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Siebentes Kapitel.

Ein besorgter Vater.

Seit beinahe einer Woche weilte Maßlieb unter Merediths gastlichem Dache; seit beinahe einer Woche hatte sie die Beweise aufrichtigen Wohlwollens empfangen, aber noch immer war keine Änderung in ihrem scheuen; verschlossenen Wesen eingetreten. Noch immer peinigte sie das Bewußtsein, sich durch eine Täuschung an den freundlichen Menschen versündigt zu haben, und doch konnte sie sich nicht zur Offenbarung der Wahrheit entschließen. Das Wort »Landstreicherin« hatte noch immer die Bedeutung eines Schreckgespenstes für sie.

So war beinah eine Woche dahingegangen, als Meredith ihren neuen Schützling zum ersten Male aufforderte, sie in die Stadt hineinzubegleiten. Sie war ungemein lebhaft, sogar heiter in ihrer Art, und mehrfach entschlüpfte ihr die Bemerkung über einen glücklichen Wechsel ihrer Vermögensverhältnisse, der ihr gestattete, auch für die äußere Erscheinung der neuen Kabul die entsprechende Sorge zu tragen.

Wie im Traum folgte ihr Maßlieb, mit erzwungenem Lächeln schüchterne Antworten auf die an sie gerichteten Fragen erteilend. Sie wanderten durch Wäscheladen und Kleiderhandlungen, und überall entdeckte Meredith etwas, wovon sie meinte, daß es zu dem lieblichen Antlitz ihrer Begleiterin passe und daher um jeden Preis erstanden werden müsse.

Allmählich gelangten sie auf ihrem Wege in die Nähe eines öffentlichen Platzes, wo gerade eine durch Pauke, Becken und Triangel unterstützte Drehorgel ihre betäubenden Klänge laut werden ließ.

Ein Schwarm von Kindern, Kinderwärterinnen und Soldaten umringte die Musik, die den Mittelpunkt eines pilzartig gebauten Baldachins bildete, unter dessen breitem Dache gegen dreißig ungestaltete Bestien, je zu zweien, ein angestrengtes Wettrennen im Kreise herum abhielten, ohne eine der andern auch nur um einen Zoll näher zu rücken. Auf den Bestien thronten stolz die jugendlichen Reiter, die gegen mäßige Entschädigung sich kühnlich sogar auf feuerspeiende Drachen geschwungen hatten, und mit hochgehobenen Speeren nach den aus einem eigentümlich geformten eisernen Behälter hervorlugenden Ringen stachen.

Maßlieb blieb bestürzt stehen. Gegen eine Ohnmacht kämpfend, starrte sie nach dem Karussell hinüber, in dessen Mitte die Karussellmutter stand, den Paukenschlägel handhabend und zugleich einen losen Messingdeckel auf den mit der Pauke vereinigten niederrasselnd. Ein weißes Mullkleid, ziemlich unsauber und zerknittert, umschloß ihre vierschrötige Gestalt. Rote und blaue Bandstreifen und eine geknickte schwarze Straußenfeder vervollständigten ein Kostüm, das auf die jugendlich lebhaften Phantasien des reitlustigen Publikums berechnet war.

Neben ihr stand Kappel, der heruntergekommene Korpsbursche. Sein Aufputz beschränkte sich darauf, daß er Schnurbart und Knebelbart in etwas feindseligere Spitzen gedreht und den Hut mit einem Kranz verdorrter Eichenblätter etwas mehr nach dem einen Ohr hinübergeschoben hatte. Sein Gesicht konnte dagegen nichts weniger als ein festliches genannt werden; nicht einmal sein gewöhnliches alltägliches war es. Denn anstatt mit der ihn charakterisierenden, unendlichen Sorglosigkeit, blickte er melancholisch über die kreisenden Bestien und umstehenden Leute fort zum blauen Himmel empor. Die Orgel drehte er mit der rechten Hand, während er mit der linken den seitwärts von ihm hangenden Triangel rührte.

Außerhalb der Reitbahn, auf einem erhöhten Gerüst, weithin kenntlich an seiner Goldtresse, stand der Karussellvater selber, immer neue Ringe in den Blechkasten werfend, die fast ebenso schnell von der beherzten Jugend fortgestochen wurden.

Der gute, biedere Admiral Lenkhart!

Plötzlich sah er von seiner Arbeit auf und sich halb umkehrend, sandte er seine Blicke zufällig auch zu Maßlieb hinüber. In ihrer Todesangst ergriff sie Merediths Hand, um sie mit sich fortzuziehen. Diese dagegen lächelte gutmütig spöttelnd, indem sie in das bleiche Antlitz und in die großen, flehenden Augen schaute.

»Eine Kabul und so ängstlich,« fragte sie, ergötzt durch den Ausdruck einer nach ihrer Meinung kindischen Befangenheit, »bist du in so tiefer Zurückgezogenheit aufgewachsen, daß solch Treiben dir unnatürlich erscheint?« Dann fuhr sie aufmunternd fort: »Komm, laß uns die harmlose Kurzweil der Leute in der Nähe betrachten. Und dann jene auf Rädern erbaute Arche. Es sind zwar nur Landstreicher, denen sie eine Heimstätte bietet, das schließt indessen nicht gewisse Poesie aus. Komm, solche Leute besitzen zuweilen Altertümer –«

»Ich kann nicht,« lispelte Maßlieb, auf dem Gipfel ihrer Todesangst, während sie fortgesetzt den Admiral betrachtete, der seine Aufmerksamkeit wieder den Ringen zugewandt hatte, »das Drehen – ich ertrage es nicht – alles dreht sich mit mir –«

»So, so,« versetzte Meredith mit einem forschenden Blick in Maßliebs Augen, »also darin liegt der Grund deines Zitterns? Nun, ich bin die Letzte, welche dich quälen möchte.«

So sprechend gab sie Maßliebs Drängen nach, und halb von ihr gezogen, schlug sie den Rückweg ein.

Aber erst als sie sich fern von dem Karussell befanden, atmete Maßlieb freier, und erlangte sie ihre äußere ruhige Haltung zurück. Wie es aber in ihrem armen, ängstlich zitternden Herzen aussah, hätte nur derjenige geahnt, der nach ihrer Heimkehr sie beobachtete, wie sie in ihrem Giebelstübchen die Hände rang, und doch so besorgt war, keine Tränen zu vergießen, damit auf ihrem Antlitz keine Spuren innerer Verzweiflung und Trostlosigkeit zurückblieben.

Die Annäherung des Abends trieb sie endlich wieder hinab. In das Wohnzimmer eintretend, gewahrte sie ihre Beschützerin in angelegentlichem Gespräch mit einem fremden Herrn. Leise wollte sie zurückweichen, als Meredith sie aufforderte, zu bleiben. Der Fremde, ein großer, bleicher Mann mit ernsten, fast leidenden Zügen hatte sich erhoben. Mit unverkennbarer Bewunderung betrachtete er Maßliebs freundliche Erscheinung, wie sie tief errötend, sich schüchtern näherte und, mit natürlicher Anmut auf seinen Gruß durch eine leichte Verbeugung dankend, sich an Merediths Seite niederließ.

»Eine Kabul«, bemerkte Meredith, sichtbar geschmeichelt durch den Eindruck, den Maßlieb unbewußt gerade durch ihre Befangenheit ausübte, »zwar einer Seitenlinie entsprossen, steht es ihr als meiner Verwandten doch zu, unseren Verhandlungen beizuwohnen. Die Kabuls zeichneten sich von jeher durch Diskretion aus und verdienten das Vertrauen, das jedermann ihnen zollte.«

Der Fremde hatte wieder Platz genommen. Auf seinem noch jugendlichen, von einem schwarzen Vollbart beschatteten, wohlgebildeten Antlitz ruhte Mißmut über das unerwartete Eintreffen eines Zeugen, und dennoch hätte er Maßliebs Anblick ungern eingebüßt. Mehrfach strich er mit der Hand über seine dunklen, ruhigen Augen, als traue er ihnen nicht, daß sie in Wahrheit ein Bild vor ihn hinzauberten, das gerade seiner augenblicklichen Stimmung angepaßt war. Da unterbrach Meredith sein Sinnen:

»Ihr ernster Wille ist es also, sich von den ehrwürdigen Reliquien zu trennen? So gern ich auf Ihren Vorschlag eingehe, erweckt es doch traurige Betrachtungen, daß jemand Erbstücken entsagt, an denen ein Verstorbener nicht nur mit großem Eifer, sondern auch mit Sachkenntnis sammelte. Ich denke an die Möglichkeit, daß dereinst ähnlich über meine eigenen Altertümer verfügt werden könnte.«

Über des jungen Mannes Antlitz eilte ein unsäglich bitteres Lächeln, indem er, den auf ihn gerichteten Blicken ausweichend, vor sich niedersah.

»Es muß sein,« versetzte er zögernd, »innerhalb sieben oder acht Monaten verlasse ich diese Gegend auf Nimmerwiederkehr. Ein Mitnehmen der ganzen Sammlung verbietet sich aus naheliegenden Gründen. Meine Pietät für diese aber offenbart sich wohl hinlänglich, indem ich sie an Sie abzutreten wünsche, von der ich weiß, daß Sie sie in Ehren halten werden.«

»Eine gute Stätte soll sie bei mir finden,« erwiderte Meredith, »allein ich möchte die Sachen doch vorher sehen. Sind Sie damit einverstanden, so erlaube ich mir, Ihnen schon in den nächsten Tagen einen Besuch abzustatten.«

Der junge Mann erschrak. Aufschauend, sah er gerade in Maßliebs Augen, die mit der ängstlichen Spannung eines Kindes auf ihm ruhten. Aber, als sei er durch diesen Blick bis in die Seele hineingetroffen worden, kehrte er sich hastig Meredith wieder zu.

»Es wird mir schwer,« wendete er verwirrt ein, »allein den mir gütig zugedachten Besuch muß ich ablehnen. Ich wohne auf dem Lande, mehrere Meilen von hier, und, abgesehen von der zeitraubenden Fahrt, befinde ich mich auch selten zu Hause. Bald hier, bald dort weilend, darf ich Ihnen nicht eine solche Reise zumuten. Ich fertigte daher ein Verzeichnis der betreffenden Gegenstände an – alle sind gut erhalten, und da ich weiß, daß Sie überhaupt geneigt sind, sie käuflich zu erwerben, so schaffe ich alles binnen kürzester Frist hierher. Eine Verpflichtung Ihrerseits wäre damit keineswegs verbunden.«

»Eine volle Rüstung aus dem vierzehnten Jahrhundert«, las Meredith die ersten Nummern des Verzeichnisses laut; »ein Morgenstern mit vergoldeten Arabesken; Armbrust mit Elfenbein ausgelegt.«

»Wertvolle Reliquien,« fügte sie hinzu, und ihre Augen leuchteten, »dabei die Preise mäßig, sehr mäßig. –«

»Ich erlaubte mir, die Preise festzuhalten, die mein Vater selber zahlte,« fiel der Fremde verlegen ein, »er führte seine Bücher sehr pünktlich. Es kostete mich daher keine große Mühe, die einzelnen Nummern auszuziehen.«

Meredith hörte nicht mehr. Von neuem in die Liste vertieft, war sie für alles um sie her unempfindlich. Maßlieb wendete dagegen keinen Blick von ihm, der mit sichtlicher Befangenheit und Besorgnis Merediths Entscheidung entgegenharrte. Sie erriet, daß nur die bitterste Not ihn zu dem Verkauf der letzten Andenken seines Vaters trieb, und seine Seele sich in Schmerzen wand unter der grausamen Notwendigkeit sich von den Wertsachen trennen zu müssen.

Von Mitleid bewegt neigte sie sich näher zu ihm hin, aber dann raffte sie sich wieder empor. Welch ein Recht hatte sie, die Landstreicherin, zu Kundgebungen ihres Mitleides?

Da öffnete sich zweimal hintereinander das Helmvisier.

Maßlieb warf einen fragenden Blick auf Meredith; dann auf den dunkeln Flur hinauseilend, öffnete sie die Haustür und mittels eines besonderen Drahtzuges auch die Gartenpforte.

Diese klirrte, und mit schleichenden Bewegungen näherte sich die Gestalt eines Mannes dem Hause. Kaum aber hatte Maßlieb ihn erblickt, als sie mit der Hand den Türpfosten suchte, um sich vor dem Umsinken zu bewahren. Tödliche Lähmung durchströmte sie; ebenso schnell aber belebte die Angst sie wieder. Ähnlich einem aufgescheuchten Reh eilte sie bis zur äußersten Grenze des Flurs zurück, und nur von dem Gefühl der Selbsterhaltung beseelt, legte sie die Hand auf das Schloß von Merediths Tür, mit atemloser Spannung nach dem Garten hinüberspähend. Gleich darauf unterschied sie die Schritte des Mannes auf den Stufen. Behutsam öffnete sie die Tür so weit, daß ein schmaler Lichtstreifen auf den Flur hinausdrang, und mit der Geräuschlosigkeit eines Schattens schlüpfte sie in den Seitengang.

Der Fremde klopfte unterdessen höflich, und ebenso bescheiden schloß er die Tür wieder, nachdem er eingetreten war. Draußen aber lehnte Maßlieb ihre heiße Stirn an das Schloß, mit fliegenden Pulsen auf jedes in dem Zimmer zwischen Meredith und dem neuen Besuch gewechselte Wort lauschend.

»Ein dringendes Anliegen zwingt mich, die geehrten Hausbewohner zu stören,« drang Lenkharts gleißnerisches Organ zu Maßlieb heraus, »mich treibt die Besorgnis um ein junges Mädchen, das hier Aufnahme gefunden haben soll.«

»Ich nahm in der Tat ein junges Mädchen bei mir auf,« versetzte Meredith, ohne sich zu erheben oder die fremde Erscheinung, die durchaus keinen günstigen Eindruck auf sie machte, zum Nähertreten einzuladen, »und nachdem ein gutes Glück die junge Waise mir zuführte, bin ich wenig geneigt, sie wieder von mir zu lassen.«

»Eine große Freude gewährt es mir, wenn das Kind verstand, sich einzuschmeicheln,« erwiderte Lenkhart noch immer unterwürfig, »trotzdem muß ich ernstlich darauf bestehen, mir mein Recht nicht zu verkürzen.«

Hell und klar erklang das allen bekannte Lied über den Hof: Fern im Süd das schöne Spanien.

»Zuvor würden Sie Ihre zweifelhaften Rechte zu beweisen haben,« entschied Meredith streng.

»Eine leichte Aufgabe,« lächelte der Admiral milde, und die Blicke auf die zwischen seinen Fäusten sich drehende Goldtresse gesenkt, »eine sehr leichte Aufgabe, wenn einem Vater gegenüber seiner leiblichen Tochter überhaupt noch ein Recht eingeräumt wird.«

Meredith sprang empor und maß Lenkhart finsteren Blickes. Ihr Gefühl sträubte sich dagegen, ihn als Verwandten anzuerkennen; doch ihrer wunderlichen Geistesrichtung, wenn auch mit Widerstreben, nachgebend, fragte sie ruhig:

»So heißen Sie Kabul?«

»Ich bitte um Verzeihung« lächelte Lenkhart heuchlerisch.

»Oder vielmehr Kappel?« fuhr Meredith, ihn unterbrechend, fort.

»Weder Kappel noch Kabul; mein ehrlicher Name ist Lenkhart, und das Karussellfach mein Gewerbe.«

Meredith bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie vergegenwärtigte sich Maßliebs befremdendes Wesen, als der Zufall sie in die Nähe des Karussells führte. Ihr nächster Gedanke war, daß ein Betrüger vor ihr stehe, in dessen Gewalt Maßlieb bereits zu leiden gehabt habe, und unter dem Eindruck solcher Mutmaßungen blickte sie plötzlich wieder empor.

»Sie behaupten, Lenkhart zu heißen und daß das Kind ihre Tochter sei,« hob sie drohend an, »das Mädchen stellte sich dagegen als eine Kabul vor. Wem soll ich glauben? Ihnen nicht. Und erklärte das Kind selber sich für Ihre Tochter, würde ich dennoch die gerechtesten Zweifel hegen; denn sie ist eine Kabul, eine echte Kabul, was auch immer Ihren Beziehungen zu ihr zugrunde liegen mag.«

Merediths zuversichtliches Auftreten schien Lenkhart zu verwirren. Doch nur wenige Sekunden dauerte seine Unentschlossenheit. Dann rief er, die Hände faltend, inbrünstig aus:

»Meine geliebte Tochter will man von mir reißen? Maßlieb, die Freude ihrer Eltern? O, Maßlieb! Warum müssen wir deinetwegen unser kärgliches Brot fortgesetzt unter Sorgen und Tränen essen?«

»Was bewegte das Kind, sich von Ihnen zu trennen?« fragte Meredith ungerührt.

»Sie treiben mich zu einem schmerzlichen Geständnis,« antwortete der Admiral, »allein um den Preis, wieder mit meiner Tochter vereinigt zu werden, bringe ich auch dieses Opfer, so schwer es mir auch werden mag: Unsere Maßlieb war ein gutes, freundliches Kind, eine folgsame Tochter, die die Stütze unseres Alters zu werden versprach. Doch unsere Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. War unsere blinde Liebe die Ursache, oder die unstete Lebensweise, genug, unsere Tochter wurde eine eigensinnige Landstreicherin. Sie begann damit, uns in kleinen Dingen zu hintergehen, und anstatt durch Züchtigungen gebessert zu werden, übten solche die entgegengesetzte Wirkung auf sie aus. Sie wurde störrisch, und als sie erst inne wurde, daß wir die Gewalt über sie eingebüßt hatten, erklärte sie, sie sei es müde, Pauke und Becken zu schlagen, und eh' wir uns dessen versahen, entlief sie. Ein glücklicher Zufall führte mich auf ihre Spur, und in dem Augenblick, in dem ich die noch immer geliebte Landstreicherin in meine Arme zu schließen hoffe, erfahre ich, daß sie sich einen falschen Namen beigelegt hat.

In diesem Augenblick erhob sich der junge Fremde, der so lange mit ernster Spannung dem Gespräch gefolgt war.

»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Fräulein Kabul,« wendete er sich an diese, die, wie in einen wüsten Traum versenkt, finster vor sich niederschaute, dann vor Lenkhart hintretend, maß er ihn mit ruhigen Blicken.

»Das junge Mädchen, auf das Sie Ihre Schmähungen häufen, sah ich vor einer Stunde zum erstenmal,« hob er an, und im Tone seiner Stimme offenbarte sich Verachtung und Ungläubigkeit, »und dennoch wage ich zu behaupten, daß Ihre Anklagen auf einer Entstellung der Wahrheit beruhen. Sie nennen sich den Vater des armen Kindes? Sie, in dessen Worten eher alles andere verborgen ist, als auch nur eine Spur jenes geheimnisvollen Instinktes, mit dem sogar eine Wölfin ihre Jungen verteidigt?«

Lenkhart bedurfte der Überlegung zu einer Antwort. Endlich begann er zögernd, wie mit innerem Widerstreben:

»Ich sehe, das Äußere meiner Tochter hat Sie bestochen – sie ist ja so gewandt in Schauspielerkünsten –, doch rufen Sie sie hierher und versuchen Sie, ob sie zu bestreiten wagt, daß ich ihr Vater bin, daß sie unter einem falschen Namen sich hier eindrängte. Gibt die böse Landstreicherin aber zu, den einen Betrug ausgeführt zu haben, welchen Glauben verdienen dann ihre anderen Beteuerungen? Im übrigen gestatten Sie die Frage:

Wenn Sie mein Töchterchen erst seit einer halben Stunde kennen, wie darf ich mir erklären, daß Sie dennoch eine so innige Teilnahme für die Landstreicherin an den Tag legen? Sollte Ihre Bekanntschaft mit meiner ungeratenen Tochter wirklich erst eine halbe Stunde alt sein?«

Der junge Mann prallte zurück. Er war so bestürzt über Lenkharts berechnende Bosheit, daß er ihm nur einen zermalmenden Blick zuzuwerfen vermochte. Wiederum das dumpfe Schweigen. Draußen aber, vor der Zimmertür, knisterte der Sand unter schmalen Füßen, indem eine in sich zusammengebrochene Gestalt von dem Flur in den Garten hinausschwankte.

Meredith war die Erste, die nach Lenkharts hinterlistigem Angriff auf Maßlieb Worte fand.

»Warum verlieren wir Worte?« fragte sie kalt, aber ihre Blicke verrieten, wie heftig es in ihrem Innern arbeitete, »das Mädchen ist eine Kabul und wird die scheußlichen Anklagen jenes Wahnsinnigen mit dem ganzen Stolz und der ganzen Verachtung einer echten Kabul zurückweisen –«

Der Helm klirrte.

»Eine andere Kabul,« fuhr sie nach einem flüchtigen Blick auf das niedersinkende Visier ruhiger fort, »auch sie besitzt ein klares Urteil. Sie soll das Kind herbeirufen und dann wird sich zeigen, ob jener Wahnsinnige den Mut besitzt, einer Unschuldigen gegenüber seine Anklagen aufrechtzuerhalten.«

Lenkhart suchte nach Worten zu einer Erwiderung, als Esther eintrat und, erstaunt über die fremden Gesichter, in der Nähe der Tür stehen blieb. »Esther Kabul,« redete Meredith sie alsbald an, »dein frühes Eintreffen ist mir doppelt willkommen. Gehe hinauf zu Maßlieb und führe sie hierher. Sage ihr, es trete die Aufgabe an Sie heran, wie eine echte Kabul den bösesten aller Schmähungen zu begegnen habe. Du aber stehe ihr zur Seite, um jenem Menschen Gelegenheit zu geben, vor der aus deinem Antlitz sich spiegelnden Entrüstung kläglich in sich zusammenzuschauern.« Esther erschrak über den in Merediths Wesen sich offenbarenden feierlichen Ernst. Sie schien eine nähere Erklärung zu erwarten, als eine befehlende Handbewegung sie zur Eile trieb.

Eine Minute verrann und noch eine, ohne daß die Stille in dem Zimmer anders als durch der Altertümlerin Schritte unterbrochen worden wäre.

Plötzlich blieb Meredith stehen.

»Das verleumdete Kind scheut sich einzutreten,« suchte sie vor den anderen wie vor sich selber Esthers langes Ausbleiben zu entschuldigen.

Schnelle Schritte kamen die Treppe herunter und gleich darauf erschien Esther bleich und atemlos.

»Sie ist verschwunden!« klagte sie laut, »sie ist entflohen –«

»Nein, sie ist eine Kabul,« herrschte Meredith ihr zu, »sie besitzt ihren Stolz, sie verschmäht es, einem böswilligen Verleumder Rede zu stehen!«

»Das Kleid, das sie heute trug – es liegt da,« wendete Esther angstvoll ein, »dagegen fehlt der Anzug, in dem sie bei uns eintraf.«

Meredith sank schwerfällig auf einen Stuhl, und Lenkhart fest ansehend, sprach sie drohend:

»Verursacht Ihr Eindringen, daß die Ärmste hilflos in die Welt hinausfloh, dann mögen Sie auf das Ärgste gefaßt sein. Das Karussell behalte ich im Auge und wehe Ihnen, wenn –«

Lenkhart wich vor Merediths drohender Armbewegung bis an die Tür zurück, und entfernte sich gleich darauf eilig.

»Also fort?« fragte Meredith, sobald Lenkhart verschwunden war.

»Sie hält sich vielleicht noch im Garten oder im Hause selber verborgen,« antwortete Esther zaghaft.

»Nein,« entschied Meredith streng, »sie wechselte die Kleider, und darin liegt alles. Arm und elend, wie sie hier einzog, ist sie wieder gegangen. Sie ist eine Kabul, mögen auch sonst gerechte Vorwürfe sie treffen. Ich aber will ihren Namen nicht mehr hören, will nicht mehr daran erinnert werden, daß auch eine Kabul zur – zur Landstreicherin herabsinken kann. Und nun zu den Geschäften,« raffte sie sich mit gewaltsam erzwungener Ruhe empor, und sich nach dem Schreibtisch hinüberbegebend, nahm sie die Liste der Altertümer wieder zur Hand.

Der Name Maßlieb wurde nicht mehr ausgesprochen. Um so schwerer lastete die Erinnerung auf allen, die in flüchtigen Verkehr mit dem scheuen, märchenhaften Wesen getreten waren.


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