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Vierzehntes Kapitel.

Menschenhandel.

Es war eine schauerliche Nacht. Auf dem Tummelplatz der Wölfe herrschte tiefe Finsternis, der ganze Hof hatte sich in einen Morast verwandelt. Dazu der dem aufgeweichten Kehricht entsteigende Pesthauch; das Heulen des Windes, indem er scharf um die hohen Hausgiebel herumfuhr und mit den klapperigen Laden der Speicherluken einen scheußlichen Takt zu dem Unwetter schlug. Die Wölfe selbst hatten sich frühzeitig in ihre Höhlen zurückgezogen. Die mangelnde Ofenwärme suchten sie dadurch zu ersetzen, daß sie auf ihren elenden Lagerstätten dichter zusammenkrochen, und über sich hinzogen, was nur immer an Lumpen aufzutreiben war. Darum war es auch so still im Reiche des weisen Nathan. Hier und dort murmelte, flüsterte und kicherte es wohl, wo der Schlaf mit dem Ausstreuen seiner Mohnkörner noch zögerte. Auch schmerzliches Stöhnen und Wimmern wurde zuweilen verstohlen laut, wo hohes Alter oder Siechtum dem Blute die Wärme raubte. Doch den Wölfen waren solche Töne nicht fremd; die Gemüter waren in der Schule der Roheit und des Lasters abgehärtet.

Auch der greise Komödiant wachte noch hoch oben in seiner elenden Kammer. Doch nicht die Kälte hielt ihn munter, oder der Regen, mochte dieser noch so heftig auf die Dachziegel niederprasseln; ebensowenig der Hunger; obwohl das Unwetter ihn in seinem Broterwerb störte und er seine Kunstreisen auf einen nur sehr mäßigen Umkreis beschränkte. Aber an die verlorene Gefährtin dachte er, an die freundliche Maßlieb, die seinen Geist wachgerüttelt hatte aus langjähriger Versumpfung. Wie bei der Erinnerung an sie in den alten Augen das Wasser zusammenlief!

Es war eine schauerliche Nacht; eine Nacht, so recht geeignet für das finstere Wirken der Hyänen. –

Nathan hatte seinen Sekretär zur Ruhe geschickt, und fest in seinen Schafspelz gehüllt, wandelte er in dem Geschäftszimmer auf und ab, jemand erwartend, den er ohne Zeugen zu sprechen wünschte. Schon begann er ungeduldig zu werden, als es draußen klopfte und bald darauf die Karussellmutter ihn höchst gebildet begrüßte. Fast gleichzeitig entfernte sich auf dem finsteren Flurgange ein leiser Schritt nach den Hintergebäuden, wo er auf dem Tummelplatz der Wölfe verhallte. Aus einem kleinen Fenster im zweiten Stock schimmerte noch ein mattes Licht auf den morastigen Hof hinaus. Ein Weilchen lauschte der geheimnisvolle Späher, dann regte er sich wieder, und gegen das erleuchtete Fenster klapperten einige, mit mäßiger Gewalt geworfene Erbsen.

Auf dieses Zeichen verdunkelte sich das Fenster. Der Späher schlüpfte von dem Hofe und gleich darauf traf er mit dem Kettenvogt im Flurgange des Vorderhauses zusammen.

»Ist er drinnen!« fragte dieser flüsternd.

»Eben eingetreten,« antwortete Röchler leise, jedoch verriet sich in der eigentümlichen Hast große Furcht wie zügellose Gier.

»Dann vorwärts,« befahl der Kettenvogt, und die Schuhe ausziehend, schlichen sie die schmale Treppe hinauf.

Im ersten Stockwerk eingetroffen, reichte der Schreiber seinem Genossen die Hand, und sich behutsam durch einen schmalen Gang hintastend, gelangten sie in ein geräumiges Zimmer, das gerade über dem Kontor des weisen Nathan lag. Hier zündete Röchler ein Licht an; mit Bedacht überzeugte er sich, daß der vor dem Fenster angebrachte Vorhang dicht schloß, dann legte er einen Finger auf den Mund, für den sachverständigen Kettenvogt ein Zeichen, die größte Vorsicht walten zu lassen.

Aus ein Zeichen Röchlers legte der Kettenvogt sich auf die Erde neben ein von Motten zerfressenes Wagenkissen nieder; Röchler nahm ihm gegenüber an der anderen Seite des Kissens Platz, worauf sie dieses vorsichtig emporhoben und so weit ihre Arme reichten, aus dem Wege schafften. Ähnlich verfuhren sie mit zwei Brettern, die mit vieler Mühe losgeschnitten worden waren. Zwischen ihnen befand sich nun eine Öffnung von etwa drei Fuß Länge und zwei Fuß Breite. Nach unten reichte sie indessen nur einen halben Fuß tief, oder vielmehr bis auf die den Kalkputz von Nathans Kontordecke tragenden morschen Stäbe.

Bei diesem Anblick nickte der Kettenvogt wohlgefällig. Der kundige Einbrecher bewunderte offenbar das Stückchen Arbeit; denn Röchler hatte nicht nur den Schutt zwischen den nächsten Tragebalken fortgeräumt, sondern auch Stroh und Lehm von den Stäben so weit fortgeschält, daß es nur eines leisen Druckes bedurft hätte, um dem weisen Nathan einen Teil seiner Zimmerdecke auf den Kopf zu senden. Auf diese Art die mit so viel Geduld begonnene Arbeit zu vollenden, lag indessen weder in Röchlers noch in des Kettenvogts Absicht. Nur lauschen wollten sie, und lauschend neigten sie ihre Köpfe der Öffnung zu. Doch wenn in des Kettenvogts braunrotem Antlitz sich die Raubgier eines wilden Tieres ausprägte, und ein gewisser Triumph, daß der vermeintlich einfältige Schreiber ihm einen Weg zeigte, der über kurz oder lang zu einem kühnen Unternehmen sich würde benutzen lassen, so lauschte Röchler nur auf das, was unter ihm in dem Kontor stattfand.

»Diese Papiere schließen jede Möglichkeit eines Irrtums aus,« drang der Karussellmutter Erklärung verständlich zu den beiden Horchern herauf, »sollten Sie indessen Zweifel hegen, so brechen wir unsere Verhandlungen einfach ab. Vorläufig liegt mir überhaupt wenig daran, mich von dem Mädchen zu trennen – später vielleicht –«

»Für richtig erkenne ich die Papiere allerdings,« fiel Nathan ungeduldig ein, »dagegen verlange ich Bürgschaft, daß außer Ihnen kein anderer irgendwelche Dokumente im Besitz hält.«

»Was an Dokumenten existiert, besitze ich,« beteuerte die Karussellmutter; »wollen Sie sie mir abkaufen, gut, so nennen Sie Ihr Angebot. Ich antworte darauf mit meiner Forderung, und einigen wir uns nicht – so ziehe ich meiner Wege. Ich wiederhole, nur ungern trenne ich mich von dem Kinde.«

Nathan überlegte ein Weilchen.

»Verstehe ich recht,« hob er wieder an, »so steckt in dem Kinde große Vorliebe fürs Landstreicherleben?«

»Als ob's fürs Vagabundieren geboren wäre. Sie selbst sollten das am besten wissen, zumal es so lange in Ihrem Hause lebte und von hier aus in Gesellschaft eines verdorbenen Komödianten seine Streifereien unternahm.«

»Habe ich doch nicht gewußt, daß es gefunden hat Aufnahme in meinem Hause bis zum letzten Tage.«

»So fragen Sie den alten Mann selber. Ich sollte denken, daß es so lange zu ihm hielt, ist Beweis genug für seine Landstreichernatur. Gleich und gleich gesellt sich gern.«

»Unter keinen Umständen darf gefragt werden der Alte,« entschied Nathan bedächtig, »'s würde erregen seine Neugierde und würde er sich sehnen, zu erfahren mehr. Nein, nein, das Kind darf nicht kommen ans Tageslicht; das zu verhüten sind Sie aber nicht die geeignete Person. Wird es Ihnen doch entlaufen bei nächster Gelegenheit, und wird es Leute finden, weniger einfältig als der alte Komödiant, die es hinführen, wohin es gehört, zu Ihrem und zu anderer Leute Nachteil. Ich bin daher gesonnen, Ihnen abzukaufen nicht nur diese Papiere, sondern das Mädchen selber, um für es zu sorgen und es unterzubringen in einer Familie, die es nicht läßt aus den Augen und gibt ihm 'ne Erziehung, so angemessen in seinem Stande –«

»Eine feine Erziehung mag's sein,« lachte das Weib spöttisch, »doch mich soll nicht kümmern, wo's sein Ende nimmt, ob zwischen seidenen Pfühlen oder in einem Krankenhause. Ich habe mich lange genug mit der Kröte herumgeärgert, und meinem Schöpfer will ich danken, wenn ich sie gegen eine angemessene Entschädigung für Kost und Erziehung wieder los werde.«

»Da unsere Wünsche sind dieselben,« versetzte Nathan, »ist's überflüssig, Nebendinge zu beraten, 's schadet oft, zu wissen zuviel. Wissen Sie nicht, wo ist geblieben das Mädchen, können Sie nicht erteilen Auskunft; und kenne ich nicht die näheren Umstände, wie's gelangte in Ihren Besitz, brauche ich mir darüber zu machen keine Gedanken.«

»Vergebens nennt man Sie nicht den weisen Nathan,« erklärte das Weib im Gönnertone. »Aber zum Schluß: Was zahlen Sie für die Papiere, was für das Mädchen, oder noch besser: Wieviel für beides?«

»Will ich tun mein Äußerstes,« antwortete Nathan, »will ich Ihnen zahlen zweihundert harte Taler –«

Das Schnurren eines Stuhles tönte zu den Lauschenden herauf, dem sich ein heiteres: »Gute Nacht, Herr Nathan!« anschloß.

»Bleiben Sie, bleiben Sie,« fiel Nathan auf diesen energischen Abbruch der Verhandlung ein, »meinte ich doch für jedes zweihundert Taler, was machen vierhundert.«

»Herr Nathan,« hob das Weib an, »wäre ich nur halb so bemittelt wie Sie, würde ich das Mädchen zu meinem Vergnügen an Sie abtreten. Da dies aber nicht der Fall ist, muß ich es so hoch wie möglich zu verwerten suchen. Sie haben meine Pflegetochter nicht gesehen? Wohlan, sie ist schön; nebenbei besitzt sie eine Anmut der Bewegungen, wie sie nur angeboren sein kann. Jetzt merken Sie auf: Verkauft – um offen zu sprechen – wird das Persönchen auf alle Fälle, und ich will mein letztes Stück Brot gegessen haben, wenn's nicht genug hohe Herren, betreßte Beamte und reichgewucherte Lumpe, Gründer und Bankiers gibt, die mit Freuden mir zwölfhundert Taler für die feine Ware zahlen. Bewilligen Sie mir also zwölfhundert Taler, so nehmen Sie Mädchen und Papiere und wir sind geschiedene Leute und ich kenne das Fräulein nicht mehr, – andernfalls, nun, ich seh's Ihnen an – gute Nacht, Herr Nathan –«

»Nein, gehen Sie nicht,« versetzte dieser wieder schnell, und nach dem Geräusch zu schließen, vertrat er der Karussellmutter den Weg, wenn ich möcht' durchführen etwas ernstlich, so geschieht's, und sollt' es mich kosten schwere Opfer. Ja, ich will geben die zwölfhundert Taler; allein ich will dafür haben meine Ware, so mir entzogen werden kann durch einen unglücklichen Zufall. Geben Sie mir daher die Papiere für die Hälfte des Preises und zahle ich die andere Hälfte zu jeder Stunde, nachdem ich in Empfang genommen das Mädchen.«

Das Weib zögerte.

»Nicht mehr als recht und billig,« rief es aus, »sechshundert Taler auf der Stelle und den Rest nach Schlußlieferung der Ware.«

Ein Weilchen ergingen beide sich jetzt in mancherlei Betrachtungen über Vorteil und Nachteil des Geschäfts und einzelner Nebenbedingungen, worauf Nathan, wenn auch mit gewohnter Vorsicht, jedoch klirrend das feuerfeste Spind öffnete.

»Ist das lauter Geld?« fragte die Karussellmutter erstaunt.

Bei diesem Ausruf richtete der Schreiber sich empor, und mit lauernder Spannung beobachtete er den Genossen.

Dieser hatte ihm seine wild glühende Physiognomie zugekehrt und das Ohr beinahe unten auf die Lehmstäbe gelegt. Er schien durchbrechen zu wollen, um sich mit Gewalt der Schätze zu bemächtigen, die durch die Frage der Karussellmutter vor seine Phantasie hingezaubert worden waren.

»Es ist Geld, aber nicht mein Eigentum,« antwortete Nathan stotternd, denn in seiner leidenschaftlichen Erregung hatte er die Anwesenheit eines Zeugen nicht beachtet; hab' ich's doch nur in Verwahrung genommen auf vierundzwanzig Stunden gegen eine mäßige Entschädigung und weil jeder kennt die Gewissenhaftigkeit und Sicherheit des alten Nathan.«

Ein dumpfer Ton und neues Klirren bekundeten, daß er die Tür, nachdem er den vereinbarten Geldbetrag an sich genommen, wieder zugeschlossen hatte. Röchler erriet dies so genau, als hätte er sich unten in dem Kontor befunden.

Leise berührte er den Kettenvogt an der Schulter, und als dieser ihn mit den blutunterlaufenen Augen anstierte, nickte er ihm höhnisch grinsend zu.

Gleich darauf ertönte der helle Klang, mit dem Goldstücke ausgezählt wurden. Röchler hatte seine Blicke wieder scharf auf den Kettenvogt gerichtet. Dieser dagegen, von unbezähmbarer Raubgier erfüllt, ballte die neben der Öffnung auf den Brettern ruhenden Hände, als hätten sie sich in eine Kehle eingekrallt gehabt.

Röchler frohlockte. Kein Küchlein, eben dem Ei entschlüpft, hätte sorglicher gepflegt werden können, als der in den Fesseln eines bösen Gewissens und der Furcht vor dem Zuchthause sich windende Sklave die Rache gegen seinen Verderber und unumschränkten Gebieter vorbereitete, um dadurch zugleich seine Freiheit zurückzugewinnen.

Mehrere Minuten dauerte das Zählen des Geldes; erst nachdem die Karussellmutter die ausbedungene Summe auf ihrem Körper geborgen hatte, nahm sie ihr Gespräch mit Nathan wieder auf. Zugleich näherten sie sich der Tür, wodurch ihre Worte allmählich undeutlicher wurden und endlich in unverständliches Murmeln übergingen. Diese Zeit benutzte Röchler die Bretter in ihre alte Lage einzufügen und mit dem Wagenkissen zu bedecken. Aber Mühe kostete es ihn, den Genossen, dessen Räubernatur erwacht war, zum Aufstehen zu bewegen. Geräuschlos schlichen sie nach dem Ausgange hin, aber erst nachdem Röchler die Hand auf das Schloß gelegt hatte, löschte er das Licht aus.

»Haben Sie alles gehört, was da unten verhandelt wurde?« fragte er flüsternd, bevor er öffnete.

»Alles, alles,« antwortete der Kettenvogt ebenso leise, und fragend traf sein Atem Röchlers Gesicht; »er zeigte ihr seine Schätze – Hunderttausende von Talern – verdammt! Wer da einen Griff hineintun könnte! Dann zählten sie lumpige sechshundert Taler in Gold, – Silber klingt anders – und sechshundert erhält sie nachgezahlt. Zum Teufel mit dem Geldspinde! Kein Schlüssel richtet dagegen etwas aus, aber scharfe Zentrumbohrer; die echten schneiden Eisen wie Butter – welchen Weg mag das Satansweib eingeschlagen haben?«

Röchler triumphierte.

»Sie verstanden mich falsch,« bemerkte er scheinbar ungeduldig, »das Gold kümmert Sie so wenig wie mich. Aber von dem Mädchen sprachen sie, von der jungen Sängerin, eine Art Kaufkontrakt wurde abgeschlossen –«

»Zum Teufel mit dem Mädchen, samt der Hexe,« fiel der Kettenvogt grimmig ein, »ich hörte nur von Gold und gelogen hat der alte Spitzbube obenein: 's ist alles sein Eigentum. Dem vertraut niemand 'ne Pfeife Tabak an, geschweige denn 'nen Sack voll Goldrollen.«

»So wäre meine Mühe vergebens gewesen,« versetzte Röchler mit heimlichem Frohlocken, »ich hoffte, in Ihnen einen Zeugen zu gewinnen, wenn das zwischen Nathan und dem Weibe getroffene Übereinkommen vielleicht üble Folgen nach sich zöge.«

»Gehört habe ich mancherlei,« gab der Kettenvogt nunmehr zu, »aber des Satans will ich sein, wenn ich weiß was. Doch das verschlägt nichts; ich bezeuge und beschwöre alles, was Sie verlangen – aber noch 'n Wort: Wenn Sie wieder jemand gebrauchen, nehmen Sie nie 'nen andern als mich. Denn kommt's unter die Leute, wie's hier drinnen aussieht, möchten des alten Gauners Schätze die längste Zeit unangetastet geblieben sein.«

Unten ging wiederum eine Tür. Der Schreiber ergriff des Genossen Arm und preßte ihn krampfhaft. Aus der Richtung des Geräusches hatte er erkannt, daß Nathan seine Wohnung nach alter Weise durch eine Hintertür verließ. Anstatt aber Röchler, wie schon mehrfach, einen flüchtigen Besuch abzustatten, schlich er an der Treppe vorbei auf die Straße hinaus.

Röchler seufzte erleichtert auf.

»Kam er hier herauf, so waren wir verloren,« bemerkte er, wie zu sich selbst sprechend, indem er, dem Kettenvogt voraus, sich der Treppe näherte.

»Ich hätte ihm's Genick gebrochen,« versetzte der Räuber wild, »und der Teufel hätt's ihm angesehen, ob er die Treppe hinuntergestolpert oder durch 'nen gesunden Fußtritt hinabgeschickt worden wäre.«

Sie waren unten angekommen, wo sie sich voneinander trennten. Der Kettenvogt begab sich nach seiner Schlafstelle im Hintergebäude, Röchler schlich in seine Kammer, und Totenstille herrschte in den Höhlen der Wölfe und Hyänen. –

Draußen stürmte und regnete es noch immer nach alter, ungeschwächter Weise, und mit den Wetterfahnen, Herbergsschildern und kranken Fensterladen wirtschaftete der Wind, als hätte er deren Vernichtung in Akkord übernommen gehabt. Doch was kümmerten Nässe und Unwetter den weisen Nathan, wenn ein Geschäft von Wichtigkeit seinen Geist rege hielt? Und ein Geschäft von großer Wichtigkeit mußte es sein, das ihn noch um Mitternacht durch die feuchten Straßen trieb. Freilich! der weise Nathan war keine furchtsame Natur; außerdem befand er sich auf vertrautem Boden. Das bewies die Sicherheit, mit der er um die Ecken der Gassen und Gäßchen herumhuschte, bald auf der einen Seite, bald auf der andern seinen Weg wählte und endlich vor einem hohen, weit übergebauten Hause, dessen niedrige Fenster kaum zwei Fuß über dem Straßenpflaster lagen, stehen blieb.

Vier Stufen führten zu der Haustür niederwärts. Behutsam stieg er hinab; dann zog er zweimal an der Klingelschnur, deren Griff nur ein mit der Örtlichkeit sehr Vertrauter in der Finsternis zu entdecken vermochte.

Nach einigen Minuten näherten sich im Innern schlurfende Schritte. Nathan rief ein hebräisches Wort hinein, eine ähnlich erteilte Antwort erfolgte, die Tür öffnete sich, ein gerunzeltes Eulengesicht, dessen hagerer Körper in einem unsauberen Kattunkleide steckte, und von einer flackernden Tranlampe beleuchtet wurde, erschien, und der weise Nathan befand sich an seinem Ziele.

»Ist die Rosamunde daheim?« fragte er dringlich, nachdem die Tür wieder verschlossen worden war.

»Alle daheim,« krächzte das Weib, »aber im tiefen Schlaf liegen sie. Haben sie gearbeitet bis nach Mitternacht jeder auf seine Weise, und ist ihnen zu gönnen die Ruhe.«

»Geh', wecke mir die Rosamunda,« versetzte Nathan gebieterisch, »sage ihr, daß ich notwendig gebrauche ihre Hilfe: dann fertige mir 'nen warmen Trunk an und geselle dich zu uns, auf daß du aushelfest mit deinem Rat und deinem Urteil.«

Das Weib stieß eine Tür auf, und Nathan die Lampe reichend, riet es ihm, sich seinen Weg zu suchen, während es selbst eilte, die empfangenen Befehle auszuführen.

Als Nathan das Haus wieder verließ, meldeten die Turmuhren die dritte Morgenstunde. Es regnete noch immer, als hätte es nie aufhören wollen.


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