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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Am Alligator-See

Der neue Wechsel der Lage und der finstere Ernst seiner Begleiter, dazu die Schnelligkeit, mit der er davongeführt wurde, dies alles hatte Gerhards Sinne in einer Weise umfangen, daß er nicht auf die innegehaltene Richtung achtete. Erstaunt sah er daher auf, als der Wagen beinahe auf derselben Stelle hielt, auf der, wie er trotz der Dunkelheit an den Umrissen der Hügelreihe erkannte, er in Davids Gesellschaft von seinem Reittier gestiegen war.

»Wir müssen eine kurze Strecke zu Fuß gehen,« bemerkte der neben ihm sitzende Mann, indem er vom Wagen heruntersprang.

»Ellenborough kann unmöglich diesen Ort zu seinem Aufenthaltsort gewählt haben,« erwiderte Gerhard, von bangen Ahnungen beschlichen.

Die beiden Männer lachten wie im Einverständnis; dann kehrte der auf der Erde stehende sich Gerhard zu.

»Was wißt Ihr davon?« fragte er höhnisch; »erscheint es doch wunderbar, daß Ihr Eure Spaziergänge bis hierher ausgedehnt haben solltet.«

Gerhard bereute seine Unvorsichtigkeit; anstatt aber seine Frage auf Mutmaßungen zurückzuführen, antwortete er verwirrt:

»Wie hätte ich meine Zeit besser verwerten können, als auch die weitere Umgebung der Plantage zu durchstreifen?«

»Wohl gar zur nächtlichen Stunde? Denn bei Tage seid Ihr kaum jemals aus Miß Highways Nähe gewichen.«

Dieser neue Beweis, daß man ihn, den arglos Vertrauenden, ununterbrochen ängstlich überwacht hatte, erhöhte seine Verwirrung. Er antwortete daher nicht gleich, sondern verließ den Wagen, und nach den besten Kräften Sorglosigkeit zur Schau tragend, versetzte er scheinbar gleichmütig:

»Ob ich diesen Punkt genauer kenne, dürfte kaum in Betracht kommen. Sei es in einem Gasthofe oder unter freiem Himmel, finde ich Gelegenheit, Ellenborough zu sprechen, so sind alle meine Wünsche befriedigt.«

»Gut geurteilt«, erwiderte der Mann an seiner Seite, während der andere mit dem Wagen sich langsam entfernte. »Für ernste Geschäfte eignet sich jeder Ort – aber folgt mir, wenn's beliebt,« und hastig bog er in einen das Dickicht durchschneidenden Pfad ein, »die Nacht rückt vor, und ehe der Tag graut, möchtet Ihr gewiß gern in Eurem Bett liegen.«

Gerhard zauderte. Doch erwägend, daß er auf alle Fälle in der Gewalt etwaiger Feinde sei, schloß er sich seinem Führer an. Wenige Schritte hatte er auf dem schwarzbeschatteten Pfade zurückgelegt, als es hinter ihm in den Zweigen rauschte, und er, besorgt rückwärts spähend, inne wurde, daß jemand ihm. auf dem Fuße folgte. Unwillkürlich blieb er stehen, und sich halb umkehrend, fragte er, ob der Fremde an ihm vorbeizutreten wünsche.

»Geht nur,« lautete die Antwort, »unser Weg ist derselbe, unser Ziel das nämliche.«

Mehr wurde auf dem ganzen Wege nicht gesprochen. Tiefer drangen die drei Wanderer in das Dickicht ein, und in demselben Maße schwand Gerhards Hoffnung, sich wirklich auf dem Wege zu Ellenborough zu befinden. Wohl beschlich ihn die dumpfe Ahnung einer Gefahr; am wenigsten aber glaubte er an eine sein Leben bedrohende. Seine Besorgnisse beschränkten sich auf die Vermutung, daß vielleicht das Versprechen unverbrüchlichen Schweigens über seine Erfahrungen in der Gegend von ihm gewaltsam erzwungen werde. Zu fern lag ihm der Gedanke, daß man zur Sicherung eines Geheimnisses einen Mord allen nur denkbaren heiligen Eiden vorziehen könne.

Nach halbstündiger Wanderung auf schmalen Pfaden und in undurchdringlicher Finsternis strömte ihm endlich an seinem Führer vorbei ein matter Feuerschein zwischen dem Laubwerk hindurch entgegen. Noch einige Schritte, und vor ihm öffnete sich eine wenig umfangreiche Lichtung, deren Grenze aus der gegenüberliegenden Seite durch eine hoch aufstrebende Felswand gebildet wurde. Das Feuer brannte in einer Art Höhle, groß genug, etwa einem halben Dutzend Personen notdürftiges Obdach zu gewähren. Der von den Flammen ausströmende Schein traf ringsum auf üppige, dicht verschlungene Baum- und Strauchvegetation. Nur auf der einen Seite der Lichtung und in der Breite von ungefähr dreißig Fuß sandte er seine matten Reflexe über einen schwarzen Wasserspiegel nach vereinzelten Gruppen breitblätteriger Sumpfgewächse hinüber. Es war dies eine Fortsetzung des toten Wassers, von dessen Ufer aus Gerhard das Forschen der Clansmitglieder nach ihrem verschwundenen Genossen beobachtet hatte. Wie dort, so erhob sich auch hier der aus festgelagertem Gerölle bestehende Uferstreifen gegen vier Fuß hoch steil aus den morastigen Fluten, war also auf geradem Wege unzugänglich für die Krokodile, die, den natürlichen Kanälen in den zusammenhängenden Sümpfen folgend, diesen geschützten Winkel, zumal die das Gestein erhitzende Sonne ihn doppelt behaglich für sie machte, als ihren Lieblingstummelplatz zu betrachten schienen. Einem kundigen Auge, das aufmerksam über den beleuchteten Teil der stillen Wasserfläche hingespäht hätte, würden schwerlich mehrere unförmliche Köpfe, schwimmenden Baumästen nicht unähnlich, entgangen sein, die regungslos, wie geblendet, zu den lodernden Flammen hinüberglotzten.

Doch die düstere Umgebung erregte weniger Gerhards Aufmerksamkeit, als vier oder fünf bärtige Männer mit wahrhaften Räuberphysiognomien, die, den Rücken an die Felswand gelehnt, vor dem Feuer kauerten und abwechselnd rauchten und einer von Hand zu Hand gehenden Korbflasche zusprachen. Es war eine Gesellschaft jener verrufenen Marodeure, die während des Krieges ihre Haut für die Sklavenbarone zu Markte getragen hatten, seitdem aber, untauglich zu jeglicher Arbeit, noch untauglicher zu einem gesitteten Lebenswandel, als dienende Brüder des Ku-Klux-Clan Der Ku-Klux-Clan bildete eine Art Femgericht, das sich aus früheren Sklavenhaltern zusammensetzte und so ziemlich dieselben Formen beobachtete, wie die deutsche mittelalterliche Feme. eine Art Henkerdienst bei ihren Brotherren versahen.

Als Gerhard auf die Lichtung trat, richteten sie sogleich ihre Blicke forschend auf ihn. Sogar der Mann, der vom Rande der Waldung aus ihn begleitet hatte, eine ähnliche Erscheinung, wie die vor dem Feuer Kauernden, trat vor ihn hin, um ihm ins Antlitz zu schauen.

Eine gewisse Geringschätzung prägte sich auf allen Physiognomien aus, sobald man, statt in das strenge Gesicht eines gereiften, die ihn umringenden Gefahren nicht unterschätzenden Mannes, in die jugendlich frischen Züge Gerhards blickte, auf welchen zwar kein Grauen, aber doch eine gewisse Ängstlichkeit sich mit einer ehrlichen, beinahe freundlichen Befangenheit paarte.

»Also dies ist der Bursche, der seine Nase unberufenerweise in anderer Leute Angelegenheit steckt,« wandte einer der vor dem Feuer Sitzenden sich spöttisch an Gerhards Führer.

Gerhard erbleichte. In der Frage selbst wie in dem Ton, in dem sie gestellt wurde, offenbarte sich zu unzweideutig, daß Ellenboroughs Name nur als Vorwand gedient hatte, ihn hilflos seinen unbekannten Feinden in die Hände zu liefern.

»Mit den redlichsten Absichten besuchte ich diese Gegend,« stotterte er verwirrt unter den auf ihm ruhenden höhnischen Blicken, »und ich wüßte nicht, daß ich meine eigenen persönlichen Zwecke verfolgend, jemand benachteiligt haben könnte.«

Schallendes Gelächter lohnte diese Entschuldigung.

»Verdammt grün,« ließ sich darauf wieder eine branntweinheisere Stimme vernehmen, »so grün, daß er verdiente, ohne weiteres zu einem Bade in dem Tümpel der Erkenntnis dort verurteilt zu werden!«

»Alles zu seiner Zeit,« versetzte Gerhards Führer gleichmütig, und er hob die ihm dargereichte Korbflasche an die Lippen, »zuvor müssen wir Nachricht von oben erwarten; in jedem Augenblick kann sie eintreffen.«

»Nach den mir gemachten Zusagen glaubte ich hoffen zu dürfen, Ellenborough hier zu finden«, hob Gerhard wiederum an.

»Unsinn«, fiel der eine Strolch ihm ins Wort, während sein bisheriger Führer sich flüsternd mit den übrigen unterhielt und mehrfach ungeduldig die Achseln zuckte, »ein Spion hat überhaupt nichts mehr zu hoffen, und ich denke, –« hier wandte er sich an die Genossen, indem er die Ärmel seines roten Flanellhemdes bis über die Ellenbogen emporrollte – »je schneller ein Ende damit, um so unbesorgter mögen wir geradeaus denken. Der Teufel hat zuweilen sein Spiel; ich erlebte schon, daß zwischen 'nem brennenden Schwefelholz und 'ner frisch gefüllten Tabakspfeife dem gesundesten Burschen der Hals abgesprochen wurde.«

Gerhard fühlte das Herz in seiner Brust stocken. Er begriff, daß er sich in der Gewalt von Menschen befand, die kein Erbarmen kannten, schon auf geringfügigere Gründe hin, als die des Verdachts eines an ihnen begangenen Verrats, ihre Hände in Blut tauchten. Und dennoch konnte er nicht fassen, daß er von einem feindlichen Geschick dazu auserkoren sei, sein Leben an einem Ort und in einer Weise auszuhauchen, daß er fortan zu den Verschollenen gerechnet werden mußte. Er dachte an Esther, die nie eine Ahnung davon erhalten würde, daß er, verzweiflungsvoll nach ihr suchend, von einem furchtbaren Geschick ereilt worden war; er dachte an Claudia, die fast in demselben Atemzuge sich ihm zu eigen gab und ihn seinen Mördern überantwortete. In seiner Seele brannten noch ihre glühenden Blicke, während wie aus lichten Himmelshöhen das süße Bild seiner geliebten Esther zu ihm niederschaute, ihm holdselig zulächelnd, ihn freundlich tröstend. Neue Lebenskraft durchströmte ihn; der Selbsterhaltungstrieb erwachte, und mit den Augen die Entfernung zwischen sich und dem nächsten Feinde messend, trachtete er, die Gelegenheit zu erspähen, ihm eine Waffe zu entreißen und wenigstens kämpfend zu unterliegen.

»Bis jetzt machte ich gute Miene zu einem zweifelhaften Spiel,« hob er an, seinen ganzen Mut zusammenraffend, »allein die Geduld selbst des friedfertigsten Menschen ist nicht unerschöpflich. Es liegt am Tage, daß ich auf unverantwortliche Weise getäuscht wurde, sagt daher, was ihr verlangt, zu welchem Zweck ich gewaltsam hierher geschleppt wurde, und ist euch das zu viel, wohlan, so hindert nicht länger meine Heimkehr. Auch ohne euren Beistand finde ich den Weg aus diesem Dickicht.«

Er wich einen Schritt zurück, um sich dem Pfade, auf dem er gekommen war, zu nähern, als sein Führer ihm schnell den Weg vertrat. »Wißt Ihr, was es heißt, die Rache der weißen Brüder herauszufordern?« fragte er zähneknirschend und mit der ganzen Wut eines fanatischen Sezessionisten; »wißt Ihr, was es heißt, sich nächtlicher Weise in Geheimnisse einzudrängen, die für den Nichteingeweihten – ha! für den Feind einer gerechten Sache gleichbedeutend mit dem Tode sind?«

Er wollte fortfahren, als Gerhard, von dem Mut der Verzweiflung beseelt und unter Aufbietung seiner äußersten Gewandtheit auf ihn zusprang und ihm die Drehpistole aus den Gurt riß. Aber er hatte die Sicherheit des Blickes und die Schnelligkeit der Bewegung der Räuber unterschätzt. Außerdem war er selber zu wenig vertraut mit dem Gebrauch der Waffen; denn bevor es ihm gelang, den Hahn der Pistole zu spannen, hatte ihn ein heftiger Stoß zur Erde geschleudert und gleichzeitig neigten drei der Räuber sich über ihn hin und schnürten mit wunderbarer Gewandtheit seine Hände und Füße zusammen. Kaum zwei Minuten, und er lag so hilflos da, als hätte nicht mehr Leben und eigener Wille in ihm gewohnt, als in einem der Geröllblöcke am Fuße der Felswand. Sein Führer aber, derselbe, dem er die Waffe entrissen hatte, stand vor ihm, in der einen Hand die Pistole, in der andern einen lodernden Feuerbrand, während die übrigen Räuber seitwärts in eine Gruppe zusammentraten, mit rohen Scherzreden seinen Mut priesen und ihm viel Glück zur nächsten Reise wünschten. Geräuschvoll, wie sie miteinander verkehrten, entging ihrer Aufmerksamkeit, daß es ringsum in Strauch und Kraut leise raschelte, als ob Schlangen sich ihren Weg hindurchbahnten, oder ein Panther behutsam seine Beute umkreiste. Noch weniger bemerkten sie, daß hier und dort die breitblättrigen Pflanzen sich teilten, um wildglühenden, schwarzen Augen einen freien Durchblick zu gestatten. Kaum fünf Schritte befanden sich die nächsten von Gerhard entfernt, der, auf dem Rücken liegend, den letzten Gedanken an Rettung aufgab, und mit einer gewissen trotzigen Todesverachtung zu dem alten Sezessionisten emporschaute.

»Daß du Hund von einem Deutschen mich hast beißen wollen,« höhnte dieser, mit dem Schloß seiner Pistole spielend, und zugleich beleuchtete er Gerhards bleiches Antlitz, »nun, das gereicht dir zur Ehre. Wenn ich dagegen nicht gutwillig oder ungestraft mich beißen lasse, so ist das eine andere Sache. Eigentlich hindert mich nichts, dir eine Kugel durch den Schädel zu senden, allein das sähe aus wie Rache an 'nem erbärmlichen Burschen für 'ne Dummheit. Außerdem warten wir auf jemanden, der dich vielleicht über dieses oder jenes befragen möchte, und ich erlebte noch nie, daß ein Toter den Mund zum Sprechen öffnete. Bis dahin aber will ich ungestört bleiben.«

»Ich habe nichts zu beantworten, nichts mitzuteilen,« versetzte Gerhard trotzig, jedoch mit äußerster Kraft gegen ein ohnmachtähnliches Gefühl ankämpfend; »durch eine Schurkerei bin ich in eure Hände gefallen, und soll ich wirklich einem Mißverständnis, einem leeren Wahn geopfert werden, so baut fest darauf, daß mir ein Rächer erstehen wird.«

»Gut gesprochen,« höhnte der Geselle des Mordclans weiter, »gesprochen wie 'n Mann, damit aber hat's ein Ende. Ihr seht das Stückchen See. Wohlan, in demselben wohnen Alligators genug, um Euch schneller von der Erde zu vertilgen, als Ihr ein Vaterunser zu beten vermögt. Nun betrachtet den scharfen Uferrand. Auf demselben werdet Ihr Euer Lager angewiesen erhalten und verdammt will ich sein, wenn ich mich 'nen Strohhalm darum schere, gleitet Ihr durch eigene Schuld zu den Bestien in den Pfuhl hinab.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als seine Genossen die teuflische Idee mit wildem Lachen begrüßten und sogleich zur Ausführung schritten. Fortgesetzt höhnend, ihn auch wohl spöttisch bedauernd, ergriffen sie Gerhard, und ihn nach dem Ufer hintragend, legten sie ihn so auf dessen äußersten Rand nieder, daß er, da ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, sich nur zu regen brauchte, um das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe hinabzurollen. Mit schadenfroher Berechnung berücksichtigten sie dabei, daß das Feuer in seinem Gesichtskreis blieb, es seiner Phantasie anheimstellend, den hinter ihm liegenden Pfuhl mit den grellsten Farben zu schmücken. Darauf begaben sie sich auf ihre Lagerstätte zurück, mit erneutem Eifer der weitbauchigen Flasche zusprechend und den Dampf der Tabakspfeife mit dem Rauch des vernachlässigten Feuers vereinigend.

Minuten verrannen; für Gerhard entsetzliche Minuten. Mit äußerster Kraftanstrengung erwehrte er sich einer, durch körperlichen Schmerz und das Bewußtsein einer hoffnungslosen Lage erzeugten Betäubung, die gleichbedeutend mit seinem Verderben gewesen wäre. Angesichts eines unabweisbaren gräßlichen Endes wuchs seine Liebe zum Leben. Der Schweiß der Todesangst perlte ihm auf der Stirn, die Augen drängten sich aus ihren Höhlen, und während die Räuber sich geräuschvoll ihren, die letzte Spur von Menschlichkeit vernichtenden Genüssen hingaben, sah er mit Grauen dem Zeitpunkt entgegen, in dem er unter den Zähnen der Alligatoren, die den Höllenpfuhl scheußlich belebten, mit dem Leben abzuschließen haben würde.

Plötzlich durchrieselte ihn Eiseskälte; ein Schrei wilder Verzweiflung schwebte ihm auf den Lippen, als er sich auf dem Rücken betastet fühlte.

»Keinen Laut gebt von Euch,« tönte ihm gleichzeitig wie ein Hauch die Stimme Davids ins Ohr, der sich aus dem nahen Dickicht auf dem schroffen Uferabhange selber, Wurzeln und vorspringende Steine als Haltepunkte für Hände und Füße benutzend, bis zu ihm hingeschlichen hatte, »keinen Laut und keine Bewegung; aber späht scharf und versäumt nicht den günstigen Augenblick zur Flucht.«

Gerhard seufzte tief auf.

»Halt dich, Bursche!« rief ihm einer der Strolche zu, der offenbar den lauten Atemzug vernommen hatte – »auf deine Gesundheit und 'ne glückliche Heimfahrt!« Er hob die Korbflasche an die Lippen und vergessen war der Gefangene mit allen seinen Leiden.

Gerhard dagegen fühlte einen kalten Gegenstand über seine Hände hingleiten und die Riemen unter der scharfen Schneide eines Messers sich lösen. Ebenso trennte ein Schnitt die Bande an seinen Füßen. Eine neue Warnung, seine Lage nicht zu verändern, erreichte sein Ohr, und angestrengt lauschend, unterschied er, wie David sich auf dem gefährlichen Wege wieder in das Dickicht zurückbegab. Hatte aber kurz zuvor Todesangst ihm fast übermenschliche Kräfte verliehen, so geschah es jetzt durch die neuerwachende Hoffnung auf ein glückliches Entkommen. Nur mit der linken Hand stützte er sich leicht auf den Uferrand; sonst verhielt er sich regungslos, als ob die Fesseln noch immer sein Fleisch schmerzhaft zusammengeschnürt hätten.

Wiederum verstrich eine Weile. Die tolle Laune der Räuber steigerte sich fortgesetzt. Niemand achtete darauf, wie es in dem nahen Gebüsch rauschte, als ob jemand beim Vordringen die hindernden Zweige zur Seite gebogen habe. Erst als Else aus dem Dickicht in den Schein des Feuers trat, verstummten alle, und starr, wie ihren Sinnen nicht trauend, blickten sie auf die geisterhafte Erscheinung der Unglücklichen hin. Lebten sie doch der Überzeugung, daß sie gemeinschaftlich mit dem zu ihrer Beseitigung ausgeschickten Mörder ihr Ende in den schlammigen Fluten des Alligatorsees gefunden habe. Nur der Sezessionist, welcher Gerhard geführt hatte, war emporgesprungen, und die Pistole aus dem Gurt ziehend und deren Hahn spannend, nahm er eine Stellung an, als hätte er sich eines furchtbaren Feindes erwehren wollen.

Else, trotz des unbeschreiblich leidenden Zuges in ihrem bleichen Antlitz, der fast ausdruckslosen Augen und der schadhaften Bekleidung, noch immer eine gleichsam zu Tränen rührende Schönheit, strich das lang niederwallende Haar von ihren Schläfen zurück. Die grelle Beleuchtung der Flammen schien sie zu blenden, denn sie beschattete ihre Augen mit der Hand; dann sandte sie einen verwunderungsvollen Blick im Kreise herum.

»Ihr seid Teufel,« sprach sie sanft, »böse Geister, die das Wachsen meines Magnoliabäumchens gewaltsam unterdrücken. Ihr seid Teufel, die nur ihre Gestalt verwandelten. Wo sind eure Roben und Kappen, geschmückt mit dem Abzeichen der Hölle? Wo ist Highway, der mit Mohnkörnern spielt und sie schutzlosen Mädchen zum Schlaf auf die Augenlider streut?«

»Satanshexe!« schrie der alte Sezessionist, der nunmehr die Überzeugung gewonnen hatte, nicht den Geist einer Gemordeten, sondern ein Wesen von Fleisch und Bein vor sich zu sehen. »Satanshexe!« wiederholte er kaum verständlich vor Wut, und er erhob die Pistole nach dem Haupt der ihn furchtlos anlächelnden Irren, »mir sollst du nicht entrinnen, denn du bist es, welche die Spione auf unsere Fährten – Er senkte die Waffe; selbst er, der verhärtete Bösewicht, mußte sich beugen vor dem Jammerbilde der durch ein unerhörtes Verbrechen in geistige Nacht unheilbar gestürzten Unschuld.

»Ihr habt keine Gewalt über mich,« fuhr Else sogleich wieder fort, »auch nicht über ihn,« und sie wies nachlässig auf Gerhard, »zu viele Freunde beschützen mich; nur meines Willens bedarf es, um euch dahin zurückzuscheuchen, von woher ihr gekommen seid. Meine Freunde aber sind schuppig und schlafen im heißen Moorgrunde, bis meine Stimme sie wachruft –«

»Hängen will ich, wenn dahinter kein Verrat steckt!« fuhr einer der beim Feuer kauernden Räuber nunmehr empor. Fast gleichzeitig erscholl aus verschiedenen Richtungen das künstlich nachgeahmte eigentümlich zischende Hauchen, mit dem der gereizte Alligator seinem Feind begegnet. Von der etwa dreißig Fuß hohen Felswand aber wurde dieses Signal durch mehrstimmiges gellendes Lachen beantwortet, das die Clansknechte völlig verwirrte.

»Hinunter mit dem Burschen!« schrie der alte Sezessionist auf, indem er auf Gerhard zusprang, um ihn durch einen Fußtritt von dem Uferrande zu senden, »greift die Hexe!« brüllte ein anderer, indem er eine Bewegung machte, über das Feuer fort sich Elses zu bemächtigen. Ihr Ruf aber erstarb in dem Gepolter, mit dem ein Haufen Gerölle, begleitet von neuem gellenden Lachen, von der Felswand in das Feuer, es zerstäubend und verlöschend, niedergesandt wurde. Mehrere Steine trafen den über das Feuer hinwegsetzenden Räuber, daß er zu Boden stürzte. Dunkle Gestalten huschten über die plötzlich in Nacht gehüllte Lichtung. Niemand wußte, wer Freund oder Feind war, gegen wen er seine Waffe erheben sollte. Gerhard war emporgesprungen; er sah, wie ein Mann zwischen ihn und den ihn bedrohenden Sezessionisten hinglitt, er sah diesen unter einem gewaltigen Keulenschlage zu Boden sinken und während des Sturzes noch einmal seinen Revolver blindlings abfeuernd. Bei der flüchtigen Beleuchtung des Schusses erkannte er das wildverzerrte Antlitz Highways, der, von seinen Genossen längst erwartet, eben auf die Lichtung treten wollte und wieder zurückprallte. Dann fühlte er sich bei der Hand ergriffen und fortgezogen, zugleich vernahm er die Stimme des Mannes, der seine Stricke durchschnitten hatte.

»Fort, fort!« flüsterte dieser, ihn hinter Else in einen Wildpfad hineindrängend, worauf er sich ihm anschloß, wie um beide gegen ihre Verfolger zu verteidigen. Auf der Lichtung krachten neue Schüsse und ertönten wilde Flüche, indem man sich eines unsichtbaren Feindes zu erwehren suchte. Als dann endlich die Besonnenheit zurückkehrte und das Feuer wieder emporloderte, da herrschte ringsum, auf der Felswand wie im Dickicht, eine so tiefe Stille, als ob noch nie der Fuß eines Menschen jenen Ort betreten habe. Sogar die vereinzelten Alligators, erschreckt durch die Schüsse, hatten sich in ihre Schlammbetten zurückgezogen.

Gerhard, geführt von David und Else, befand sich um diese Zeit so weit abwärts, daß er eine Verfolgung nicht mehr zu befürchten brauchte. Unter seinen Füßen fühlte er feuchten, schwammigen Boden. Es war derselbe Pfad, welchen Else, einen weiten Umweg vermeidend, eingeschlagen hatte, um, dem Rate ihrer farbigen Freunde blindlings gehorchend, diesen die Kunde von Gerhards gewaltsamer Entführung zu überbringen und sich an der mit schlauem Bedacht eingeleiteten Rettung zu beteiligen. Eine halbe Stunde später wurde er von der dunkelfarbigen Gesellschaft an einem Orte willkommen geheißen, der für jeden Fremden unzugänglich war.

»Glaubt Ihr jetzt, daß Ihr sicherer auf einem Faß mit Pulver säßet, und spielte der Sturm mit den Funken Eurer Pfeife, als auf Highways Plantage?« fragte ein junger Neger, der Enkel von Androklus, nachdem sie sich auf ein Bündel Schilf niedergelassen hatten.

Gerhard blickte schweigend in das düstere Gesicht seines Retters, jenes jungen Mannes, den er David nennen hörte. Zu mächtig wirkten in ihm die Eindrücke, denen er während der letzten Stunden unterworfen gewesen.

»Ohne den Beistand des armen Mädchens wäret Ihr schwerlich gerettet worden,« fuhr David träumerisch fort, und mitleidig blickte er nach dem Feuer hinüber, vor dem eine Anzahl Farbiger mit sichtbarer Andacht Elses seltsamen Kundgebungen lauschte; »es ist wunderbar, wie die Ärmste, sobald man auf ihre Ideen eingeht, sich gefügig und scharfsinnig zeigt.« Er lachte unsäglich bitter. »Doch was hilfts? Durch dieses Nachgeben verschaffe ich ihr wohl eine gewisse Befriedigung, es gelingt mir wohl, ihren Geist zeitweise zu fesseln, allein nicht den erloschenen Funken der Vernunft wieder dauernd anzufachen.« Er schüttelte sich, wie eine böse Vision von sich abwehrend, dann fuhr er ruhiger fort: »Oft erscheint es mir als ein Verbrechen; aber ich kann nicht anders, in meiner Teilnahme für sie – nun, 's wird wohl vorbei sein, nachdem es uns gelungen, Euch wohlbehalten von hier fortzuschaffen.«

»Eine schwierige Ausgabe bei der Wachsamkeit der erbitterten Feinde,« versetzte Gerhard dumpf.

»Und doch dürft Ihr hier nicht bleiben, oder die Pestluft vollbringt, was Eure Feinde vergeblich erstrebten. Ihr sucht Ellenborough?«

»Ich muß ihn sehen.«

»Er weilt in der Nachbarschaft, wie ich durch den alten Androklus erfuhr; wo er seinen Wohnsitz aufgeschlagen hat, wurde dagegen noch nicht ausgekundschaftet. Morgen vielleicht oder übermorgen erhalte ich indessen neue Nachrichten.«

»Die arme Else,« bemerkte Gerhard nach einer längeren Pause tiefen Sinnens, »was wird ihr Ende sein? Wie wird es ihr gelingen, bei dem krankhaften Vertrauen in ihre Unverletzbarkeit und bei ihrem unsteten Wesen und rastlosen Umherstreifen sich ferneren Nachstellungen zu entziehen?«

»Wir wachen über sie,« beruhigte David mit einer ernsten Innigkeit, in der sich eine Welt der Teilnahme und der Besorgnis offenbarte.

Gerhard neigte das Haupt auf die emporgezogenen Knie. Eine unbesiegbare Schwermut bemächtigte sich seiner. Wohin er blicken, wohin er denken mochte, überall Kummer und Herzeleid, überall Schwierigkeiten und Gefahren.

Die Nacht schritt vor. David, der neben ihm saß, hatte es aufgegeben, ein neues Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er mochte ahnen, was in der Seele seines Gastes vorging. Schweigend begab er sich zu einer Gruppe harmlos plaudernder Genossen hinüber, sich alsbald an deren Unterhaltung beteiligend und derselben einen ernsteren Charakter verleihend. Seine Blicke ruhten dabei fast unablässig auf Else, welche im vollen Scheine des Feuers saß und aus grünen Binsen ein zierliches Blumenkörbchen flocht.

Die Atmosphäre war lau, sogar schwül. Wetterleuchten spielte ringsum am schwarzen Horizont. Es war wie das Blinzeln eines müden, vergeblich gegen Schlafsucht ankämpfenden Himmels. Bald hier, bald dort prüfte ein Riesenfrosch seine brüllende Stimme. Ihm antworteten im Chor Unken und Laubfrösche, wie im Vorgefühl kommenden Regens.

Gerhard hatte sich auf seinem duftenden Lager gedörrten Schilfgrases ausgestreckt. Die Blicke auf den gestirnten Himmel gerichtet, lauschte er mechanisch auf die summenden Stimmen der Farbigen, auf die fremdartigen Töne der zur Nachtzeit regen Tierwelt.


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