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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Die Wanderung aufs Land.

Vier Nächte war Gerhard, geführt von David, gewandert, und drei Tage hatte er in den Schlupfwinkeln der Farbigen gerastet. Denn wie die aus dem Kriege hervorgegangenen heimlichen Feinde der Ordnung und zu gräßlichen Taten Verschworenen, so wußten sich auch diejenigen zu finden, die aus der Sklaverei den Haß gegen ihre früheren Gebieter mit in die Freiheit hinübergenommen hatten, dagegen, ähnlich den vertriebenen Bewohnern eines zerstörten Wespennestes, die Verbindung mit der alten Heimat nicht ganz aufzugeben vermochten. Wie mit Ketten festgeschmiedet, weilten sie in der Nähe der Stätten, auf welchen, wenn auch als verkäufliche Ware, sie die einzige sorglose Zeit ihres Lebens, die Tage der Kindheit verlebten, oder einen ihren Rasseneigentümlichkeiten entsprechenden Liebesfrühling feierten. Aus den unterwürfigen Sklaven, welche das Selbstvertrauen nicht besaßen, Arbeit suchend sich den nördlichen Distrikten zuzuwenden, waren zum Teil Müßiggänger geworden, welche sich berechtigt hielten, für die langen Jahre der Sklaverei, für den Verkauf von Geschwistern, Gatten und Kindern sich an dem Eigentum ihrer früheren Herren schadlos zu halten. Sie bildeten eine Art von Raubbanden, gefährlich denjenigen, die sie für Feinde hielten, hingegen gern zu jeglichem Beistande bereit, wo sie vom Zufall mit Gesinnungsgenossen, gleichviel welcher Farbe, zusammengeführt wurden.

So erreichte Gerhard endlich ein Landstädtchen, in dem Ellenborough gesehen worden sein sollte – Genaueres auszukundschaften war David nicht geglückt – und von wo aus er hoffte, seine Reise ungefährdet auf Eisenbahnen und Dampfschiffen nördlich fortsetzen zu können.

In einem unscheinbaren Kosthause war er eingekehrt und hatte seit mehreren Tagen bereits die Stadt selbst wie deren Umgebung mühsam durchforscht, ohne auf die leiseste Spur des Gesuchten zu stoßen.

Der Abend näherte sich und mutlos wandelte er durch die Straßen, als ein leichter Wagen, bespannt mit einem Pferde, seine Aufmerksamkeit fesselte. Ein dem Knabenalter noch nicht entwachsener Bursche saß auf der Kutscherbank und hielt Zügel und Peitsche. Gerhard mochte noch hundert Schritte weit von ihm entfernt sein, als aus dem nächsten Hause eine schwarzgekleidete Dame auf die Straße trat, um die eben erstandenen Waren zu dem Kutscher auf die Bank zu legen. Kaum aber hatte er die Fremde erblickt, als er, wie vom Blitz getroffen, stehen blieb und starr zu ihr hinüberschaute.

»Esther!« entwand es sich seinen Lippen; ihm fehlte die Kraft, der Mut, laut zu rufen. Es erfüllte ihn die Besorgnis, die ihm so vertraute Erscheinung vor seinen Blicken zerrinnen, sich bei der nächsten Bewegung in eine Unbekannte verwandeln zu sehen. Erst als sie im Begriffe war, das Gefährt zu besteigen, kehrte sie ihm ihr Antlitz zu; es war in der Tat das Antlitz seiner geliebten Esther, jedoch abgehärmt und bleich.

Wiederum wollte er rufen, aber gleichsam erstickt unter der Wucht der auf ihn einstürmenden Empfindungen versagte ihm die Stimme. Nur seine Arme vermochte er auszustrecken, dann blieb er wieder wie von Todeskälte durchschauert stehen. Seine Esther war es wohl, deren Blicke einige Sekunden fest, jedoch mit ersterbendem Ausdruck auf ihm ruhten, seine Esther, deren Hand den zum Ersteigen des Gefährtes dienenden Griff verfehlte, daß sie mit schwankender Bewegung einen Schritt zurücktrat, und doch war sie es nicht. Denn sie, mit der er so unzählige Male heiße Schwüre ewiger Liebe und Treue austauschte, die ihm angelobte, unter allen Verhältnissen und in allen Lebenslagen nur ihm angehören zu wollen, sie hätte bei seinem Anblick nicht den schwarzen Schleier niedergezogen, hätte nach langer Trennung nicht mit so viel Sicherheit den Wagen bestiegen, nicht gleichmütig sich von ihm abgekehrt und auf der Bank Platz genommen, nicht so hastig dem jugendlichen Kutscher einige Worte zugeraunt, auf welche dieser heftig auf das zusammenschreckende Pferd einhieb, daß es in eine Gangart verfiel, welche jeden Gedanken an Einholen für einen Fußgänger vollständig ausschloß. Nein, seine Esther hätte es nicht über sich gewonnen, ihm auch hier auszuweichen, nicht widerstanden, als er sie laut bei Namen rief, als sie wohl gar das Geräusch seiner schnellen Schritte vernahm, indem er ihr nacheilte! Sie hätte dem Burschen die Zügel entrissen und selbst das Pferd zum Stehen gebracht! Sie hätte ihm die Arme entgegengebreitet, um ihn an ihr Herz zu ziehen, an seiner Brust auszuweinen allen Gram über die lange Trennung, ihm zu danken unter Tränen, daß er sich durch keine Hindernisse, weder durch Entfernungen noch durch Gefahren hatte zurückhalten lassen, ihren Spuren zu folgen, bis er sie endlich wieder in seinen Armen hielt, ihr in die lieben treuen Augen schaute, welche sonst nur gewohnt gewesen, ihm heiter zuzulächeln.

Nein, seine Esther war es nicht; das sagte er sich, als er, wie vom Donner gerührt, atemlos dem enteilenden Fuhrwerk nachspähte. Und dennoch: Weshalb schien die aufrechte Gestalt, nachdem sie sich eine Strecke entfernt hatte, plötzlich zusammenzubrechen, weshalb – er glaubte es deutlich zu erkennen – neigte sie ihr Haupt und schob sie von der Seite ein weißes Tuch unter ihren Schleier?

Wie erstarrt blickte Gerhard dem Wagen nach, bis er bei einer Biegung des Weges hinter Baum und Strauch verschwand. Er betrachtete die von den Rädern erzeugte Staubwolke, welche noch lange nachher die von dem leichten Fuhrwerk eingeschlagene Richtung bezeichnete. Menschen kamen und gingen; er achtete ihrer nicht. Von dem staubigen Wege schweiften seine Blicke nach der Tür hinüber, aus der die rätselhafte Gestalt ins Freie getreten war, und in der nächsten Minute stand er vor dem Eigentümer des Ladens.

»Eine junge Dame verließ eben dieses Haus«, fragte er befangen, »kann ich durch Eure Güte deren Namen und Wohnort erfahren?«

Der Amerikaner betrachtete Gerhard, in welchem er sofort einen Deutschen erkannte, mit sichtbarem Unwillen vom Kopf bis zu den Füßen. Die den Sitten des den Damen eine Ausnahmestellung einräumenden Landes so wenig entsprechende Frage hatte seinen Grimm aufgestachelt.

»Viele Damen besuchen mein Geschäft,« antwortete er mit zurückweisender Kälte, »und ebensoviele gehen wieder, ohne daß es mir einfiele, an eine derselben Fragen zu richten, welche kaum mit dem Anstand eines Gentleman vereinbar.«

»Eine Verwandte glaubte ich zu erkennen«, stotterte Gerhard bestürzt, indem er sich der Tür wieder zu bewegte, »am wenigsten ahnte ich, durch mein Eindringen Ärgernis zu erregen.«

»Nun, so gilt meine Lehre für die Zukunft«, versetzte der Amerikaner spöttisch, dann noch einen Blick in Gerhards Augen und er wandte sich einem andern Kunden zu.

Niedergedrückt und mit einem schmerzlichen Gefühl trostloser Vereinsamung trat Gerhard auf die Straße hinaus. Der durch die Wagenräder emporgewirbelte Staub hatte sich gesenkt. Rötliche Beleuchtung lagerte in der Atmosphäre, auf Wald und Flur und auf den von der niedrigstehenden Sonne gestreiften Dächern. Ein Weilchen sann Gerhard über die eben erlebte Szene nach; dann kehrte er sich der Richtung zu, in welcher der Wagen davongerollt war.

Langsam und die Augen auf die staubige Straße gesenkt, verfolgte er dann denselben, mechanisch die Spuren der Schraubenköpfe zählend, die der eine Radreifen des Wagens in dem nachgiebigen Erdreich ausgeprägt hatte. Jedesmal die achte Schraube fehlte, denn statt der durch den Kopf geschaffenen Vertiefung bemerkte er ein Hügelchen, erzeugt durch die leere Öffnung in dem Reifen.

Sieben Vertiefungen und dann wieder ein Hügelchen, und so ging es fort und fort, bald im Schatten hoher Waldbäume, bald zwischen den landesüblichen Einfriedigungen hin, welche die Saatfelder gegen die Eingriffe des Viehes schützten. Weiter und weiter, sieben Vertiefungen und ein Hügelchen, und neben der unverkennbaren Fährte hin schritt Gerhard grübelnd und zählend die in regelmäßigen Zwischenräumen aufeinanderfolgenden Abzeichen in dem Geleise. Wohin die Spuren ihn führten, es kümmerte ihn nicht, nicht, wie weit er sich vom Städtchen entfernte. Vor seinen geistigen Blicken schwebte eine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt, schwebte ein bleiches Antlitz mit teuren, vertrauten Zügen, ein Rätsel, dessen Lösung ihm einen Himmel reinsten Liebesglücks, aber auch einen Abgrund endloser Seelenqualen, eines verfehlten Erdendaseins bringen konnte.

Sieben Vertiefungen und ein winziges Hügelchen! Immer weiter und weiter! Im Städtchen hatten die Spuren ihren Anfang genommen; auf irgendeinem Punkte mußten sie ihr Ende erreichen, und hätten sie den Kontinent in seiner ganzen Länge durchschnitten. Weiter und weiter, durch Haine, deren schlummerndes Echo nicht mehr kannte das Niedersausen scharfer Peitschenhiebe auf zuckendes Fleisch und farbige Haut; über Gefilde, welche prangend im lieblichen Schmuck grünender Saaten, verständlich erzählten von der Betriebsamkeit freier Arbeiter. Abendlicher Duft verschleierte die Fernsichten, umlagerte rosig die zerstreuten Farmen. In süßen Tönen klagte der prächtig gefiederte Kardinal, seine einfachen melancholischen Melodien wiederholte sanft die gesangsreiche Spottdrossel. Holder Friede überall, zum Chorgesang der Laubfrösche gesellte sich munter das Zirpen und Rasseln lebenslustiger Heimchen und großmäuliger Lokustgrillen, diese prahlerisch thronend aus einem hochgetragenen Baumblatt, jene eifersüchtig bewachend den Eingang zu ihrer mühsam geschaufelten Erdhöhle. Nicht mehr die wunderlich geschlitzten Blätter riesenhafter Bananenstauden und malerisch gewölbte Palmenwedel wiegten sich leise im kaum wahrnehmbaren Abendhauch, sondern flüsternd zog es durch die stolzen Wipfel der Eichen und Hickorybäume, flüsternd als hätte die sanfte Luftströmung ihnen liebliche Träume zugeführt von fernen Waldungen und fremdartigen, dicht ineinander verschlungenen Formen, hervorgerufen aus feuchtem, schwarzem Erdreich von einer exotischen Sonne.

Sieben Vertiefungen und dann wieder ein Hügelchen! Immer weiter und weiter!

Gerhard hörte nicht das Feiern der kleinen Tierwelt, nicht den Gesang der Spottdrossel und des Kardinals, sah nicht den rosigen Abendduft, nicht die lieblichen Schattierungen einer üppigen Vegetation. Die Blicke festgebannt auf die Radspur, wandelte er neben ihr einher. Sieben Vertiefungen und ein Hügelchen bezeichneten jedesmal eine Drehung des Rades, welches, gemeinschaftlich mit drei anderen, jene geheimnisvolle Gestalt davongetragen hatte, jenes Rätsel, von dessen Lösung – er fühlte es deutlicher, denn jemals – sein ganzes Lebensglück abhing. –

Eine Stunde und darüber war er gewandert, die Sonne berührte bereits den oberen Rand der westlichen Waldung, als die Spuren von der Landstraße in einen schmaleren Seitenweg einbogen, der zwischen zwei Einfriedigungen einherlief und zur Vermittelung des Verkehrs zwischen den abgelegenen Farmen und der Stadt diente. Noch heute an sein Ziel zu gelangen, hatte Gerhard längst aufgegeben, denn höchstens eine Viertelstunde dauerte noch die volle Wirkung der scheidenden Sonne; allein jeden neuen Schritt betrachtete er als einen Gewinn, welcher ihm am folgenden Tage die Fortsetzung seiner Forschungen erleichterte, namentlich ihn über die innezuhaltende Richtung belehrte.

Auf einem neuen Kreuzweg überzeugte Gerhard sich, daß der Wagen nicht abgebogen war. Dann aber, nachdem die Sonne gänzlich in die ferne Waldung hinabgetaucht war und das rötliche Zwielicht sich schnell zur grauen Dämmerung verdichtete, erreichte sein Spüren ein Ende. Denn ob die von dem feurigen Westen ausgehenden Strahlen sich bis zum Zenit hinauf ausdehnten, violette und rosenfarbige Wolkenschäfchen der Atmosphäre einen gewissen Grad von Helligkeit verliehen: nahe dem Erdboden verschwamm alles ineinander. Kaum daß der staubige Fahrweg sich von seiner Raseneinfassung unterschied.

Ein Wagen kam von der Stadt herbeigerasselt. Bestürzt blieb Gerhard stehen. Er hoffte durch freundliche Vorstellungen Schonung für das gekennzeichnete Geleise zu erwirken. Doch wer hätte eines Fremdlings Bitten Gehör geschenkt, welche mindestens als eine spöttische Zumutung erschienen, zumal Leuten, die bei einem kräftigen Trunk sich verspäteten und das Versäumte durch erhöhte Eile einzuholen trachteten? Und beim Glase hatten sie sich verspätet, das bewiesen die drei oder vier Männer, welche auf dem polternden Farmerwagen saßen, jauchzend eine tolle Negermelodie in den stillen Abend hinaussangen, mit Peitschengeknall und gellendem Hurrah vorüberrollten und im Übermut dem einsamen Fußgänger eine glückliche Fahrt wünschten. Mit feindseligen Empfindungen blickte Gerhard dem Wagen nach. Hielten seine Räder doch so vorzüglich die Geleise. Die letzten Spuren der sieben Vertiefungen und des Hügelchens mußten vernichtet werden, und wer konnte wissen, wie lange es dauerte, bis jener Einspänner wieder einmal zur Stadt fuhr, und ob dann die dem Radreifen fehlende Schraube nicht längst ersetzt war!

Ein Landhäuschen lag seitwärts vom Wege. Schon aus der Ferne war ihm beim scheidenden Tageslicht aufgefallen, wie es aus einer Obstbaumpflanzung so freundlich weiß über die angrenzenden Felder hinausschaute. Ein Vorgarten trennte es von der Landstraße. Ein kleines Stallgebäude schob sich nach hinten in den Obstgarten hinein.

Gerhard wollte umkehren, als er einen Mann in der Haustür entdeckte, der an den Türpfosten lehnend, nach vollbrachtem Tagewerk zu rasten schien. Nur zwei Fenster auf der einen Seite der Tür waren erleuchtet. Transparente Vorhänge, geschmückt mit grellfarbigen Blumenguirlanden, verhinderten einen Einblick in das Zimmer. Deutlich aber gewahrte Gerhard von der Straße aus, wie ein Schatten sich zwischen Lampe und Vorhängen ab und zu bewegte. Er erkannte sogar eine weibliche Gestalt, schenkte ihr indessen keine größere Aufmerksamkeit, zumal deren Schatten auf den Vorhängen den wunderlichsten Verwandlungen unterworfen war.

Müde trat er an den Gartenzaun, und sandte einen höflichen Gruß zu dem Manne in der Tür hinüber.

Dieser dankte eben so höflich. Hätte Gerhard aber genauer auf den Schatten in dem Zimmer geachtet, so wäre ihm schwerlich entgangen, wie derselbe beim ersten Ton seiner Stimme sich plötzlich verlängerte, darauf verschwand, endlich wieder, jedoch nur in der unteren Ecke des Vorhanges, zum Vorschein kam und sich regungslos verhielt, als ob jemand neben dem Fenster Platz genommen und sein Haupt sinnend auf die Hände gestützt habe.

»Kann ich durch Eure Güte erfahren, ob vor etwa einer Stunde ein einspänniger Wagen mit einer schwarzgekleideten Dame hier vorüberkam?« fragte Gerhard zaghaft, denn er gedachte der schnöden Abfertigung, welche ihm in dem Laden zuteil geworden war.

»Wer möchte auf alle Wagen achten, die im Laufe des Tages diese Landstraße befahren?« hieß es zögernd zurück.

»Vor höchstens einer Stunde,« wiederholte Gerhard, aufs neue enttäuscht, und von ungefähr hafteten seine Blicke auf dem Schatten, welcher sich noch verkleinert hatte und das Bild einer tief über ihre Handarbeit geneigten Hausfrau vor seine Seele rief.

»Ich wüßte nicht, daß ich ihn gesehen hätte,« lautete die mit einem Ausdruck von Ungeduld erteilte Antwort.

»Wohnt vielleicht in der Nachbarschaft ein Mann namens Ellenborough?« forschte Gerhard höflich weiter.

Der Mann in der Haustür schien nachzusinnen, denn wohl eine Minute verrann, bevor er rauh erwiderte:

»Ich hätte viel zu tun, wollte ich mit allen Menschen, die hier herum sich niederlassen, in näheren Verkehr treten. Ellenborough? Hm, der Name ist mir fremd; doch der Zufall führt zuweilen Leute zusammen. Schon morgen mag er mir begegnen; und wenn ich dann wüßte, woher Ihr kommt und was Ihr von ihm wünscht –«

»Mein Anliegen ist nicht mit zwei Worten erledigt«, fiel Gerhard vorsichtig ein, »aber solltet Ihr ihn zufällig sehen, so würde genügen, wenn er erführe, daß jemand aus Europa dringend wünsche, ihn zu sprechen – Ihr könntet hinzufügen, in Familienangelegenheiten, und daß er in der Stadt in dem deutschen Kosthause Wohnung genommen habe. Noch eine Frage erlaubt mir: Der Name Kabel, ist er Euch bekannt?«

»Kabel?« fuhr der Mann in der Haustür heftig auf, »und Familienangelegenheiten? Was habe ich mit einem Kabel oder sonstigen Fremden zu schaffen? Weder einen Kabel kenne ich, noch einen Ellenborough. Forscht Ihr aber nach diesen, so handelt Ihr weiser, es am hellen Tage von der Stadt aus zu tun, anstatt die Leute zur Nachtzeit zu belästigen.«

Gerhard legte seinen Arm um der Geliebten Hals.

»So verzeiht,« entschuldigte sich Gerhard, nunmehr vollständig eingeschüchtert, und er wendete sich, um zu gehen, als seine Blicke wieder die erleuchteten Fenster streiften. Der Schatten hatte sich aufgerichtet und schien in den Vorgarten hinauszulauschen, wie sich werdend an der unfreundlichen Kürze, mit welcher er von der Tür fortgewiesen wurde.

»Gute Nacht!« rief er rückwärts.

»Glückliche Reise!« tönte es ihm mit einem spöttischen Ausdruck nach.–

»Ein wunderlicher Menschenschlag in diesem Lande«, seufzte Gerhard, indem er langsam den Weg nach der Stadt verfolgte, »überall wittert man Nebenabsichten; überall werde ich mit Mißtrauen begrüßt und argwöhnisch zurückgestoßen.«

Schwerer legte es sich auf sein Gemüt. Der Gefahren, seitdem er denselben entronnen zu sein meinte, gedachte er kaum noch; allein sein letzter Jugendmut drohte zu brechen angesichts der zahlreichen Hindernisse, die sich fast mit jedem neuen Tage unübersteiglicher vor ihm auftürmten.

Den vierten Teil seines Weges hatte er zurückgelegt, als er hinter sich den scharfen Trab eines Pferdes vernahm und bald darauf ein Reiter an ihm vorbeisprengte. Derselbe schien sehr große Eile zu haben und kaum vor sich auf den Weg, noch weniger auf einen einzelnen Fußgänger zu achten. Selbst am hellen Tage hätte Gerhard schwerlich in dem Manne mit dem finstern, wachsbleichen Antlitz den Generalbevollmächtigten der Kolonien wiedererkannt, wie derselbe seit der flüchtigen Begegnung in den Räumen der Zentrifugalbank seinem Gedächtnis vorschwebte. Er ritt dasselbe Pferd, welches vor wenig mehr als einer Stunde den Wagen zog, dessen Rad abwechselnd die sieben Vertiefungen und das Hügelchen in dem Straßenstaube ausprägte.

Bevor Gerhard die Stadt erreichte – zehn Minuten Weges mochten ihn noch von den ersten Häusern trennen –, kam derselbe Reiter ihm wieder entgegen. Er ließ sein Pferd langsam gehen, als hätte er, von Besorgnis für einen Kranken zur Stadt getrieben, nach einem Besuche beim Arzte beruhigter den Heimweg angetreten. Das Haupt hatte er auf die Brust geneigt, wie jemand, der im Geiste weilt vor in weiter Vergangenheit ruhenden Ereignissen, vor mit Blumen geschmückten Gräbern und einem leeren Sarge. Bei demselben Kaufmanne war er gewesen, durch welchen Gerhard die herbe Zurechtweisung erfuhr. Nach kurzer Beratung mit ihm hatte er einen Brief geschrieben, welchen jener noch in derselben Nacht durch einen expressen zuverlässigen Boten pünktlich an seine Adresse abzusenden versprach. Dann war er ohne Säumen wieder aufgebrochen. Die Beruhigung aber, welche er von seinem Verfahren erhoffte, sie blieb ihm fern. Vergeblich wiederholte er in Gedanken die Worte des Briefes, welche darauf berechnet waren, jene weit zurückliegende Vergangenheit, von welcher er meinte, daß Gerhard sie als »Familienangelegenheiten« bezeichnete, aufs neue zu verschleiern und seine eigene Person für die Zukunft sicher zustellen:

»Derjenige, welchen Ihr sucht, er weilt zurzeit in dieser Stadt«, lauteten die verhängnisvollen Mitteilungen; »möget Ihr diese Kunde als meinen letzten Euch geleisteten Dienst hinnehmen, aber auch als eine Bürgschaft betrachten, daß aus meiner ferneren ungestörten Zurückgezogenheit Euch keine Mißhelligkeiten erwachsen.« –

Der arme Gerhard! Einen freundlichen Gruß bot er dem Reiter, ohne eine Antwort zu erhalten. Bitter lachte er vor sich hin.

»Ich werde mich allmählich an alles gewöhnen,« tröstete er sich in Gedanken, und vergessen war der Reiter, vergessen die Unfreundlichkeit, mit der er vor dem einsamen Hause abgefertigt wurde, vergessen alles, bis auf die Zeichen in dem Wagengeleise.


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