlieb, nachdem sie sie sorglich gebettet hatte, »vollständig spurlos, um da, wo wir unsere Zuflucht suchen, gegen alle Nachstellungen gesichert zu sein. Und ein friedliches Los ist es, dem wir entgegenziehen, ein stilles zurückgezogenes Leben in ländlicher Umgebung –« sie starrte ein Weilchen ins Leere. Plötzlich zog sie aus der Tasche zwei schmale Saffianschuhe, und sie vor Maßlieb hinlegend, fuhr sie fort: »Diese Schuhe passen dir. Trage sie daher: ebenso der armen Esther Kleider. Ich glaube dann, ihr beide seid eins geworden, und das geheimnisvolle Verschwinden der letzten Kabul bohrt nicht mehr so unablässig hier,« sie berührte mit dem Finger die Stirn, worauf Maßlieb sich erhob und sie küßte. »Ja, es hat gebohrt und gebohrt,« fuhr sie fort, »und ich konnte den Gedanken nicht verbannen, daß Esther in diesen Schuhen gestanden und im Hause – doch vorbei, vorbei! Blumen wollen wir pflanzen, Gemüse bauen, aber nie wieder uns in nutzlose Grübeleien und Forschungen vertiefen. – Gute Nacht, Maßlieb! – Gute Nacht Kabul!«, sprach sie fast heiter, indem sie hastig aus der Tür trat. –

Der Morgen war nicht mehr fern. Maßlieb versuchte noch munter zu bleiben, um sich mit ihrer neuen Lage vertraut zu machen, allein sie war zu erschöpft. Wenige Minuten, und ihre Gedanken flossen ineinander zu einem einzigen undurchdringlichen Schatten süßer Bewußtlosigkeit.


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