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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Alte Bekannte.

Was der alte Nathan bei unserm Erscheinen denken mag?« bemerkte der heruntergekommene Korpsbursche zu dem verfehlten greisen Bühnenhelden, als sie, in aller Frühe vom Bahnhof kommend, munter durch das Straßengewirre der Hauptstadt schritten.

»Er wird seinen Augen nicht trauen,« versetzte Schwärmer bedächtig, und es gewann den Anschein, als ob die Spitzen seiner nach Schwärze lechzenden Stiefel etwas theatralischer auswärts wiesen.

Kappel lachte herzlich, und lustig klingelte er mit einigen harten Talern in seiner Tasche.

»Schwerlich wird er sich der Überzeugung verschließen,« bemerkte er sorglos, »daß wir nicht leerer Ideen halber so lange die Landstraßen unsicher machten.«

»In Maßliebs Seele möchte ich mich fast der Verwandtschaft schämen«, meinte Schwärmer sinnend.

»Sie gehen zu weit,« wendete Kappel ernst ein, »stolz braucht sie gerade nicht zu sein; allein schämen? Steht man auf rechtmäßigem Boden, so gehört das Schämen in das Reich inhaltloser Träume. Glauben Sie mir, hätte es in Maßliebs Gewalt gelegen, sich einen Großvater nach eigenem Geschmack auszuwählen, so würde sie unstreitig im Gefolge Apolls sich umgesehen und für einen von uns beiden entschieden haben.«

»Aber Schonung, Schonung für das arme Herzchen,« versetzte Schwärmer, der, je näher sie ihrem Ziel rückten, um so zaghafter wurde.

»Schonen? das Kind? Ja,« entschied Kappel, und er drehte seinen Schnurrbart mit einer Grazie, als hätte auf jeder Seite von ihm jemand gestanden, die entsprechende Spitze zum Weiterdrehen höflich in Empfang zu nehmen, »allein den alten Cerberus? Nein, ihn schonen wir nur solange, wie es mit unsern Zwecken vereinbar. Seinen zusammengewucherten Reichtum mag er behalten, allein es läßt sich vermuten, daß außerdem Gelder –«

Aber bestürzt schwieg er plötzlich und Schwärmers Arm ergreifend, wies er die Gasse hinunter, wo vor einem ihm bekannten Hause sich ein Volksauflauf gebildet hatte. Er faßte sich indessen schnell wieder, und den nicht minder erschrockenen Schwärmer fortziehend, bemerkte er mit erzwungener Heiterkeit: »Man wird sich in den Hintergebäuden gerauft haben, wodurch das Einschreiten der Polizei notwendig geworden.«

»Ich bezweifle es«, wandte Schwärmer furchtsam ein, »zu genau kenne ich die Hausordnung; in der Handhabung derselben ist Nathan unerbittlich.«

Ihr Gespräch stockte, und bis auf wenige Schritte hatten sie sich der summenden Menge genähert, als Kappel sich zwei eifrig miteinander verhandelnden Arbeitern mit der Frage nach der Ursache der Bewegung zukehrte. –

»Was sollte es sein?« hieß es mit unverkennbarer Schadenfreude zurück, »Mord und Totschlag hat's gegeben, daß ist alles.«

»Mord und Totschlag?« fragte Kappel erstaunt.

»Ist das nicht genug?« lautete die brutale Antwort, »und dieses Mal hat's obenein 'nen Richtigen getroffen: dem weisen Nathan, der so reich ist, daß er selber nicht weiß, wieviel er besitzt, ist der Schädel eingeschlagen worden, nachdem er zuvor seinem Mörder 'ne Handvoll Schrot in den Leib jagte.«

»Nathan – der weise Nathan tot?« fragte Kappel entsetzt und mit einem Blick der Verzweiflung in die Augen seines erbleichenden Gefährten.

»Tot wie 'n Nußsack,« lachte der Arbeiter, »hat aber trotz seines eingeknickten Schädels noch lange genug gelebt, um Feuer an sein Geld zu legen. Sollen an die zwanzig Millionen Papiergeld verbrannt sein. Der Schurke; anstatt den Plunder an arme Leute zu verteilen, vernichtete er ihn. Schade drum, daß es vorbei mit ihm ist; hätte er doch verdient, für jedes Hundert Taler seiner zusammengegaunerten Schätze besonders umgebracht zu werden.«

Die beiden Freunde waren von dem Arbeiter fortgetreten. Sie fürchteten sich fast, weitere Erkundigungen einzuziehen.

»Wie finden Sie die Grabrede?« fragte Kappel kleinlaut, der seine Fassung zuerst zurückgewann.

»Ein böses, ein furchtbares Ende«, antwortete Schwärmer niedergeschlagen, »und ich meine, wir brauchen nicht weiter zu gehen,« fuhr er unsäglich bitter fort. »Wäre es doch ein Verbrechen, das arme Kind jetzt noch seinem friedlichen Asyl zu entreißen. Ein Brief würde genügen, Fräulein Kabul von der Reise zurückzuhalten – und wir selber – nun, sogar im günstigsten Falle wäre uns kein anderes Los beschieden gewesen, als –«

»Als unsere paar Lebensjahre abzusingen und abzuspielen,« fiel Kappel mit feindseligem Lachen ein; »ganz recht, teurer Freund, und ich wüßte nicht, daß meine Hoffnungen jemals weit über ein solches Los hinausgereicht hätten, nachdem ich mein Leben – doch das sind Nebensachen. Aber etwas anderes gibt es, und das werde ich nicht mehr los, nämlich meine Anhänglichkeit an das Kind, das unter meinen Augen zu einer lieblichen Jungfrau heranreifte, an das Kind, über das ich, trotz eines entwürdigenden Vagabundentums, mit den Augen eines Vaters und einer Mutter und endlich eines Lehrers eifersüchtig wachte. Ach, wer so lange mit ihr lebte und verkehrte wie ich –«

»Und wer gleich mir sein herbes Spielerbrot mit ihr teilte!« fiel Schwärmer lebhafter ein, und seine Gitarre mit beiden Händen ergreifend, schien er sie zertrümmern zu wollen.

»Gut, gut«, beruhigte Kappel, und seine Unverzagtheit gewann wieder die Oberhand, »aber auch ohne diese Anhänglichkeit wären wir verpflichtet, für die Abwesende und ihre Rechte einzutreten,« und sich kurz umkehrend, bahnte er dem ihm folgenden Gefährten einen Weg mitten in das Gedränge hinein.

Vor der Tür von Nathans Wohnung wurden sie anfangs durch einen Gerichtsdiener zurückgewiesen. Man hielt die beiden alten, schäbigen Burschen für neugierige Mieter des weisen Nathan. Erst nachdem Kappel, durch Vorlegen der auf Maßlieb bezüglichen Papiere sich als einen Zeugen ausgewiesen hatte, wurde ihm und Schwärmer der Eintritt gestattet. Die betreffenden Behörden waren eben mit Aufnahme des Tatbestandes beschäftigt, würdigten daher das Erscheinen der beiden Ankömmlinge nach Gebühr, legten ihnen aber zugleich die Verpflichtung auf, das Gericht fortgesetzt in Kenntnis über ihren Verbleib zu erhalten. Damit war die Angelegenheit den Händen der beiden alten Freunde entwunden. Ungern gab Kappel die in seinem Besitz befindlichen Dokumente hin; doch gewährte es ihm eine Beruhigung, nunmehr mit Zuversicht auf eine gerichtliche und gerechte Entscheidung rechnen zu dürfen.

Von Grauen erfüllt, betrachteten sie die starre Leiche Nathans, die noch immer da lag, wo sie durch den Kettenvogt hingestreckt worden war. Er, von dem sie eine günstige Wendung von Maßliebs Zukunft erhofften, dessen Herzlosigkeit sie kannten und fürchteten, war jetzt tot. Wo sie aber glaubten, auf dem Wege gütlichen Vergleichs die besten Bedingungen zu erzielen, da sollte nunmehr streng nach dem Buchstaben des Gesetzes verfahren werden. Noch dampfte es aus dem eisernen Geldspinde; noch dampften die verschiedenen schwarzen Aschenhaufen, die man aus den Fächern hervorgezogen und behutsam von den nur angekohlten Papierresten getrennt hatte. Diese lagen in Reihen geordnet auf einem Tische; kaum daß noch hin und wieder zu erkennen, was sie ursprünglich gewesen. Ihren Wert hatten sie vollständig verloren. Auf einem anderen Tische lagen Tausende von Talern in Gold und Silber, sogar mehrere altertümlich geformte und reich mit Edelsteinen besetzte Geschmeide und ein Talmud, den der feste, vor Hitze zusammengeschrumpfte Einband gegen Vernichtung geschützt hatte. Der Deckel war zurückgeschlagen; auf dem ersten Blatte standen Anmerkungen in hebräischer Schrift, offenbar zu verschiedenen und weit auseinander liegenden Zeiten eingetragen.

Den Mörder hatte man nicht fortgeschafft, um sein augenscheinlich nahe bevorstehendes Ende nicht zu beschleunigen, sondern seinen letzten Lebensatem zu einem Verhör zu benutzen.

Als Kappel und Schwärmer eintrafen, war letzteres bereits geschehen. Der Kettenvogt lag auf dem Ledersofa; ein Arzt stand ihm zu Häupten, aufmerksam seinen Gesichtsausdruck beobachtend.

»Es dürfte die höchste Zeit sein«, bemerkte der Arzt zu einem der Gerichtsherren gewendet, »später bin ich nicht imstande, für die Klarheit seines Verständnisses zu bürgen.«

Der Angeredete erhob sich von dem Pult, vor dem er so lange mit Schreiben beschäftigt gewesen, und mehrere Aktenbogen entfaltend, schickte er sich an, dem Mörder das aufgenommene Protokoll vorzulesen. Die übrigen Anwesenden forderte er auf, in die Rolle von Zeugen einzutreten.

»Sie sind bei vollem, klaren Bewußtsein?« redete er den Verwundeten an.

Dieser kehrte ihm sein entstelltes Gesicht zu und gab ein bejahendes Zeichen, worauf der Notar zu lesen anhob.

Zunächst schilderte er den Zustand, in dem er die Räumlichkeit und deren Besitzer gefunden hatte. Hieran schlossen sich das umfassende Eingeständnis des Mordes, wie der Kettenvogt es abgelegt hatte, und sein Bericht, wodurch er zuerst auf den Gedanken der Beraubung Nathans gekommen sei. Röchler, der zugegen war, bestätigte alles, gab indessen vor – was zu bezweifeln vorläufig niemand Ursache hatte –, nur aus Verhinderung eines Verbrechens bedacht gewesen zu sein. Dann folgte das zwischen Nathan und der Karussellmutter geführte Gespräch, so weit dieses bruchstückweise und unbestimmt von dem Mörder wiederholt und von Röchler vervollständigt worden war. Den Schluß bildete, daß Nathan von dem Weibe ein Dokument erstanden habe, um die gerechten Ansprüche einer abwesenden Person zu vernichten. Kappels und Schwärmers Aussagen wurden noch hinzugefügt, worauf der Notar zur Vollziehung des Protokolls schritt.

»Sie stehen im Begriffe,« hob er zu dem seiner Auflösung schnell entgegengehenden Mörder gewendet an, »durch den Tod der härtesten irdischen Strafe entzogen zu werden. Nichts in der Welt kann Sie retten. Binnen kurzer Frist stehen Sie vor Ihrem letzten Richter. Erwägen Sie dies wohl und vermeiden Sie, mit einer Unwahrheit auf den Lippen Ihre Augen auf ewig zu schließen. Und so frage ich Sie: Ist in dem Ihnen vorgelesenen Protokoll ein Wort zu viel oder zu wenig gesagt worden?«

»Nein,« antwortete der Kettenvogt mit sichtbarer Anstrengung.

»Können Sie Ihren Namen schreiben?«

»Ich kann es.«

»Sind Sie bereit, dieses Dokument durch Ihre Unterschrift zu vollziehen?«

»Her mit der Feder, oder 's ist zu spät.«

Zwei Gerichtsdiener halfen dem Verwundeten in eine sitzende Stellung, und seine Hand auf das durch eine Unterlage gestützte Papier legend, erleichterten sie es ihm, seinen Namen auf die betreffende Stelle zu schreiben.

»Nun noch ein Wort«, bemerkte der Kettenvogt, sobald er wieder zurückgesunken war, und er versuchte, höhnisch zu lachen, »ob der Teufel mich heute holt oder morgen, kümmert mich wenig. Dafür aber, daß ich den da drinnen vorausschickte, habe ich mir 'nen Gotteslohn verdient. Denn so viel verstehe ich von der Sache, daß ich mit meinem letzten Atemzuge behaupten kann: Wenn Leute wie der Nathan und seine Geschäftsfreunde in demselben Verhältnis bestraft werden sollten, wie unsereins für 'nen einfachen Diebstahl, dann müßten sie sechs Monate hindurch täglich auf offener Straße ausgepeitscht und demnächst zum Verhungern an einen Pumpenbaum geschmiedet werden. Hahaha! Ich weiß, was so ein Gründer bedeutet! Schurken sind die meisten, je höher hinauf, um so ausgefeimter –«

Die Stimme versagte ihm. Mit einer Bewegung der Abscheu warf er sein Gesicht nach der Wand herum. Alle ferneren Fragen ließ er unbeantwortet, und mit der stoischen Ruhe eines unverbesserlichen Räubers und Einbrechers sah er seinem Ende entgegen.

Das weitere warteten Kappel und Schwärmer nicht mehr ab. Als hätten sie sich unter der Einwirkung eines wüsten Traumes befunden, schlichen sie auf die Straße hinaus, planlos die Richtung einschlagend, in der gerade ihre Gesichter standen. Erst nach einer geraumen Pause entsannen sie sich ihrer weiteren Aufträge.

Um die Mittagszeit war es, als Kappel und Schwärmer auf ihrem Wege zu Maller vor dem zu Merediths Wohnung gehörigen Garten eintrafen. Sie hatten geglaubt, das Haus mit verschlossenen Läden und Türen zu finden, und nun sahen sie es plötzlich anscheinend in allen seinen Teilen belebt. Bevor Kappel sein Erstaunen äußerte, trat ihm durch die Gartenpforte ein Herr entgegen.

»Kann ich durch Ihre Güte erfahren, wer in den Räumen dort drüben zurzeit haust?« fragte er den Fremden höflich.

Dieser betrachtete ihn verwundert von seiner bestaubten Kopfbedeckung bis herunter zu seinen rötlich schimmernden Stiefeln. Eine Ahnung schien in ihm aufzusteigen.

»Meine Frage ist vollkommen gerechtfertigt,« fuhr Kappel alsbald fort, da der Fremde mit einer Antwort zögerte; »ich lebte nämlich bisher der unschuldigen Überzeugung, daß nur ein Fräulein Kabul das Recht besäße, in jenem Hause zu schalten.«

»Kabul?« fragte der Herr erstaunt. »Mit Ihrer Erlaubnis; was wissen Sie von Fräulein Kabul?«

»Nicht weniger, als daß ihr Mietskontrakt noch nicht abgelaufen ist, und es schwerlich ihre Billigung finden dürfte, daß man ihre Abwesenheit dazu benutzte, jene Räumlichkeiten anderweitig zu verwerten.«

Der Herr, das Bild eines echten Bureaubeamten, schaute noch verwunderter darein.

»Wenn Sie mit Fräulein Kabuls Verhältnissen so vertraut sind, wie zu sein Sie vorgeben,« hob er nach kurzem Sinnen an, und bei des alten Schauspielers Anblick schien es in seiner Erinnerung zu tagen, »so werden Sie wissen, daß es Menschen in der Welt gibt, denen Fräulein Kabul nie das Recht absprechen würde, sich da drinnen wohnlich einzurichten.«

»Wenn wir uns weniger in allgemein gehaltenen Phrasen bewegen, gelangen wir unfehlbar schneller zum Einverständnis,« nahm Kappel nunmehr mit einer gewissen Würde das Wort: »ich heiße Kappel – haha, dem Namen nach habe ich wenigstens die Ehre –« schaltete er ein, als der Fremde erstaunt seine Hände ineinander legte, »dies ist mein Freund Schwärmer, und wir beide dürfen uns des Vorzugs rühmen, zu Fräulein Kabuls treuesten Freunden zu zählen. Und mehr noch, zwei Tage ist es kaum her –«

»Als Sie Fräulein Kabul verließen?« fiel der bleiche Herr ein, und stürmische Freude leuchtete in seinem Antlitz auf.

»Als wir sie und ihren jungen Schützling –«

»Maßlieb?« fiel der Herr wiederum ein.

»Sie beauftragte uns, vorauszureisen, ihr eine Stätte zu bereiten in dem alten Hause –«

»Den Schlüssel – sie besaß deren zwei – einen nahm sie indessen nur mit fort, gab sie Ihnen diesen?«

»Nein, aber sie wies uns an jemand, von dem sie behauptete, daß eher der Himmel einstürze, bevor er das kleinste Unrecht billige. Um so mehr mußte es uns überraschen, das Haus, das wir leer zu finden erwarteten, bewohnt zu sehen.«

Auf des fremden Herren Antlitz offenbarte sich tiefe Rührung.

»Aber seinen Namen, den Namen des Mannes, dem sie blindlings ihr Vertrauen schenkte!« brachte er stotternd hervor.

»Maller,« antwortete Kappel freundlich, denn er hatte bereits erraten, wen er vor sich sah, »Maller, ein gewissenhafter Beamter, der durch andere hinterlistig um seine Habe betrogen wurde –«

»Ja, ja, das bin ich,« hielt dieser nicht länger an sich, und freundschaftlich drückte er den beiden alten Abenteurern die Hand, »und wenn Fräulein Kabul von meinem Unglück sprach, so hatte sie nur bis zu einem gewissen Grade recht. Mein kleines Vermögen ist hin, ich leugne es nicht, aber, nachdem ich einmal in die Schlingen der Hyänen des Kapitals gefallen war, mit ihm eine unerschöpfliche Quelle namenloser Sorgen und Unruhe. Ich schlafe wieder, ich freue mich mit den Meinigen jedes kommenden Tages, der uns gesund findet, und der Ausfall in unserer Einnahme –« er seufzte schmerzlich, lächelte indessen sogleich wieder, dann fuhr er mit erhöhter Wärme fort: »Gott sei Dank, mich quälen nicht mehr Kurszettel noch Hyänen, und so wahr ein Gott über uns lebt: in meiner sehr dürftigen Lage möchte ich nicht mit jenen privilegierten Wegelagerern tauschen, vor denen jeder rechtlich Denkende mit Abscheu und Verachtung den Staub von seinen Füßen schüttelt.«

»Doch treten Sie näher,« und hastig öffnete er die Gitterpforte, »Sie sind berechtigt, sich zu überzeugen, ob Fräulein Kabuls Wünsche mißachtet wurden oder nicht. Aber ich weiß, ich handelte in ihrem Sinn, als ich einer Kabul den Schlüssel einhändigte, und hätte ich gewußt, in welchem Erdenwinkel meine verehrte Gönnerin weilte, so wären auch die äußeren Formen nicht unbeachtet geblieben.«

Die beiden alten Abenteurer waren verstummt. Ihrem gesprächigen Führer um den Rasenplatz herum folgend und die mit weißen Gardinen geschmückten offenen Fenster mechanisch betrachtend, entdeckten sie an einem derselben ein holdes, mit allen Reizen unergründlicher Herzensgüte geschmücktes Antlitz, das zu ihnen heraussah.

Vor diesem Fenster vorüberschreitend, entblößten die drei Männer grüßend ihre Häupter.

»Meine verehrteste Frau Gerhard,« rief Maller zu der jungen Frau hinauf, »die Vorläufer unserer teuren Gönnerin und Maßliebs!« und er wies auf seine beiden Gefährten.

»Fräulein Kabul? Maßlieb?« antwortete Esther bestürzt vor Freude.

»Die würdige Dame selber schickt uns,« bestätigte der heruntergekommene Korpsbursche mit einem Anstande, der sofort seinen fadenscheinigen Anzug Lügen strafte.

»Und als nächste Wirkung dieser Kunde begrüße ich, daß Herrn Gerhards nebst Frau Gemahlin Wohnung wohl auf die linke Seite des Hausflurs beschränkt werden wird,« fügte Maller im Übermaß seines Entzückens hinzu. Dann beeilte er sich, Esthers Einladung Folge zu geben, und gleich darauf betraten sie das Zimmer, in dem Meredith vorzugsweise zu wohnen pflegte und jetzt Esther sie herzlich willkommen hieß.

Erstaunt blickten Kappel und Schwärmer um sich. Sie hatten gehört von leeren Räumen und in Kisten aufgespeicherten Sammlungen, die ihrer Versteigerung entgegenharrten. Mit wehmütigem Ausdruck und wie ein zerstobener Traum waren ihnen geschildert worden zahlreiche Altertümer, die einst dem großen Zimmer einen so wunderbar behaglichen Charakter verliehen, und nun sahen sie plötzlich jenen Traum verwirklicht vor sich. Die Lösung dieses Rätsels aber entdeckten sie leicht in Esthers holdselig erglühendem Antlitz, indem sie mit lieblicher Befangenheit die Abwesenheit ihres Gatten entschuldigte. Denn nur jemand, der so lange in innigem Verkehr mit Meredith lebte, wie Esther, hatte vermocht, dem Zimmer seinen alten Charakter zurückzugeben; aber auch nur eine flinke und gern gehorchende Hand, wie die des biederen Gerhard war imstande gewesen, mit ganzer Seele auf Esthers Ideen eingehend, deren Pläne binnen kürzester Frist in Ausführung zu bringen. Doch bei allem, was sie unternahmen, fanden sie in Maller, Merediths Bevollmächtigtem, einen getreuen und gefälligen Bundesgenossen. Denn er war es, der ihnen zuerst Auskunft über Merediths geheimnisvolles Verschwinden erteilte, der ihnen die verödeten Räume des stillen Hauses öffnete, die Altertümer wieder ans Tageslicht zog, außerdem manches Stück Möbel, das, von Meredith an einen Trödler verkauft, bei diesem noch vorgefunden wurde.

Sechs Wochen waren erst seit dem Eintreffen des jungen Ehepaars verstrichen, und doch hatte dieser Zeitraum genügt, nicht nur das ganze Haus in einen wohnlichen Zustand zu versetzen, sondern auch für Gerhard eine Buchhalterstelle auszukundschaften, die ihm und seiner Esther ein sorgenfreies Leben sicherte. Die bei der verschollenen Zentrifugalbank gewonnenen Erfahrungen kamen ihm so weit zu statten, daß er in der Wahl seiner Stellung Vorsicht walten ließ, um nicht zum zweitenmal zu einem Werkzeug der Hyänen des Kapitals herabgewürdigt zu werden. Denn die Hyänen lebten noch immer, trotzdem ihre Blütezeit vorüber war; aber wie ihre Opfer aus herben Erfahrungen gelernt hatten, so waren auch an ihnen solche nicht spurlos vorübergegangen. Sie wußten sich künstlich in so zarte Lämmerfelle zu kleiden, daß sie in den meisten Fällen kaum noch von ehrlichen Menschen zu unterscheiden waren. Gegen Nailleka trat Gerhard nicht auf aus Rücksicht für Esther, zumal mit dem Bruch der Zentrifugalbank auch auf dieser Stelle wenigstens das Kolonisationsverfahren sein Ende erreicht hatte. Er wich dem früheren Bankdirektor sogar aus. Durch nichts wollte er an Ereignisse erinnert werden, durch die er in der Seele seiner geliebten Esther nur schmerzlich berührt werden konnte.

Und so bereitete die Ungewißheit über Merediths Verbleib den beiden jungen Gatten den einzigen Kummer. Sie bauten indessen ihre Hoffnung darauf, daß sie nach Ablauf des Mietskontraktes und zur Erneuerung des Stättegeldes für ihre Altertümer notgedrungen ein Lebenszeichen von sich geben müsse, und dann war es noch Zeit, sie zurückzurufen und im Triumph in ihr altes, trautes Asyl einzuführen. Sich für alle Fälle sichernd, hatte Gerhard in seinem eigenen Namen den Mietskontrakt auf längere Zeit erneuert. Eine Störung seiner Pläne wäre daher selbst dann nicht zu befürchten gewesen, wenn Merediths Schweigen über den entscheidenden Termin hinaus gedauert hätte.

Durch Kappels und Schwärmers Eintreffen wurden ihre letzten Sorgen verscheucht. Sie begrüßten dieselben wie alte Freunde und räumten ihnen nicht nur ein Giebelstübchen ein, sondern wirkten auch dahin, daß bei den bevorstehenden Gerichtsverhandlungen sie auch äußerlich der Gelegenheit angemessen erscheinen konnten. Letztere Aufgabe wurde durch den auf dem Gebiete der Sparsamkeit unübertrefflich erfahrenen Maller mit verhältnismäßig sehr geringen Kosten gelöst.

Nathans Tod hatte Kappel sofort an Meredith berichtet, und daß Maßliebs Anerkennung als einzige Erbin kaum noch ein Hindernis entgegenstehe, man sogar alle notwendigen Maßregeln ergriffen habe, die Karusselleltern mit in den Prozeß hineinzuziehen. Ferner schrieb er, daß er so frei gewesen, mit Schwärmer sich auf so lange in ihrem Hause einzuquartieren, wie ihre Anwesenheit in der Stadt erheischt würde. Von Esther und Gerhard verriet er dagegen auf deren Wunsch keine Silbe. Er sollte und wollte nicht die freundliche Überraschung stören, die sie Meredith zugedacht hatten. –


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