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Einundzwanzigstes Kapitel.

Bemooster Bursche zieh ich aus!

Den ihm anvertrauten Brief hatte Kappel an Meredith nicht besorgen können. Ihre Wohnung fand er leicht genug, jedoch nur, um zu hören, daß sie seit mehreren Tagen ausgezogen sei. Wohin sie sich gewendet hatte, wußte niemand anzugeben; dagegen stellte sich bei weiteren Nachforschungen heraus, daß sie nicht mehr in der Stadt weilte. Freundlichen Trost gewährte dem alten Korpsburschen, daß ein braunlockiges junges Mädchen in ihrer Begleitung gesehen worden war; das konnte nur Maßlieb gewesen sein. Doch wo sollte er sie suchen, wie auf ihre Spuren geraten, zumal er die Mitwirkung von Zeitungen und Behörden nicht in Anspruch zu nehmen wagen durfte.

Lange war er trübselig durch die Straßen geschlichen, als er endlich nach vielem Hin- und Herfragen vor dem Hause des weisen Nathan eintraf. Enttäuscht betrachtete er das rußige Gebäude von außen, und seine Hoffnungen beschränkten sich auf das allergeringste Maß, als er auf dem düsteren Flur an der zu Nathans Wohnung führenden Klingel zog.

»Es wird gegeben gar nichts an Bettler in diesem Hause,« fuhr Nathan den heruntergekommenen Korpsburschen feindselig an, und war im Begriff, die Tür vor ihm zuzuschlagen, als Kappel durch Vorschieben seines Fußes ihn daran hinderte, zugleich aber, die Arme über die Brust verschränkt, mit spöttischer Erhabenheit ihn von seinem fettig glänzenden Käppchen bis herunter zu seinen ausgetretenen Filzschuhen betrachtete.

»Für einen Bettler halten Sie mich,« fragte er höhnisch. »Hahaha! Wer weiß, wer von uns zuerst den anderen anbettelt!«

»Wollen Sie erzwingen eine Unterstützung,« entgegnete Nathan ungeduldig, und wiederum trachtete er, den lästigen Besuch aus der Tür zu drängen, »so ist jetzt weder die Zeit noch der Ort dazu; gehen Sie in Straßen, wo Paläste sind mit galonierten Portiers, so haben Auftrag –«

»Sparen Sie Ihre Mühe,« fiel Kappel ihm ins Wort. »Nicht um Ihre Mildherzigkeit anzusprechen stehe ich hier; aber hinein zu Ihnen möcht' ich auf ein Stündchen, um über Dinge von Wichtigkeit mit Ihnen zu beraten.«

»Kenne ich doch nicht 'ne Sache, die ich könnte haben zu beraten mit 'nem Fremden,« versetzte Nathan, durch Kappels zuversichtliches Auftreten befangener, »und ist meine Zeit mir sehr viel mehr wert, als alles, so Sie nennen wichtig.«

»Auch wenn ich erschienen wäre, um Auskunft über ein junges Mädchen, vorläufig bekannt unter dem Namen Maßlieb, von Ihnen zu fordern?« fragte Kappel, förmlich entzückt über die Verwirrung, mit der Nathan ihn einige Sekunden sprachlos anstarrte.

»Maßlieb? Woher sollte ich kennen ein Mädchen mit irgend 'nem Namen, denn ich bin nur ein einfacher Geschäftsmann?« stotterte er endlich, »werden Sie doch verfehlt haben die richtige Tür –«

»Der weise Nathan ist der Mann, den ich suche,« nahm Kappel nunmehr mit drohendem Ernst das Wort, »derselbe Nathan, der dem Karussellgauner, dem Admiral Lenkhart, das Mädchen abhandelte, um es in eine Schule zu bringen, die –« »Dies ist kein Gespräch, zu führen im Freien,« lenkte Nathan bestürzt ein, und weit öffnete er die Tür, um Kappel hereinzulassen, »bemühen Sie sich daher in meine ärmliche Wohnung, und erklären Sie, was Sie wünschen, auf daß ich Ihnen mag Antwort erteilen, wie sie ist am geeignetesten und liegt im Bereich meiner Kräfte.«

Kappel drückte dem Sterbenden die Hand.

Während Nathan die Türen hinter ihm wieder verriegelte, warf Kappel sich mit ganzer Schwere auf das krachende Sofa, worauf er eine heitere Melodie zwischen den Zähnen hindurchpfiff. »Nehmen Sie Platz,« lud er spöttisch den weisen Nathan ein, als dieser befangen vor ihn hintrat, »Sie sehen, trotz meines abenteuerlichen Aufzuges bin ich nicht stolz, dagegen gern geneigt, mich freundschaftlich mit Ihnen zu verständigen.«

»Und ich bin gern geneigt, Ihnen zu gewähren eine Unterstützung nach meinen schwachen Kräften, wogegen meine Zeit –«

»Ihre Zeit mir zur Verfügung steht,« unterbrach Kappel ihn zuversichtlich; »meinen Sie es indessen mit der Unterstützung ehrlich, so werden wir auch zu einem befriedigenden Abschluß gelangen.«

Eine neue einladende Handbewegung; Nathan, von unbestimmter Besorgnis erfüllt, ließ sich auf einen Stuhl nieder, worauf Kappel fortfuhr:

»Um genau verstanden zu werden, ist es erforderlich, mit meinem Bericht weit auszuholen. Ich bitte daher um Ihre gütige Aufmerksamkeit und den besonderen Vorzug, in meinem Bericht nicht unterbrochen zu werden. Denn auch ich schätze meine Zeit hoch und möchte, bevor der Abend hereinbricht, eine endgültige Entscheidung herbeigeführt wissen. Zunächst eine Frage: Kennen Sie die bereits erwähnte junge Waise?«

»Ich kenne Sie nicht,« antwortete Nathan zögernd.

»Was veranlaßte Sie trotzdem, das Mädchen von den beiden gaunerischen Besitzern des Karussells fortlocken zu lassen?«

»Sie erwähnen Dinge, so sind mir vollkommen fremd.«

»Gut. Wußten Sie, daß es in Ihrem Hause ein Unterkommen gefunden hatte?«

»Entdecke ich doch keinen Grund, weshalb ich mich soll unterwerfen 'nem Verhör,« erwiderte Nathan scharf, »und obenein unter meinem eigenen Dache von einem Unbekannten.«

»Und dennoch fühlen Sie sich nicht frei von Besorgnis, oder Sie hätten mir nicht Ihre Tür geöffnet.«

»Weder Sie noch einen andern fürchte ich,« versetzte Nathan mit unsicherem Wesen, »am wenigsten brauche ich zu scheuen die öffentliche Wahrheit. Räume ich doch ein, daß wohnte in diesem Hause ein Mädchen bei 'nem alten Schauspieler gegen mein Wissen und Wollen, und als ich gedachte zu gebrauchen mein Hausrecht, waren beide verschwunden.«

»Sehr gut,« bemerkte Kappel mit unerschütterlicher Ruhe. »Können Sie mir angeben, wo das Mädchen sich zurzeit befindet?«

»Ich weiß von nichts, kümmere mich um nichts, so nicht steht in Beziehung zu meinen Geschäften.«

»Meine Frage war eine müßige,« entschuldigte sich Kappel mit einem sarkastischen Grinsen, »denn ich weiß, daß, nachdem Maßlieb der Pension entfloh, Sie die Ärmste aus den Augen verloren haben.«

Nathan kämpfte mit aller Macht, ein ruhiges Äußere zu bewahren. Kappel dagegen begriff seinen Vorteil, und nahm ohne Säumen das Verhör wieder auf:

»Kannten Sie jemals einen gewissen Pattern?«

Nathan prallte entsetzt zurück. Seine Züge schienen zu versteinern, indem er kaum verständlich antwortete:

»Mir fremd – ganz fremd – nein, den Namen hörte ich – allein –«

»Schon gut,« fuhr Kappel gleichmütig fort, »vielleicht entsinnen Sie sich dafür um so besser eines sehr schönen Mädchens, einer Jüdin, einer gewissen Rebekka Myer.«

»Rebekka Myer?« schrie Nathan entsetzt auf; dann aber in sich zusammenbrechend, stierte er auf seine Hände nieder, die sich krampfhaft ballten, wie um ein Leben zu vernichten.

Nach einer Pause sah er wieder empor; sein Antlitz schien keinem lebenden Menschen mehr anzugehören. Nur seine tiefliegenden Augen funkelten in unheimlichem Feuer.

»Ein schönes Mädchen war die Rebekka,« flüsterte er mit bebenden Lippen, »und die Stimme einer Nachtigall war ihr von der Natur verliehen worden, aber sie ist tot, ich entsinne mich ihrer als einer Toten, so mich angeht nichts. Sie war einst meine Tochter; von dem Augenblick an aber, in dem sie lieh ihr Ohr den Einflüsterungen eines Mannes, und verleugnete den Glauben ihrer Väter und ließ sich taufen, habe ich sie nicht mehr gekannt. Und so ihr hätte gebaut der Segen des Vaters Häuser, hat sein Fluch sie getrieben in den Tod. Das ist alles, so ich weiß selber. Woher Sie erfuhren ihr Geheimnis, es soll mich nicht kümmern; aber ich bin bereit, Ihnen entgegenzukommen und es Ihnen abzukaufen, auf daß Sie schweigen und nicht stören weiter meine Ruhe. Ich will Ihnen geben hundert Taler – und Sie gebrauchen Geld – ich will Ihnen zahlen noch mehr, wenn ich gewinne die Bürgschaft, nie wieder gemahnt zu werden an den Fluch meines Hauses, an die Schmach meiner Familie.«

»Ein anständiges Gebot,« meinte Kappel spöttisch, »allein Sie übersehen, daß ich nicht bezweckte, Geld zu erpressen – obwohl einige hundert Taler mir zustatten kämen –, sondern nur ein Einverständnis mit Ihnen zu erzielen –«

»Ich will kein Einverständnis,« kreischte Nathan, »ich verstehe mich zu nichts, erkläre alles für Lug und Trug, ersonnen und erdacht, mich zu bringen um das Meinige, so ich mühsam erwarb und ersparte in einem langen Leben –«

»Wir wollen sehen,« unterbrach Kappel ihn wieder kalt, »vor allen Dingen hören Sie mich zu Ende und dann entscheiden Sie. Aber wie auch Ihr Urteil lauten möge, die Zwecke, die mich hierherführten, erleiden dadurch keine Änderung.«

Nathan neigte das Haupt. In seiner Haltung verriet sich eine gewisse fanatische Verstocktheit, von der Kappel vorhersah, daß an ihr alle seine Pläne scheitern würden, und dennoch gab er die letzte Hoffnung nicht auf. Ein Weilchen sann er nach, dann hob er mit ruhiger Würde an:

»Fünfzehn oder sechszehn Jahre mögen es her sein, als in einem, wohl hundert Meilen weit entfernten Dorfe zwei junge Eheleute eintrafen. Sie hatten ein Kind, ein Mädchen von kaum zwei Jahren bei sich. Es war ihre Tochter, und nebenbei die einzige Gesunde der kleinen Familie. Die Mutter, eine auffallend schöne Erscheinung, vermochte zwar noch, sich aufrechtzuerhalten, der Vater dagegen befand sich in einem so trostlosen Zustande, daß sie die Reise unterbrechen und in einer Bauernhütte liegen bleiben mußten.

Fast gleichzeitig mit dieser schwer heimgesuchten Familie war ebenda aus fernen Landen ein einzelner Reisender eingekehrt. Was diesen bewog, gerade in dem abgelegenen Ort einige Tage zu rasten, ich weiß es nicht. Jedenfalls empfand er aufrichtige Teilnahme für die armen Leutchen, so daß er sich mit der jungen Frau in die Pflege des totkranken Mannes redlich teilte. Letzterer beschäftigte sich in seinen Gedanken nur mit seiner armen Frau, und um deren Zukunft einigermaßen zu sichern erteilte er dem Fremden den Auftrag, gleich nach seinem Hinscheiden mit dem noch lebenden Vater seiner Frau sich brieflich oder mündlich in Verkehr zu setzen und Gattin und Tochter seiner Fürsorge anzuempfehlen. ›Sagen Sie ihm, derjenige, um dessentwillen seine Tochter ihn verlassen habe, ruhe in seinem Grabe; das wird ihn versöhnlich stimmen,‹ so lauteten die Worte, mit denen er die dem Fremden eingehändigten und zu seiner Beglaubigung erforderlichen Papiere begleitete.

Ganz mittellos war er übrigens nicht, allein mit dem ersten Auftreten seiner Krankheit – er war Schauspieler, während seine junge Frau sich als Sängerin großen Ruf erworben hatte – versiegten ihre beiderseitigen Erwerbsquellen, viel konnte es füglich nicht mehr sein, was ihnen nach der langen und beschwerlichen Reise aus einem südlicheren Klima geblieben war.

Der Fremde, vertraut mit allen Verhältnissen, versprach sein Bestes, und gewiß in der Absicht, sein Versprechen zu halten. Daß dies trotzdem nicht geschah, lag nur in der Ungunst seiner eigenen Lage.

Mit dem innigsten Danke auf den Lippen entließ ihn auch die junge Frau, als er sich nach der Beerdigung ihres Gatten von ihr verabschiedete, allerdings überzeugt, daß auch ihre Tage gezählt seien. Die letzten Wünsche des Gatten hatte er ihr mitgeteilt, auch die ihm eingehändigten Papiere wollte er an sie abtreten, allein in Vorahnung ihres nahen Endes bat sie ihn, alles zu behalten und in der ihm geratenen Weise zu benutzen.

Doppelt schmerzlich berührte den Fremden die traurige Lage der verlassenen Frau, weil zu derselben Zeit in dem Örtchen das Kirchweihfest eröffnet worden war und zu der Sterbenden die geräuschvolle Musik herüberdrang, mit der das Drehen eines Karussells begleitet wurde. Letzteres gehörte einem Ehepaar, das durch sein überfrommes und gesittetes Auftreten den günstigsten Eindruck bei allen Dorfbewohnern hervorrief. Namentlich gefiel allgemein, daß die Frau auf die Nachricht hin, daß in dem Bauernhause eine Sterbende liege, zu dieser eilte und nicht nur ihre Dienste anbot, sondern auch gegen eine mäßige Entschädigung deren Pflege übernahm. Wie lange die junge Witwe noch lebte, erfuhr der Fremde nicht; er reiste sogar ab, ohne die Besitzer des Karussells persönlich kennen gelernt zu haben. Erst spätere Ermittelungen belehrten ihn, daß die Karusselleltern das volle Vertrauen der Sterbenden gewonnen und diese in ihrer Todesangst das Kind nebst Barschaft ihnen gegen das Versprechen übergeben hatte, es an einen bestimmten Ort zu bringen und dort auch Rechnung über die ihnen anvertrauten Gelder abzulegen.«

»Sie sind der Fremde, der sich entledigt der Aufträge eines Sterbenden nach fünfzehn Jahren so gewissenhaft?« fragte Nathan lauernd, ohne indessen in die gespannt auf ihm ruhenden Augen zu blicken.

»Nein, der bin ich nicht,« antwortete Kappel rauh, »wäre ich es, so hätten Sie schon vor fünfzehn Jahren die Genugtuung gehabt, mein ehrliches Angesicht zu bewundern. Nein, jener Fremde, dessen Name ich nicht einmal kenne, bin ich nicht; allein ein Jahr später verschlug ein launenhaftes Geschick mich zu den scheinheiligen Karusselleltern, und da befand sich ein kleines braunlockiges Mädchen bei ihnen. Ich hielt es natürlich für deren Tochter, bis endlich nach langen Jahren die Lieblosigkeit, mit der dem armen Kinde begegnet wurde, den Verdacht in mir anregte, daß eine arge Verräterei verübt worden sei.«

»Eine rührende Geschichte,« nahm der weise Nathan freier das Wort, denn er hatte hinlänglich Zeit zum Nachdenken gehabt, »in der Tat eine sehr rührende Geschichte, von der Sie schwerlich erwarten, daß ich meine Person in irgendeine Beziehung zu ihr bringe?«

Kappel sprang entrüstet empor.

»Unnatürlicher Vater!« rief er aus, und von Abscheu erfüllt hob er die Hand drohend empor; »Sie wollen mich glauben machen, daß Sie nicht längst errieten, von wem ich spreche? Wohlan, so will ich mit klaren Worten es Ihnen zurufen und sehen, ob Sie die Wahrheit ertragen, ohne schaudernd auf die Knie zu sinken und Ihr graues Haar zu zerraufen! Ja, hören Sie: Rebekka Myer hieß jene arme, verstoßene Frau; derjenige aber, dem sie als Christin angetraut worden war, jener pflichtgetreue Mann, der durch seinen Tod der armen Rebekka den ersten Kummer bereitete, er nannte sich Pattern, und Hildegard Pattern, deren Tochter, ist jene arme, verfolgte Maßlieb, ist Ihre eigene Enkelin, Ihr eigen Fleisch und Blut, an dem Sie sich schmachvoll versündigten!«

Nathan hatte sich ebenfalls erhoben. Sein Antlitz erschien blutleer; aber seine Augen leuchteten dämonisch, während wilder Fanatismus sich in dem Zucken seiner Lippen verriet.

»Sie bringen mir Kunde von jemand,« hob er mit erzwungener Ruhe an, »der sich lossagte von dem Glauben seiner Väter und damit von dem elterlichen Hause; Kunde von jemand, der durch seine Verführungskünste trennte ein Glied von meiner Familie, wofür er verflucht sein möge bis in Ewigkeit. So viel über das Ehepaar, das ein mir freundlich gesinntes Geschick davor bewahrte, mir noch einmal unter die Augen zu treten. Beide sind tot und vergessen. Und was nun? Kümmert es Sie oder einen andern, wenn feindselige Fügungen eingriffen in meine Familienverhältnisse? Kümmert es Sie, daß jemand seinem Richter verfiel, bevor er verbrecherisch ausstreckte die Hand nach den Ersparnissen eines Mannes, der keine Tochter mehr hatte?«

Kappel stand da wie erstarrt.

»Aber Maßlieb!« rief er aus, »was auch immer Sie den Eltern vorwerfen mögen, das Kind – es kann deren Schuld nicht teilen!«

»Ist jene Maßlieb mosaischen Glaubens?« fragte Nathan, und seine Entschlossenheit wuchs in demselben Maße, in dem er wähnte, daß das Zünglein sich ihm zuneige.

»Sie ist die Tochter christlicher Eltern,« versetzte Kappel verstört.

»Gut, ist sie die Tochter einer christlichen Mutter, kann sie nur führen den Namen ihres Vaters, kann sie nur heißen Maßlieb Lenkhart –«

»Eine Lüge, eine schmachvolle Lüge!« fiel Kappel entrüstet ein, »ich selbst, unter dessen Augen das Kind heranwuchs, muß das wissen. Hier,« und er breitete die von Spark empfangenen Dokumente vor sich auf den Tisch aus, so daß Nathan sie zu prüfen vermochte, »hier ist der Beweis für meine Behauptung. Hier ist der Taufschein, hier auf der anderen Seite die mit einem vor Schmerz zuckenden Vaterherzen niedergeschriebene Schilderung seines braunlockigen Töchterchens und die Bitte an dessen Großvater, Mutter und Kind nicht dem Elend anheimfallen zu lassen. Der Ärmste, er ahnte nicht, daß seine Gattin ihm so bald folgen würde.«

Nathan hatte sich über den Tisch geneigt und betrachtete aufmerksam die Papiere. Er prüfte sie länger, als für seinen scharfen Verstand notwendig war, um Zeit zu seinen Entschlüssen zu gewinnen.

Für Kappel verrannen bange Minuten. Noch immer hoffte er, daß in der Brust des fanatischen Greises mildere Regungen den Sieg davontragen würden. Das biedere, bemooste Haupt, er ahnte nicht, daß er in der Person des greisen, scheinbar an talmudische Satzungen sich anklammernden Juden eine jener scheußlichen Hyänen vor sich sah, deren Gemüter bei dem ununterbrochenen Zerfleischen und Zerlegen arglos vertrauender Opfer allmählich verhärteten, daß sie schließlich sogar beim Klange des Goldes gegen ihre eigenen Angehörigen wüten.

»Diese Dokumente schließen jeden Zweifel aus,« bemerkte Nathan endlich spöttelnd, indem er die mit Blut unterlaufenen Augen lauernd auf Kappel richtete, »die von Ihnen genannten Personen sind in der Tat die Eltern eines Kindes – ich erkenne sogar diese Handschrift – allein Ihre näheren Angaben – ei, ei, 's gibt gar viele braunlockige Töchter, und ich müßte so einfältig sein, wie Sie glauben, wollte ich auf Ihre Angaben hin mein hohes Alter belasten mit Sorgen um 'nen Sprößling von jenen Karusselleuten. Und dennoch, ich bin ein alter Mann und liebe reinen Tisch in meinen Geschäften; wollen Sie mir verkaufen diese Papiere –«

»Nimmermehr!« rief Kappel aus, und fast ebenso schnell verschwanden die Schriftstücke in seiner Tasche, und in der Erregung jede Vorsicht außer acht lassend, fuhr er heftiger fort: »Diese Dokumente sind ein Vermögen wert, nicht für mich, sondern für jemand, der ein heiliges Anrecht an sie besitzt; sie sind es wert, weil sie der Gerichtsbarkeit die Mittel bieten, für die verfolgte Unschuld einzutreten und deren Ansprüche geltend zu machen – und darum, ja darum sind sie mir um keinen Preis feil!«

Je leidenschaftlicher der empörte alte Korpsbursche wurde, um so mehr befestigte sich Nathans Hoffnung, als Sieger aus dem Kampfe hervorzugehen.

»Wollen Sie mir nicht verkaufen die Dokumente,« bemerkte er lächelnd, während unversöhnlicher Haß aus seinen Augen sprühte, »so behalten Sie sie immerhin; was Sie beweisen gebe ich gern zu; was Sie dagegen nicht beweisen, nämlich, daß das überlebende Kind die Tochter jener Rebekka ist, das anzuerkennen, vermag kein Gericht mich zu zwingen, weil alles auf Fälschung beruht. Wäre dieses Mädchen aber wirklich eine Frucht des von meinem Stamme losgerissenen, entarteten Sprößlings, wer wollte mich zwingen, anzuerkennen eine im Landstreicherleben herangewachsene, in verrufenen Häusern zur Reife gelangte Person als meine Erbin? Hahaha!« und schauerlich hallte das teuflische Lachen durch die dumpfigen Räume, »gehen Sie und tun Sie, was Ihnen beliebt; ich hindere Sie nicht, ebensowenig, wie ich selbst mich hindern lasse, zu handeln nach meinem Wohlgefallen.«

Kappel starrte ratlos auf den dämonischen Greis.

»Sie beabsichtigen, das Mädchen zu verleugnen, was durch die Bande des Blutes zu Ihnen gehört?« brachen seine Empfindungen sich gleich darauf wieder Bahn, »dabei übersehen Sie aber eins, nämlich daß die Lenkharts zunächst wegen Unterschlagung, Kinderraub und Menschenhandel zur Rechenschaft gezogen werden, was nicht ohne üble Nachwirkung auf Sie selber bleiben dürfte.«

»Handeln Sie nach Ihrem Ermessen,« versetzte Nathan höhnisch, »wird mir zugesprochen die Sorge für eine Person, werde ich sie unterbringen, wie's mir gefällt und im Einklang steht mit ihrer Vergangenheit; und so ich die Bedingung stelle, daß sie übertrete zum mosaischen Glauben, hat niemand zu erheben Einwendungen; am allerwenigsten kann jemand mir wehren, anzulegen meine Ersparnisse so, daß keinem andern zugute komme ein Pfennig.«

Kappel sah ein, daß er zu weit gegangen war. Sinnend schaute er vor sich nieder. Er erinnerte sich Sparks Warnung und vergegenwärtigte sich den Eindruck auf Maßlieb, wenn sie von ihrem eigenen Großvater öffentlich als eine Betrügerin zurückgestoßen würde. Einen letzten Ausweg meinte er zu entdecken, und ebenso schnell war er bereit, ihn einzuschlagen.

»Versuchen wir, uns in Güte zu einigen,« hob er an, indem er wieder Platz nahm, »und dazu gehört vor allen Dingen, daß wir uns gegenseitig mit offenem Vertrauen begegnen. Gern räume ich ein, daß ich durch meine Anhänglichkeit an Maßlieb mich zu weit fortreißen ließ. Und mehr noch: Wie ich den Charakter Maßliebs kenne, müssen wir ebensowohl vermeiden, die Sache in die Öffentlichkeit zu tragen, wie das Kind selber den gefährlichen Eindrücken einer ihr Gemüt beängstigenden Begegnung auszusetzen. An Ihr Herz richte ich daher meine Worte, indem ich Sie bitte, Ihrer Enkelin wenigstens insoweit eingedenk zu sein, daß Sie deren Zukunft zu einer sorgenfreien gestalten und ihr Gelegenheit und Mittel verschaffen, sich eine ihrem Äußeren wie ihren geistigen Fähigkeiten entsprechende Ausbildung anzueignen.«

Solange der alte Korpsbursche mit wahrhaft rührendem Eifer sprach, schaute Nathan grübelnd vor sich nieder. Die Röte, die in seinem scharfen Gesicht aufstieg, deutete der ehrliche Kappel in der günstigsten Weise, und mit neuerwachender Hoffnung sah er einer Rückäußerung Nathans entgegen.

»Wer wäre nicht zugänglicher für die Worte des Friedens, als für Drohungen?« versetzte dieser endlich, Kappel die Hand reichend, »und bin ich doch der Mann, zu achten und zu ehren Ihre Gesinnungen. Wenn ich aber geneigt bin, einzugehen auf Ihren Vorschlag, wäre da nicht dennoch ein Irrtum möglich, daß ich schenkte meine Teilnahme der Tochter von Karusselleuten? Darum müßt ich das Kind erst sehen, bevor ich mich entscheide. Vielleicht haben Sie die Güte, mir zu verschaffen die Gelegenheit –«

»Hätte ich gewußt, wo die Ärmste zurzeit weilt, meinen Sie, ich wäre anders, als in deren Begleitung vor Sie hingetreten?« fragte Kappel einfallend.

»Sie ahnen nicht, wohin sie entfloh?« fragte Nathan mit sichtbarer Spannung.

»Die ganze Stadt durchforschte ich nach ihr,« erklärte Kappel bereitwillig, »um das teure Kind Ihnen zuzuführen, allein mein guter Wille scheiterte an der Unmöglichkeit. Die Erfolge meiner Mühen beschränken sich auf die Kunde, daß sie wahrscheinlich in Begleitung einer älteren Dame die Stadt verlassen habe. Besäße ich nur einige Mittel, ich bin überzeugt, es gelänge mir, Maßliebs Spuren auszukundschaften;« er brach ab und ängstlich spähte er in Nathans Antlitz nach einem Zeichen, das auf das Verständnis der ihm nahe gelegten Bitte um die entsprechende Unterstützung hindeutete.

Doch Nathan blieb unempfindlich. Grübelnd sah er wieder vor sich nieder.

»Ich bin ein Geschäftsmann,« begann er endlich zögernd, »und als solcher hänge ich an bestimmten Formen mit ganzer Seele. Bevor ich also fasse einen endgültigen Entschluß, will ich Ihre junge Freundin sehen. Stellen Sie sie mir vor, aber wohl verstanden: nur als Maßlieb; nicht als die Tochter von Eltern, die ich strich aus meinem Gedächtnis, und dann wollen wir weiter beraten.«

»Sie selber beteiligen sich nicht an den Forschungen?« fragte Kappel plötzlich kleinmütig.

»Ich kann nicht, darf es nicht,« entschied Nathan mit einem tiefen Seufzer, indem er sich erhob und dadurch Kappel das Zeichen zum Aufbruch gab, ich darf nicht vergiften meinen Lebensabend –«

»Genug!« fuhr Kappel auf, denn nunmehr war der Bann gebrochen, unter dem er sich während des letzten Teiles seines Gesprächs mit Nathan befunden hatte. Er begriff, daß alle seine Mühe vergeblich gewesen war, und durch fernere Nachgiebigkeit nichts mehr gewonnen, durch Drohungen nichts mehr verdorben werden könne, »ja, mehr als genug! Ihr Hohnlächeln verstehe ich wohl: Bei dem ewigen Geldzählen ist Ihre Seele für alle milderen Regungen abgestorben; lächerlich erscheinen Ihnen die redlichen Anstrengungen eines Mannes, der außer dem Rock auf seinen Schultern kein anderes Eigentum besitzt. Sie hohnlächeln, weil ich offenherzig einräumte, daß ich, aus Schonung für die arme Waise, nie zu den Gerichten meine Zuflucht nehmen würde! Nun ja, den Gerichtshöfen will ich fern bleiben. Dagegen sollen Sie erfahren, was ein Mann mit ernstem Willen auch ohne glänzende Mittel vermag. Ich werde die Welt durchstreifen; von Haus zu Haus werde ich gehen und jeden Menschen nach der Waise, nach dem freundlichen Kinde fragen, an das sich meine Seele hing. Und wenn ich den Anstrengungen, wohl gar dem Elend erliege, nun, dann wird sich wohl jemand finden, der meine Erbschaft antritt und vielleicht mit besserem Erfolge arbeitet. Denn nicht alle Menschen sind Wölfe, die im erbitterten Kampfe sich gegenseitig anfallen, nicht alle Menschen sind Hyänen, die feige ihre Raubgier an wehrlosen Geschöpfen befriedigen, leichenschänderisch selbst den Toten ihre Ruhe nicht gönnen,« und stolz richtete der heruntergekommene Korpsbursche sich empor, und bewegter klang seine Stimme, »aber ich weiß, ein gutes Geschick wird meine Schritte lenken, ein höherer Wille meine Mühen lohnen. Und wenn ich sie fand, die Verstoßene, dann werde ich wieder auf diese Schwelle treten, und Sie an das heute mir gegebene Wort erinnern. Wehe Ihnen aber, wenn Sie es verleugnen, und sich feige hinter die Satzungen Ihres Glaubensbekenntnisses zurückziehen, mit dem heiligen Namen Gottes freventlich Ihre Schmach zu verdecken suchen.« – –

Kappel hatte das Zimmer Nathans stolzen Schrittes verlassen, nun er aber unten, in der Haustür stand, folgte seiner heftigen Erregung die natürliche Abspannung. Mißmutig griff er in die Tasche, in der einige wenige Groschen klirrten; mißmutig betrachtete er die Ärmel seines fadenscheinigen Überrockes und die bereits von der Vergänglichkeit alles Irdischen zeugenden Stiefel. Sein Wille war derselbe unerschütterliche geblieben, allein das »Wie« trat wie ein drohendes Gespenst vor seine Seele, und unwillkürlich faltete er die Hände.

»Lieber Gott,« betete er halblaut, unbekümmert um die Vorübergehenden, »laß mich hinter einem Zaune sterben, wenn es dir genehm ist; willst du indessen meine einzige Bitte erhören – und ich habe dich ja in meinem Leben selten genug belästigt –, so laß mich nicht von dieser Erde scheiden, ohne dem armen, unschuldigen Kinde den Weg zu seinem Recht gezeigt zu haben!«

Schüchtern legte eine Hand sich auf seinen Arm, und als er sich umkehrte, sah er in das schwermütig lächelnde Antlitz des greisen Komödianten.

»Sieh da, sieh da, Timotheus!« rief er jubelnd aus, den alten Mann mit beiden Händen an den Schultern ergreifend, »woran ich in meiner Not am wenigsten dachte, das führt ein gutes Glück mir zu.«

»Sie suchten mich?« fragte Schwärmer, offenbar befremdet über Kappels aufgeregtes Wesen.

»Und ich fand Sie!« gab dieser lachend zu, »ja, ich fand Sie, wenn auch ungesucht; denn Sie treffen mich auf dem Wege zu Maßlieb, wo auch immer sie weilen mag. Kommen Sie, kommen Sie,« fuhr er fort, den Arm des alten Mannes unter den seinigen ziehend, »Sie stehen im Begriff, Kunstvorstellungen zu geben, und da mögen wir gleich erproben, wie sich's mit vereinten Kräften arbeitet. Frei ist der Bursch! Heute abend noch einige Gastrollen, und: morgen muß ich fort von hier!« sang er lustig in das sich verdichtende Zwielicht hinaus, den willig folgenden Schwärmer mit sich ziehend. »Überall bin ich zu Hause! Ein Winkelchen in Ihrer Wohnung für die letzte Nacht! Federleicht ist mein Gepäcke! Schmollis! Fiducit! Und denken Sie morgen früh ebenso wie ich, nun, dann für uns beide: Bemooster Bursche zieh' ich aus, Ade!« sang er wieder so lustig, daß Schwärmer besorgt zu dem wunderlichen Genossen emporschaute. Als dieser aber zu erzählen begann, halb lachend, halb weinend seine jüngsten Erlebnisse schilderte und seine Pläne und Vorschläge offenbarte, da entzündete sich in der alten Komödiantenbrust neue Lebenswärme, und aufmerksamer hatte er kaum jemals die Lieder Maßliebs begleitet, als heute, da es galt, der noch immer leidlichen Stimme des heruntergekommenen Korpsburschen erhöhten Ausdruck zu verleihen. –

Nach Mitternacht erst und überaus zufrieden mit ihren Erfolgen kehrten die beiden Genossen in Schwärmers Wohnung zurück. An Schlaf dachten sie nicht viel; dagegen kramten sie eifrig zwischen ihren Habseligkeiten, die sich allerdings aus das wenigste beschränkten. Als aber der Morgen graute, da schlüpften sie wohlgemut auf die Straße hinaus. Federleicht war ihr Gepäck: Ein alter Jagdranzen, ein schäbiger Tornister und die Gitarre in ihrem grünen Friesüberzuge, dazu in anstandsvoll gedämpftem Tone:

»Bemooster Bursche zieh' ich aus, Ade!«


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