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Drittes Kapitel.

Die Arche.

Der Sonnenschein eines lieblichen Spätsommernachmittages ruhte auf breiten Sandflächen und düstern Kiefernwaldungen: aber auch Wiesen wurden von ihm bedacht, Wiesen mit duftendem Heu, abgeerntete Äcker, Dörfer mit langen und kurzen Dächern, und mit Gruppen zerstreuter Feldarbeiter, die sich mit dem Einheimsen von Erdfrüchten beschäftigten. Bläulicher Herbstduft verschleierte traumhaft die Fernsicht. Hier lief ein Landweg, dort eine Chaussee, dort wieder eine Eisenbahn, durch die von ihnen innegehaltenen Richtungen die Lage der Hauptstadt verratend.

Auf einer Stelle der Chaussee, wo ein Landweg, zwischen zwei Dörfern vermittelnd, sie kreuzte, und zwar auf dem grasreichen Ufer eines tiefen Grabens, rasteten zwei Wanderer: ein älterer Mann und ein junges Mädchen, sie hatten offenbar ein tüchtiges Stück Weges zurückgelegt; denn dicker Staub bedeckte ihre Gesichter und Kleider.

Zwischen ihnen auf dem Rasen lag ein Dutzend in heißer Asche geröstete Kartoffeln und ebensoviel reife Äpfel. Jene hatten sie einige hundert Schritt weiter zurück am Waldesrande von Leuten erbeten, die dort, von der Arbeit des Kartoffelausgrabens rastend, vor einem Krautfeuer ihre Vesperstunde hielten.

»Auf dein Wohl, Maßliebchen; mögest du fortfahren, allezeit munter oben zu schwimmen, wie auf einer Tasse Cichorienwasser ein duftendes Tröpflein Rosenöl, das sich trotz allen Schüttelns nie mit jener verächtlichen Brühe vermischt.«

Also sprach der ältere der beiden Reisenden, indem er ein breites Fläschchen von blauem Glase an seine Lippen führte. Der da sprach war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit verwittertem Gesicht und gutmütigen Augen. Ein gewaltiger brauner Schnurrbart und ähnlicher Kinnbart vervollständigte sein Äußeres, das im übrigen noch merkwürdig erschien durch ein Paar Hände, die auffällig klein und wohlgebildet, doch so gebräunt waren und so hornige Schwielen aufwiesen, wie nur schwere Arbeit beides im Gefolge hat.

Während er mit behaglich gurgelndem Geräusch den erquickenden Trank zu sich nahm, ruhten auf seinem Antlitz ein Paar Augen, groß und dunkel, aber übermütig dabei blitzend, als wären sie die Wohnstätte von mindestens zehntausend mutwilliger Kobolde gewesen. Den prachtvollen Diamantaugen entsprachen die vollen, leicht aufgeworfenen Lippen, die, indem sie sich zu einem spöttischen Lächeln voneinander trennten, blendendweiße Zähne hervorschimmern ließen.

Der Anzug dieses fast noch auf der Grenze der Kindheit stehenden jungen Mädchens war nur wie der des Mannes, ärmlich, nebenbei vielfach geflickt und gestopft, und zwar mit riesenhaften und obenein unregelmäßigen Stichen. Doch umso sorgfältiger behandelt erschien das hübsche Gesichtchen mit den dunklen, seidenweichen Locken, die ein dichter Kranz von Eichenlaub schmückte und zugleich eine Art Schutz gegen den Sonnenbrand bildete. Auch die Lederschuhe, die die zierlichen Knöchel umschlossen, waren gut erhalten.

Nachdem der alte Landstreicher getrunken hatte, reichte er tändelnd die Flasche seiner Gefährtin dar. Diese warf spöttisch die Lippen empor, und anstatt die Flasche aufzunehmen, schnitt sie eine Scheibe von dem in ihren Händen befindlichen Apfel.

»Auf dein Wohl, Onkel Kappel!« sprach sie lachend, indem sie das Scheibchen zwischen ihre Perlenzähne legte, – »haßte ich, klares Wasser abgerechnet, nicht alle Getränke aus dem Grunde meiner Seele, würde ich's dennoch schwerlich übers Herz bringen, dir die scheußliche Labung um einen Tropfen zu verkümmern.«

Kappel jodelte eine kurze Schweizermelodie, wozu er mit dem Pfropfen den Takt auf der Flasche rieb. Dann die Flasche auf seinem Körper bergend, kehrte er sich seiner Begleiterin wieder zu.

»Maßlieb,« rief er sorglos aus, und eine Kartoffel mitten durchbrechend, ließ er deren noch warmen Duft wohlgefällig in seine recht bemerkbare Nase ziehen, »wenn du nicht das gescheiteste und obenein edelste Pflänzchen bist, das sich jemals unter verächtliches Unkraut verirrte, ohne selbst zum Unkraut zu werden, will ich mir an diesem vorzüglichen Gewächs einen Zopf essen, wie ihn kein jubiläumsfähiger verknöcherter Geheimrat stattlicher aufzuweisen vermag!«

»Gescheit genug,« antwortete Maßlieb ernst einen neuen Apfel schälend, »und wäre der biedere Onkel Kappel in seiner Jugend nur halb so gescheit gewesen, möchte er heute selber Geheimrat sein.«

»Womit du zu verstehen gibst, daß eine geringe Lebensstellung deinen Neigungen nicht entspricht,« lachte Kappel, »Maßlieb, Maßlieb hüte dich vor hochfahrenden Träumen; zu einer angesehenen Stellung gehört mehr, als du in deinem jetzigen Wirkungskreise dir hättest aneignen können.«

»Maßlieb schälte ihren Apfel fertig; dann erwiderte sie: »Wie weit brachtest du es denn mit deiner furchtbaren Gelehrsamkeit? Das einzige, was von dem tollen Korpsburschen blieb, ist dein unverwüstlich heiterer Sinn, obwohl ich nicht begreife, wie du überhaupt noch zu lachen vermagst.«

Kappel jodelte seine Lieblingsmelodie – wenn auch nicht ganz sorglos, wie kurz zuvor – und nahm drei Kartoffeln und zwei Äpfel, sie so geschickt handhabend, daß vier der stellvertretenden Jongleurkugeln beständig in der Luft schwebten. Durch diese Bewegung suchte er offenbar zu verheimlichen, daß Maßliebs Bemerkung eine wunde Stelle getroffen hatte. Plötzlich warf er Kartoffeln wie Äpfel in des jungen Mädchens Schoß, und seinen buschigen Kinnbart behaglich streichelnd, hob er an: »Keinen Grund zur Fröhlichkeit? Meinst du, ich sei als Geheimrat oder sonstiger gehorsamster Fußkratzer glücklicher daran, als heute, da ich als verantwortlicher Minister eines mit den edelsten Untieren der Schöpfung reich gesegneten Marstallbesitzers den Orgelschwengel drehe? Oder köstlicher, als dieser braun geröstete Erdapfel mundeten mir Austern und Hummersalat, wenn ich dabei mit dem einen Auge lüstern auf einen silbernen Teller spähen, mit dem andern dagegen die launenhaften Regungen meines gnädigen Vorgesetzten studieren müßte? bei aller überflüssig verspritzten roten Tinte der Welt! Heute bin ich imstande, jeder Lebenslage die angenehmste Seite abzugewinnen, was mir als subalternem Beamten nie gelänge. Und dann, Kind, was wäre aus dir geworden, hätte dir der biedere Kappel gefehlt, dieser getreue Genius, mit seinem ätzenden Balsam feiner und grober Satire?

»Sehr dankbar, Onkel Kappel,« versetzte Maßlieb indem sie über jedes ihrer kleinen Ohren eine langgeringelte Apfelschale streifte; »lernte ich doch lesen und etwas mehr als meinen Namen schreiben –«

»Pah! Wer gibt heute viel auf dergleichen halsbrechende Künste?« fiel der heruntergekommene Korpsbursche achselzuckend ein, »äußerer Anstand und Geld sind es allein, was das Weib zur begehrten Ware macht; und konnte ich keine gleißenden Schätze für dich sammeln, so hatte ich dafür den Trost, dich vor dem Versinken in den Morast der Gemeinheit zu bewahren. Und versunken wärest du rettungslos, hätte der Kappel dir nicht als Schutzgeist ununterbrochen wachsam zur Seite gestanden. Trotzdem ist's ein Wunder – beim Zeus und seiner eifersüchtigen Hausehre! daß bei den eigenen, gerade nicht rühmenswerten Neigungen mir solches gelang –« hier holte er die Flasche wieder hervor, um mit dem Pfropfen auf dem Glase flüchtig ein kreischendes Stückchen zu reiben – »und vor allem bei der Gemeinheit, deren wir täglich Zeugen sind. Denn gemein ist unser Admiral Lenkhart, dieser scheinheilige Beutelschneider; gemein ist seine Hälfte, von der es unentschieden ist, ob sie die bessere oder die schlechtere genannt werden muß. Gemein, grundgemein sind unsere Rosse, Hirsche, Drachen, Giraffen und Kamele, gemein ist unsere Beschäftigung, und noch gemeiner wäre alles, diente es nicht dazu, unsere Begriffe vom Schönen und Edlen gerade durch die niederschmetternden Kontraste zu verfeinern.«

»Wenn alles dich in so hohem Grade anwidert warum zogst du nicht längst deines Weges?« fragte Maßlieb spöttelnd.

Kappel fuhr mit erheucheltem Schrecken zurück.

»Ohne dich?« rief er aus, »mich von dir trennen? Von dir, dem freundlichen Rätsel, zu dessen Lösung ich mit kaltem Blute das ganze Lenkhartsche Regime in die Luft zu sprengen, sogar vor die Kanzel eines modernen Inquisitors zu bannen vermöchte? Maßlieb, Maßlieb, ich frage wieder: Was wäre ohne den Kappel aus dir geworden!«

»Und dennoch werden wir über kurz oder lang voneinander scheiden müssen,« entgegnete Maßlieb, »ich warte nur auf eine Gelegenheit, und fort bin ich, als ob der erste beste Sturmwind mich davongetragen hätte. Denn, Onkel Kappel –« hier erhielt ihre Stimme einen tieferen Klang – »du selbst wirst einräumen, daß ich für die Lenkhartsche Gesellschaft viel zu schön und zu schade bin. Und schön muß ich sein; weshalb sonst betrachteten mich die Menschen mit dummem Erstaunen? An meine Schönheit aber knüpfen sich die Pläne, bei deren Ausführung ich leider dich nicht gebrauchen kann. Hörte ich doch von Tänzerinnen, die in vergoldeten Wagen fahren, und von Sängerinnen, auf die Perlen und Diamanten einregnen! Meine Stimme aber?« Und:

»Ein Jäger aus Kurpfalz,
Der reitet durch den grünen Wald,«

sang sie hell und melodisch in den sonnigen Äther hinaus.

»Gleichwie es ihm gefällt,«

wiederholte Kappel, nachdem Maßlieb geendigt hatte, die Schlußstrophe. Dann betrachtete er das liebliche Antlitz ein Weilchen mit sinnendem Ernst.

»Auf daß du dereinst deiner Schönheit fluchst,« bemerkte er darauf mit einem Anfluge von Schwermut, »aber Gott sei Dank, Maßliebchen, du weißt nicht, was du sagtest.«

»Keine Gefahr,« lachte das heitere Kind wiederum, »du selbst nanntest mich oft genug früh gereift und glaube mir, trotz meiner erst siebzehn Jahre bin ich in unserer täglichen Umgebung viel zu mißtrauisch geworden, um wie eine alberne Drossel meinen Kopf in eine Schlinge zu stecken und einiger verlockender Beeren halber elendiglich zugrunde zu gehen.«

»Also Vater und Mutter willst du verlassen« – hob Kappel an.

»Als ob du's nicht selbst am besten wüßtest,« fiel Maßlieb ihm munter ins Wort, »die Lenkharts sind gerade so viel meine Eltern, wie du, oder jener Landstreicher, der über die Richtung seines Weges in Zweifel zu sein scheint.«

»Gut,« versetzte Kappel, dem in der Entfernung von einigen hundert Schritten sich langsam Nähernden einen flüchtigen Blick schenkend, ich bestreite nicht, was du sagst; allein sehnst du dich nicht zu erfahren, woher du stammst und auf welche Weise du in die Welt hinausgestoßen wurdest? Und dazu bietet sich doch nur die einzige Möglichkeit in unserm jetzigen Verhältnis.

»Zwei Fälle sind möglich,« antwortete Maßlieb, und etwas sorgfältiger schnitt sie an ihrem Apfel, »entweder meine Eltern sind vornehme Leute und schämen sich meiner, oder sie gehören einem Stande an wie die Lenkharts, und die Reihe des Schämens ist an mir. Weshalb sollte ich mir übrigens die Mühe geben, meine Herkunft zu erforschen? Und was für Anrecht haben überhaupt Eltern an ihr Kind, nachdem sie es verstoßen und sich vierzehn, fünfzehn Jahre und wohl noch länger nicht drum kümmerten?

Ihre Blicke hafteten wieder an dem Fremden, der sich mit lebhaften Bewegungen näherte. Auch Kappel beobachtete ihn aufmerksamer und unterließ daher, das ihm offenbar peinliche Gespräch fortzusetzen.

Trotz seiner militärischen Haltung und des bis unters Kinn zugeknöpften Rockes war die Bezeichnung »Landstreicher«, mit dem Maßlieb den Fremden zuerst belegte, bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt. Denn schäbig waren seine Kleider, schäbig sein schwarzer Zylinderhut, schäbig seine ungesäuberten Stiefel, und sogar dem hageren, gelblichen Gesicht mit dem wirren, stachelfuchsigen Vollbart und der großen dunkelblauen Brille konnte eine Art vornehmer Schäbigkeit nicht abgesprochen werden.

Je näher er den beiden Wanderern rückte, mit um so größerer Teilnahme schien er sie zu betrachten, bis er endlich vor ihnen stehen blieb und ungesäumt über den breiten Graben hinweg sie anredete.

»Es rastet sich gut im Freien,« hob er an, »zumal nach einem tüchtigen Tagesmarsch.«

»Jedenfalls ruht es sich da am besten, wo die Leute am wenigsten gehindert werden,« antwortete Kappel nachlässig; denn eben so sehr wie die blauen Brillengläser verdroß den streng auf Anstand haltenden heruntergekommenen Ästhetiker, daß der Fremde für überflüssig erachtet hatte, seinen Worten einen Gruß vorauszusenden.

Dieser lächelte spöttisch und schärfer richteten die blauen Brillengläser sich auf das junge Mädchen.

»Die Begriffe über das Hindern sind verschieden,« bemerkte er ruhig, »im vorliegenden Falle käme nur in Betracht, wie Sie eine bescheidene Frage auffassen.«

»Für die Verschiedenheit der Fragen eröffnet sich noch ein weiteres Feld,« versetzte Kappel nicht minder spöttisch, »fragen Sie mich nach dem Stande meiner Kasse, so antworte ich: Ebbe. Fragen Sie mich nach Gewerbe und Namen, so habe ich keinen Grund, zu verschweigen: Kappel, fahrender künstlerischer Musensohn. Erkundigen Sie sich dagegen nach meinem Glaubensbekenntnis, so erteile ich Ihnen den wohlmeinenden Rat, bei einem Wohltätigkeitsverein Stellung zu nehmen.«

»Meine Frage ist harmloserer Natur,« erwiderte der Fremde mit geringschätzigem Lächeln, »ich wünsche nämlich zu wissen, ob in der letzten Stunde eine Art Karawane, bestehend aus zwei auffälligen Wagen, von der Chaussee hier in den Landweg eingebogen ist.«

In diesem Augenblick ließ sich von dem Punkte, auf dem die Chaussee den Forst verließ, dumpfes Poltern vernehmen. Maßlieb kehrte sich um, und mit der ausgestreckten Hand nach dem Waldessaum hinüberweisend, fragte sie dienstfertig: »Die dort drüben?«

Der Fremde folgte mit dem Blick der angedeuteten Richtung.

»Das müssen sie sein, ja, das sind sie,« antwortete er etwas lebhafter, »nun ihr Weg führt hier vorbei, und unnötige Mühe wär's, ihnen weiter entgegen zu gehen. Ich vermute, die beiden Herrschaften stehen in näherer Beziehung zu der Arche?«

»Genau so nahe, wie es unserer Laune zusagt,« warf Kappel gleichmütig ein; »frei ist der Bursch, und denjenigen möchte ich sehen, der mich hindern wollte, dem Lenkhartschen Ehepaar Triangel, Pauke, Drehkasten samt seinem ganzen Marstall stückweise an den Kopf zu werfen, und bei dem ersten besten aufgeklärten Dorfpfaffen – nebenbei eine Seltenheit in diesen orthodox-inquisitorischen Zeiten – als Küster, Leichenbitter oder Souffleur in Dienst zu treten? Sie kennen diesen Lenkhart?

»Nicht persönlich,« versetzte der Fremde, und grinste hämisch; »durch Zufall erfuhr ich sein bevorstehendes Eintreffen in der Stadt und da machte ich mich auf den Weg.« »Was von der Berühmtheit der Lenkhartschen Größe zeugt,« rief Kappel unter schallendem Lachen aus! »verdammt! Es sollte mich nicht wundern, wenn hohe Herrschaften die Ehre der Bekanntschaft mit dem Admiral suchten! Dann griff er wieder nach Äpfeln und Kartoffeln. Ein Weilchen ließ er sie in der Luft tanzen; schließlich aber sie rückwärts werfend, kehrte er sich dem offenbar unangenehm berührten Fremden wieder zu.

»Sie bedienten sich der Bezeichnung »Arche«, hob er an, und er drehte seinen Schnurrbart mit der Miene eines Paschas, »und wenn je Blindheit ins Schwarze schoß, so geschah es, als Sie unsere Heimat mit dem Fährboot des weinseligen Noah verglichen, in dem nicht nur alle Bestien des Himmels und der Erde, sondern auch alle sieben Todsünden für die Nachwelt gerettet wurden. Und unser Noah? Hahaha! Nehmen Sie zehn Prozent von einem winselnden Kirchendiener; zwanzig Prozent von einem Bettelvogt und dreißig von einem sogenannten neumodischen Gründer; den Rest füllen Sie auf mit Heuchelei, Tyrannei und Spitzfindigkeit; kneten Sie alles in eine spröde Masse zusammen, geben Sie ihr die Gestalt eines betreßten Türhüters, beglücken sie diese nach unten mit den leise auftretenden Samtpfoten eines Katers, nach vorn mit den frommen Blicken eines Heiligen, nach hinten mit einem Fuchsschwanz; ordnen Sie zum Schluß nach oben sein Haar mit Bürsten der Geduld und Sanftmut, und Sie haben den Admiral Lenkhart vor sich, wie er leibt und lebt.«

Lenkhart, seiner Karawane eine Strecke vorausschreitend, hatte sich unterdessen so weit genähert, daß seine bis auf einen schwarzen Backenbart glatt rasierten Züge ziemlich genau zu unterscheiden waren. Der Titel Admiral, den Kappel ihm beilegte, erschien auf den ersten Blick gerechtfertigt; er hatte sogar sein möglichstes getan, ihn zu verdienen, indem sein Anzug aus einem blauen Tuchrock bestand, und eine Goldtresse um die blaue Mütze geheftet war. Dabei befleißigte er sich eines wiegenden Ganges, als wenn er auf dem Quarterdeck eines Ostindienfahrers das Licht der Welt zum erstenmal angeschrien hätte. Er war auch wirklich Knecht bei einem Kahnfahrer gewesen. Aus dem Schifferknecht war dann ein glücklicher, und mit Hilfe seiner schriftgelehrten Gattin, der Tochter eines Schaustellers, sogar ein gebildeter Archenbesitzer geworden. Ursprünglich hieß er Lenk; nach seiner Verheiratung fügte er indessen diesem Namen noch den seiner Ehehälfte hinzu, woraus das wohlklingendere Lenkhart entstand.

Den vorderen der beiden umfangreichen Wagen lenkte ein Bursche, der nicht zu der Arche gehörte, sondern mit seiner Stellung als Kutscher den wichtigen Zweck verband, nach beendigter Reise die vier Mietsgäule ihrem Besitzer zurückzubringen. Ein Stück Segeltuch schützte die hinter ihm aufgetürmte Ladung gegen den gelegentlichen Einfluß des Wetters, konnte aber nicht verhüten, daß ringsum eine Anzahl gräulicher Bestien sich mit den Köpfen und Vorderfüßen ins Freie drängte und nur mit Mühe am Entlaufen gehindert zu werden schien. Im übrigen konnte diesen Tieren, zumal sie aus Holz gemeißelt waren, ein gewisser Charakter des Umgänglichen nicht abgesprochen werden. Manche waren blind, manchen fehlten die Ohren, allen aber war im Laufe langjährigen schweren Dienstes die Farbe in einer Weise abgestoßen worden, daß die Giraffen sich kaum noch von den Pferden und Kamelen unterschieden, der Hirsche nicht zu gedenken, deren Geweihe wohlverpackt zwischen hölzernen und eisernen Stangen, Ketten und sonstigem Karussellzubehör zuunterst auf dem Boden des geräumigen Fuhrwerks lagen. Drehorgel, Pauke, Triangel, Becken und prachtvoll mit Schmelzperlen gestickte Vorhänge hatten dagegen ihre Stätte in dem zweiten Wagen, der eigentlichen Arche, gefunden. Diese in Form eines gewaltigen grünen, mit Fenstern und Türen versehenen Kastens eingerichtete Häuslichkeit wurde von Frau Lenk, geborener Hart, selbst gefahren. In der Tür ihres Vorzimmers, auf einem Feldstuhl sitzend, lenkte sie die beiden Pferde, wobei deutlich zu erkennen war, daß der tägliche Verkehr mit hölzernen Pferden und sonstigen Bestien eine vorzügliche Vorschule für die Gewandtheit war, mit der die zweifellos einst sehr schön gewesene Frau heute die Zügel lebendigen Getiers führte. –

Vor der auf den beiden Grabenufern versammelten Gruppe blieb Lenkhart stehen. In seinem halb militärischen Gruß offenbarte sich deutlich der Wunsch, von dem Fremden angeredet zu werden. Dieser zögerte denn auch nicht, sich alsbald herablassend als einen aus fernen Landen heimgekehrten Reisenden vorzustellen, worauf er in demselben hochfahrenden Tone fortfuhr:

»Sie werden begreifen« – und er sprach laut genug, um von Kappel und Maßlieb verstanden zu werden – »daß nur dringende Geschäfte mich veranlassen konnten, Ihnen so weit entgegenzugehen. Ich bin nämlich beauftragt worden, einen Schatz, der Ihnen vor fünfzehn oder sechzehn Jahren anvertraut wurde, zurückzufordern.«

»Mir?« fragte Lenkhart zögernd, offenbar um Zeit zu gewinnen, und sein gebräuntes Antlitz erhielt eine pergamentartige Farbe. »Mir?« wiederholte er, die scharfen braunen Augen fest auf die blauen Brillengläser heftend, »ich wüßte nicht, daß irgend jemand in der Welt mir jemals einen Schatz anvertraute.«

Der Fremde grinste hämisch, bis der Wagen mit dem Getier vorbeigefahren war. Dann näherte er seine Lippen des Admirals Ohr, ihm etwas zuflüsternd. Ein einziges Wort war es, und zwar ein Name, dessen Wirkung aber derart heftig war, daß der Karussellvater bestürzt einen Schritt zurücktrat.

In seiner Verwirrung kam ihm das Eintreffen der grünen Arche zustatten. Sie hielt so an, daß die kundige Rosselenkerin sich ohne Mühe an dem Gespräche beteiligen konnte.

»Dieser Herr gibt vor,« wandte Lenkhart sich alsbald an seine Ehehälfte, »uns im Auftrage eines andern einen geliehenen Schatz abverlangen zu sollen. Weißt du etwas von einem solchen?«

Ihre zerknitterte, an Trödlerbuden erinnernde Umhüllung schüttelnd und die Fliegbänder ihrer Sturmhaube ordnend, antwortete sie mit bedauerndem Achselzucken:

»Einen Schatz?« Wann könnte das gewesen sein?

»Vor fünfzehn Jahren,« versetzte der Fremde zuversichtlich, »und wie ich sehe« – hier deutete er nachlässig auf Maßliebchen –, ist er nicht tot liegengeblieben, sondern durch das Anhäufen von Zins auf Zins zu einem wertvollen Kapital angewachsen.«

»Wer sollte uns mit seinem Vertrauen in so hohem Maße beehrt haben?« forschte die Karussellmutter weiter, während auf ihrem roten Gesichte unverkennbare Bestürzung zu lesen war.

»Er nannte einen uns nicht unbekannten Namen,« kam der Admiral dem Fremden mit einem wunderbar frommen Blick gen Himmel zuvor, offenbar in der Absicht, Kappels und Maßliebs halber einer lauten Wiederholung des Namens vorzubeugen; dann fuhr er mit seemännisch-biderbem Wesen fort: »Zweimal in meinem bescheidenen Leben sind mir wirkliche Schätze anvertraut worden, wenn ich wagen darf, mich bildlich auszudrücken. Das eine Mal vor siebzehn Jahren, als der Himmel mich und meine Frau mit einem Töchterchen beschenkte – dort auf dem Grabenufer sitzt unsere Augenweide, unsere Herzensfreude –, und das zweite Mal in der Tat vor fünfzehn Jahren, als wir uns entschlossen, trotz unserer unsteten Lebensweise, auch noch die Sorge für einen fremden, elternlosen Wurm zu übernehmen. Wir taten unser Bestes; wir liebten das Kind sogar zärtlich. Doch der Himmel hatte es anders beschlossen, als wir hofften. Ein schwarzes Kreuz auf einem Grabhügelchen in weiter Ferne ist alles, was uns von dem anvertrauten Gut blieb. Ich setze voraus, Sie sind mit dieser Erklärung zufrieden,« wandte Lenkhart sich an den Fremden, »und denken nicht etwa daran, Zweifel in das Gemüt des guten Kindes zu säen.«

»Maßlieb komm zu mir in den Wagen,« nahm die Karussellmutter jetzt entschlossen das Wort, »komm, Tochter, kleide dich um; der Abend bricht bald herein.«

»Umkleiden?« rief Maßlieb aus, indem sie leicht emporsprang, »mich putzen wie ein Menagerieaffe mit bunten Lappen und verdorbenen Tressen, um Pauke und Becken zu schlagen?« Sie lachte hell aus, und sich dem zweifelnd zu ihr aufschauenden heruntergekommenen Korpsburschen zukehrend, fuhr sie leidenschaftlich fort: »Die Gelegenheit, mich von dem Karussell zu trennen, ist jetzt da. Nun, da meine Peiniger mich da einem Fremden gegenüber für ihr Kind erklären, ertrag' ich's nicht länger –«

»Maßlieb!« fiel die Frau zornbebend ihr ins Wort, »bedenke, es sind deine Eltern, deine eigene treue Mutter ist es, die du hier auf öffentlicher Straße schmachvoll verleugnest!«

»Sie, meine treue Mutter?« rief Maßlieb spöttisch aus; »ja, wenn der Hunger, den ich ertragen mußte, die blauen Streifen, die Sie mir wohl hundertmal mit der Peitsche auf die Schultern zeichneten, Sie zur Mutter machen könnten; wenn die Drohungen, mit denen Herr Lenkhart mich schon im zartesten Alter fast bis in den Tod hinein ängstigte, seine schmerzhaften Griffe und das Ausraufen meines Haares ihn zur Stellung eines Vaters erhöben, dann möchte ich wohl Ihre Tochter sein! So aber?« Sie lachte wieder mit einem Ausdruck, als ob alle ihr innewohnenden Empfindungen sich in das Gefühl eines unauslöschlichen Hasses verwandelt gehabt hätten. »O, versuchen Sie nicht, jenen Fremden zu täuschen! Ich bin ebensowenig Ihre Tochter, wie die des Mannes dort mit den blauen Augengläsern. Den Wagen besteige ich nie wieder; zu genau weiß ich, welche Martern in dem scheußlichen grünen Gefängnis mich erwarten. Und stehe ich auch einsam in der Welt, und besitze ich weder Verwandte noch Freunde, so bin ich deshalb nicht verlassen. Dort liegt die Hauptstadt mit ihren Wundern; und kann ich mir nicht anders helfen, will ich lieber mein Stückchen Brot mühsam mit schwerer Arbeit auf den Feldern verdienen, als euch nur noch ein einziges Mal Vater und Mutter nennen!

Solange Maßlieb mit wachsender Leidenschaftlichkeit sprach, standen die Karusselleltern da, als hätten sie ihren Sinnen nicht getraut. Wäre der Fremde nicht zugegen gewesen, würden sie, wie schon so vielfach, die heftigen Zornesausbrüche Maßliebs kaum beachtet und einen günstigen Zeitpunkt zu deren nachdrücklicher Bestrafung erspäht haben, gegen welche sogar der alte Korpsbursche die Ärmste nicht zu schützen vermocht hätte. Ihre Verwirrung aber wurde noch dadurch gesteigert, daß der Fremde bald sie, bald das Mädchen mit hämischem Ausdruck betrachtete und, nachdem er sich ein Weilchen an ihrer Ratlosigkeit ergötzt hatte, spöttelnd das Wort nahm.

»Liebliche Familienverhältnisse,« bemerkte er mit einem Hohne, daß die Karussellmutter ihm die Peitsche um die Ohren hätte schlagen mögen, »fast zu lieblich, um an eine wirkliche Blutsverwandtschaft glauben zu können!«

»Glauben Sie, was Sie wollen,« keifte die Karussellmutter, »nur scheren Sie sich aus meinem Wege, wenn Sie nicht Lust verspüren, gerädert zu werden!«

Maßliebs funkelnde Diamantaugen aber flogen zwischen den Karusselleltern und dem Fremden hin und her. Wie die Anwesenheit des Fremden lähmend auf das würdige Ehepaar einwirkte, so empfand auch sie deren Einfluß auf ihre ohnehin mächtig aufgeregten Leidenschaften, doch mit ihrer Besorgnis wuchs auch ihre Entschlossenheit, als der unheimliche Fremde dicht an den Graben trat und über ihn fort seine Worte an sie richtete.

»Wie weit du fähig bist, meinen Erklärungen mit Verständnis zu folgen, weiß ich nicht,« sprach er, seiner Stimme einen möglichst wohlwollenden Klang verleihend, »jedenfalls aber wird dir klar sein, daß verwandtschaftliche Bande dich nimmermehr an deine bisherigen Beschützer fesseln. Meinen vernünftigen Vorstellungen wollen diese kein Gehör geben. Ich wähle daher den Ausweg, dich zu fragen, ob du geneigt bist, mich zu denjenigen zu begleiten, die ein unbestreitbares Anrecht an dich haben.« –

»Er lügt, Maßlieb!« schrie die Karussellmutter, während Lenkhart die Gebärden eines verzweifelten Vaters getreulich nachahmte, »er lügt, und ich selber will's ihm beweisen, sobald wir in die Nähe einer Stätte gelangen, auf der derartige Fragen von Rechts wegen verhandelt –«

»Von Rechts wegen?« höhnte der Fremde einfallend, »hoffen Sie etwa, mich durch leere Drohungen zu verscheuchen? Ich möchte sehen, ob Sie wagten, vor dem grünen Tisch ebenso zuversichtlich aufzutreten, wie hier auf der öffentlichen Landstraße, wo außer den zunächst Beteiligten Sie niemand hört.« Dann wieder zu Maßlieb: »Komm, mein Kind, fasse Vertrauen zu mir.« –

»Wohin möchten Sie mich führen?« unterbrach Maßlieb ihn ruhig, nachdem sie so lange, mit sich selbst zu Rate gehend, dagestanden hatte.

»Dahin, wo deiner ein würdigeres Obdach harrt, als in diesem Kasten,« antwortete der Fremde aufmunternd.

Die Karussellmutter war im Begriff, ihrer Wut in der bekannten geräuschvollen Weise die Zügel schießen zu lassen, als Maßlieb trotzig erwiderte:

»Ich bin dessen überdrüssig geworden, mich von den Lenkharts mißhandeln zu lassen, habe aber ebensowenig Lust, einem ungeheuerlichen Fremden mit Glasaugen zu folgen? Wozu hätte ich eigene Augen und Füße, wenn nicht, um meinen Weg ohne fremde Hilfe zu finden? Einen Weg über Veilchen und Rosen! Zu Karossen, Pferden, Perlen und Diamanten! Adieu, Onkel Kappel, du guter, du weiser Onkel Kappel, du gesangesreicher Korpsbursche! Was du mich lehrtest, das soll dir unvergessen sein, und wohne ich erst in meinem eigenen Hause, so steht ein prachtvoll eingerichtetes Zimmer dir jederzeit zur Verfügung!« Bei den letzten Worten war sie schon eine kurze Strecke davongesprungen, um sich aus dem Bereich jeder Gefahr zu bringen; dann noch einmal rückwärts schauend und sich an der Bestürzung der um ihren Besitz Hadernden weidend, sandte sie ihnen wiederum ein spöttisches Lachen zu.

»Fangen Sie mich,« rief sie fröhlich aus, »fangen Sie mich, wenn Ihnen so viel an meiner Person liegt! Worauf warten wir noch? Prüfen wir, wessen Füße die leichtesten und wessen Atem der längste ist!«

»Hüte dich,« scholl die zornbebende Stimme der Alten ihr nach. »Hüte dich! die Polizei macht nicht viel Umstände mit einer Landstreicherin, wie du eine bist.«

Maßlieb zuckte zusammen. Dann aber noch einen letzten Blick rückwärts sendend, sprang sie über den Graben und weiter hinein in den Wald, in dem sie, mit der Chaussee gleiche Richtung haltend, ihre Wanderung rüstig fortsetzte.

Nacht, spärlich durch Sterngefunkel erhellt, ruhte auf der Erde, als endlich der Wald sich vor ihr öffnete und zahllose Lichter sowie ein in der Luft hängender bleicher Schein ihr die Lage der gewaltigen Stadt bezeichneten. Ratlos blieb sie stehen. Bei dem Gedanken, ohne Mittel sich in das wirre Getreibe vieler, vieler Tausend Menschen zu stürzen, drohte ihre Kraft zu erlahmen.

»Ein Landstreicherkind,« flüsterte sie, dann setzte sie sich neben einen Haselnußstrauch nieder, und das Antlitz auf den emporgezogenen Knien in beide Hände vergrabend, weinte sie bitterlich. Das Bewußtsein gänzlicher Verlassenheit schien ihr armes Herz vollständig gebrochen zu haben; ihre phantastischen Träume von Glanz und überschwänglichem Reichtum waren zerflossen. Sie hätte einschlafen mögen, um nie, nie wieder zu erwachen. Und dennoch blieb ihr der Gedanke fern, sich ihren alten Beschützern und Peinigern wieder zuzugesellen. Nur wenige Schritte von ihr lief der Graben, der die Chaussee von dem Walde trennte. Mehrfach rollten Wagen vorüber. Manche führten jauchzende Landleute ihren abgelegenen Heimstätten wieder zu: andere, aus der entgegengesetzten Richtung kommende waren besetzt von Stadtbewohnern, die den im grünen Forst festlich begangenen Tag durch das Absingen bald lustiger, bald sentimentaler Volksweisen krönten.

»Sie ist und bleibt doch nun einmal meine und meiner Frau leibliche Tochter,« vernahm sie plötzlich eine gleißnerische Stimme, deren erster Ton ihr alles Blut jäh zum Herzen trieb. Versiegt waren ihre Tränen, verscheucht die fast überwältigende Zaghaftigkeit. »Trotzdem könnte es nicht schaden, wenn Sie etwas offener zu Werke gingen. Zum Beispiel die in ihren Händen befindlichen Beweismittel –«

»Wenn Sie mit mir, wie mit einem einfältigen Schulbuben verhandeln, erreichen wir allerdings nie unsern Zweck,« versetzte der Fremde höhnisch, »und welche andere Beweismittel verlangen Sie noch? Ist es nicht genug, daß ich seit Monaten nach Ihnen forschte und jedes mir erreichbare elende Provinzialwochenblättchen zu Rate zog, um auf die Spuren der grünen Arche zu gelangen? Heute ist freilich alles überflüssig, denn ich müßte mich sehr täuschen, gesellte der Flüchtling sich je wieder zu Ihnen. Nun, vielleicht bin ich selbst so glücklich –«

Die beiden Männer waren vorüber. Ihre Stimmen fielen als Gemurmel mit dem Geräusch ihrer Schritte zusammen. Nicht lange, und auch diese verhallten und an deren Stelle trat das Poltern der beiden herbeirollenden Wagen.

Schärfer spähte Maßlieb nach der Chaussee hinüber.

Regungslos blickte sie dem sich schwerfällig einherwälzenden Gebäude nach. Da störten sie wiederum Schritte in ihren planlos durcheinanderwogenden Betrachtungen. Einige Sekunden lauschte sie. Dann erhob sie sich hastig, und gleich darauf befand sie sich neben dem heruntergekommenen Ästhetiker.

»Onkel Kappel,« redete sie den freudig Erstaunten leise an, »ich konnte nicht in die Welt gehen, ohne dich zuvor noch einmal gesprochen, dir Lebewohl gesagt zu haben.«

»So ist es dein ernster Wille, dich von uns zu trennen?« fragte Kappel schwermütig.

»So wahrhaftig mein Ernst, wie die Sterne da oben vom Himmel auf uns niederblicken,« versetzte Maßlieb, indem sie Hand in Hand mit dem alten Freunde den Wagen folgte, »sie nannte mich unehrliches Landstreicherkind, und wenn andere Menschen mich ebenso nennen, so haben sie es von ihr.«

»Eine Schmach war es von dem Weibe,« erwiderte Kappel zähneknirschend, »eine Schande und eine Schmach, dein armes, junges Gemüt zu verbittern und zu vergiften. Und dieses Scheusal will deine Mutter sein? Hoho! Die Mutter ihrer hölzernen Drachen und sonstigen Mißgeburten mag sie sein, aber nicht die eines lieben, herzigen Mädchens. O, Maßliebchen, ich hätte dem Weibe die Zunge ausreißen mögen, als es die teuflischen Worte an dich richtete! Und dennoch als ich beobachtete, wie du dadurch ergriffen wurdest, fühlte ich mich doppelt beruhigt. In deinem Stolz erblickte ich deinen sichersten Schutz. Vergiß daher das Weib samt seinen Schmähungen und sei überzeugt, daß es überall wohlwollende Menschen gibt, die dir gern mit Rat und Tat zur Seite stehen werden.«

Maßlieb lachte spöttisch. Sie war in der letzten Stunde um Jahre gealtert.

»Freunde, meinst du, Onkel Kappel?« hob sie an, »als ob nicht jedermann das unehrliche Landstreicherkind mir ansähe! Doch ich will deshalb den Mut nicht verlieren; mein Leben setze ich daran, dereinst selbst triumphierend in die Welt hinauszurufen: Seht hier ein Landstreicherkind!«

Schweigend verfolgten sie ihren Weg. Sie hatten ihre Schritte gemäßigt, daß die Entfernung zwischen ihnen und dem Wagen sich vergrößerte. Hand in Hand gingen sie, wie unzählige Male in ihrem Leben. So legten sie eine lange Strecke zurück, als Maßlieb wieder das Wort ergriff.

»Aber du, Onkel Kappel,« sprach sie sinnend, »wenn du die Lenkharts in so hohem Grade verachtest, warum trennst du dich nicht ebenfalls von ihnen?«

Kappel seufzte tief.

»Du zwingst mich zu einem schmerzlichen Geständnis,« antwortete er zögernd, »allein du lernst vielleicht daraus, und da soll es mir nicht schwer werden.«

»Von einem leichtsinnigen, toll ins Leben hineinstürmenden, jede ernste Beschäftigung verachtenden Studenten bis zum Vagabunden ist nur oft ein Schritt. Wenn aber die Menschen erst das Vertrauen zu einem Mitmenschen verloren haben und ihm dadurch der Eintritt in den bescheidensten Wirkungskreis erschwert wird, so ist er nur zu geneigt, das Vertrauen zu sich selbst zu verlieren. Seltener und matter werden die Versuche, sich emporzuarbeiten, bis ihm schließlich kein anderer Ausweg mehr bleibt, als mit den letzten Erinnerungen an seine hoffnungsreiche Jugendzeit zu brechen und das erste beste Los willkommen zu heißen, das ihm ein nur einigermaßen sorgloses Hinvegetieren sichert. So erging es mir. Von den Lenkharts kann ich nicht fort; das unstete, mühelose Umherschweifen ist mir zu sehr zur anderen Natur geworden, und dann – nun, es muß heraus – bin ich zu nichts anderem mehr zu gebrauchen. Mit solchen Erfahrungen steht es mir wohl an, dir zuzurufen: Werde nicht wankend in deinem Entschluß; fliehe bevor es auch für dich zu spät ist! Bitter werde ich deine Abwesenheit empfinden; denn solange ich dich kenne – und über die vierzehn Jahre ist es her, seitdem ich mein Los an das des Karussells knüpfte –, bist du mein Liebling, meine Herzensfreude gewesen. Auf meinen Armen habe ich dich getragen, auf dem Rasen unter Blumen und bunten Steinen mit dir gespielt. Gemeinschaftlich haben wir gehungert und gefroren und uns gegenseitig unser Leid geklagt. Wir gingen nebeneinander im Unwetter wie im heiteren Sonnenschein; zusammengekauert saßen wir nebeneinander unter dem dürftigen Zeltdach, munter plaudernd oder auf den Sturm horchend, wenn er die Schloßen auf die straffe Leinwand trieb oder der Gewitterregen in den Baumwipfeln brauste. Wir zählten die Blitze in schwarzer Nacht, zählten an milden Sommerabenden die Stimmen der wetterverkündenden Frösche. Ja, Maßliebchen, so flossen unsere Tage dahin, und niemals und durch nichts ist unsere Freundschaft erschüttert worden. Der professionierte Vagabund und heruntergekommene Korpsbursche eignete sich wenig zum Erzieher, trotzdem habe ich mich bemüht, dein Wissen zu bereichern, und in einer Beziehung ist mir das ganz besonders gelungen: Du sprichst ein reines Deutsch und hast gelernt, dich stets anmutig zu bewegen. Infolgedessen vermagst du dich auch in gebildeten Kreisen zu bewegen, ohne daß du fürchten brauchst, Anstoß zu erregen. So mußt du denn notgedrungen den Kampf mit dem Geschick allein aufnehmen, mein gutes Maßliebchen, auf deine eigenen Kräfte dich verlassen. Aber sei guten Mutes; du besitzest viel Stolz, und so lange du ihn zügelst, wird dieser Stolz dein sicherster Schutz sein. Laß dich nicht schwach finden, wenn Unglück und harte Prüfungen an dich herantreten, hüte dich vor Überhebung, wenn das Glück dich begünstigt. Vergiß nicht diese meine letzten Worte: Bei deinem Charakter vermögen Glück und Unglück gleich nachteilig auf dich einzuwirken; dagegen wird andererseits eine richtige Würdigung beider dir zum Segen gereichen, deine Anschauungen läutern, deinem jugendlichen Gemüte einen immer festeren Halt gewähren.«

Den letzten Rat des alten Korpsburschen schien Maßlieb zu überhören, so ausschließlich beschäftigte ihr Geist sich mit der nächsten Zukunft. Wie träumend schritt sie an Kappels Hand einher.

»Wenn nur die erste Nacht überstanden wäre,« seufzte sie plötzlich emporschreckend.

»Noch einmal in der Arche zu übernachten, rate ich dir nicht,« versetzte Kappel zweifelnd, »ich bin überzeugt, sie ließen dich nicht wieder aus den Händen. Allein in unserer Nähe magst du dich halten, und findest du kein anderweitiges Obdach – nun, Kind, ich werde munter bleiben und auf dich warten, um die Nacht entweder mit dir zu verplaudern oder über dich zu wachen, während du ein paar Stunden zwischen dem abgeladenen Gerümpel schläfst.« Erschrocken blieb er stehen. Indem seine Blicke die Straße hinunterschweiften, entdeckte er den Admiral, der, offenbar um seinen erprobten Stallmeister nicht zu verlieren, im Scheine der nächsten Gaslaterne auf ihn wartete.

»Noch kann er dich nicht bemerkt haben,« flüsterte er ängstlich, und fester drückte er Maßliebs Hand, »aber die höchste Zeit ist es, daß wir voneinander scheiden. Lebe also wohl, mein teures Maßliebchen; solange du nichts Bessers weißt, halte dich im Bereich der Arche, um im Falle der Not deine Zuflucht zu mir nehmen zu können. Und hier, Maßliebchen – er legte dem zitternden Mädchen seine Börse in die Hand – trotz meines Leichtsinns sparte ich die Kleinigkeit für unvorhergesehene Gelegenheiten, und eine solche ist jetzt gekommen. Ein Jahr meines Lebens gebe ich darum, vermöchte ich die paar Pfennige in ebenso viele Taler zu verwandeln.«

Bei den letzten Worten schritt er hastig davon, während Maßlieb, als habe eine plötzliche Erstarrung sie befallen, sich nicht von der Stelle rührte. Der feierliche Abschied des verkommenen Genies und seine Opferwilligkeit hatten sie doppelt tief erschüttert, weil sie ihn bisher nur als einen Menschen kennen lernte, dessen heitere Sorglosigkeit weder durch Not noch durch die nichtswürdigste Tyrannei seines Brotherrn aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte. Erst als sie ihn in des Karussellsvater Begleitung davonschreiten sah, erwachte sie wieder aus dem einer Betäubung ähnlichen Zustande. Besorgt spähte sie um sich. Leute kamen, Leute gingen; niemand der sich um sie gekümmert hätte. – – –


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