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Einunddreißigstes Kapitel.

Die reisenden Musikanten.

Ein altes Stift, eine Zufluchtsstätte für wenig bemittelte alternde Frauen, erhebt sich in der unmittelbaren Nachbarschaft eines deutschen Küstenstädtchens. Aus der Ferne gesehen, erscheint das altertümliche Gebäude wie eine von vergangenen Jahrhunderten erzählende Kirche. Erst beim Nähertreten verraten die in drei Reihen übereinanderliegenden Fenster mit den bleigefaßten Scheiben seinen eigentlichen Charakter. Auf einer leichten Bodenanschwellung liegt es, und mehr Nutzgärten sind es, die es umgeben, als Anlagen, die geschaffen wären zur Augenweide oder zu traulichen Spaziergängen. Denn wer von den Bewohnern des grauen Gebäudes Bewegung im Freien sucht, der wandelt gern weiter hinaus, um von den höher gelegenen Punkten aus einen Überblick über die nordisch eintönige Landschaft bis zu dem blauen Meeresspiegel zu gewinnen, oder geht rings um das Städtchen herum, das, auf dem Landwege nur dürftig im Verkehr mit dem sich überstürzenden großhändlerischen Treiben, gleichsam eine kleine Welt in sich selbst bildet. Doch mögen die Gärten immerhin den Charakter einer gewissen Küchensparsamkeit tragen, mag der Vorhof des Stiftes im Umfange kaum der Zahl der Bewohnerinnen entsprechen: Sauberkeit und freundliche Ordnung herrschen überall. Sogar einen Ausdruck friedlicher Behaglichkeit vermißt man nicht, ausreichend in den meisten Fällen für Gemüter, welche nach vielen und langen Seelenkämpfen endlich zwischen den grauen Mauern und unter dem bemosten Ziegeldach ein Asyl für ihren Lebensabend fanden.

Die Sonne eines hellen Sommernachmittags sandte ihre schrägen Strahlen durch alle Giebelfenster dieses alten Gebäudes, jedoch in keines freundlicher, als in die beiden nach dem Hofe zu liegenden zur ebenen Erde, hinter denen Meredith Kabul und Maßlieb traulich beieinandersaßen und emsig ihre Stricknadeln handhabten. Denn Meredith Kabul, die alte exzentrische Altertümlerin, die seit ihrer Kindheit sich nie zu weiblichen Handarbeiten verstanden hatte, war plötzlich eine andere geworden. Sie strickte nicht nur mit Todesverachtung, sondern auch für Geld, und mit ihr um die Wette – nicht minder staunenswert – strickte Maßlieb, die in dem kurzen Zeitraum eines halben Jahres auf diesem Felde sich eine solche Fertigkeit angeeignet hatte, daß sie, ohne die flinken Bewegungen der zierlichen Finger oft mit den Blicken zu überwachen, zugleich aus einem Buche vorzulesen vermochte. Und eine freundliche Gruppe bildeten sie bei dieser Beschäftigung: Meredith im verschossenen abenteuerlichen Glanze, Maßlieb dagegen dunkel gekleidet und säuberlich, wie ein junges Hausmütterchen, und mehr denn je ein Bild holder Jugendarmut und Schönheit. Zu ihrem lieblichen Antlitz mit dem leicht wechselnden Ausdruck aber kontrastierten doppelt seltsam Merediths ernste Züge mit den energisch zusammengepreßten Lippen und einer beinahe starren Ruhe, die das Hereinströmen eines Schatzes von Millionen schwerlich bemerkenswert gestört hätte, obwohl ein solcher Glücksfall gewiß recht willkommen gewesen wäre. Denn herrschte auch kein eigentlicher Mangel in dem zweifenstrigen Zimmer, so konnte ihm eine große Einfachheit der Ausstattung doch nicht abgesprochen werden; diese aber hatte sich wieder freundlicher gestaltet unter den regsamen Händen Maßliebs, welche es ebensogut verstand, wie einst ihrem eigenen sorglosen Ich, jetzt ihrer Umgebung durch Blumenschmuck und phantastisches Ordnen in den kleinsten Dingen erhöhte Reize zu verleihen.

Neben dem einfachen Wohnzimmer lag eine nicht minder einfache Schlafkammer mit zwei Betten, und auf der anderen Seite des schmalen Flurganges eine Küche, gerade groß genug, um für zwei Personen ein nahrhaftes Mittagsmahl herzustellen. Sparsamkeit war überall geboten; denn da mit der Stiftsstelle, außer Wohnung, Holz und Torf, nur ein geringes Einkommen an Geld verbunden war, so mußten beide notgedrungen fleißig arbeiten, um die Mittel zum täglichen Unterhalt zu gewinnen. Ganz mittellos war Meredith freilich nicht; noch lag eine kleine Reservesumme unter Verschluß, noch besaß sie ihre wohlverpackten Altertümer in der Hauptstadt; allein jene wagte sie nicht anzugreifen, den Auftrag zum Verkauf dieser nicht zu erteilen. Gewährte es ihr doch eine große Beruhigung, etwas zu besitzen, auf das sie in besonderen Verhältnissen, namentlich bei Krankheitsfällen zurückgreifen konnte. Und was sollte aus Maßlieb, dieser letzten Kabul, werden, wenn ihre Beschützerin das Zeitliche segnete und sie aus dem Stift hinausgewiesen wurde? Was sollte aus ihr werden, wenn ihr nicht wenigstens ein kleines Vermögen zu Gebote stand? Und so führten die beiden im Grunde ein stillzufriedenes Leben. Von der Vergangenheit sprachen sie wenig oder gar nicht; die Zukunft verursachte ihnen keine Sorge; den Verkehr mit anderen Menschen vermißten sie nicht, noch weniger suchten sie ihn, und wenn ihre Gedanken zuweilen abwärts schweiften, planlos schmerzliche Erinnerungen wachriefen, dann brauchten sie einander nur in Sie Augen zu schauen, um in dem Ausdruck inniger Anhänglichkeit reichen Ersatz zu finden für das Verlorene, auch wohl Unerreichte.

»Noch ein Kapitel,« entschied Meredith, als ihre liebliche Vorleserin eine kurze Pause eintreten ließ, »oder ein halbes, wenn es dir recht ist, und dann hinaus ins Freie.«

»Es ist noch früh,« meinte Maßlieb, »und zwei Kapitel wären –«

Sie stockte und erbleichte. Vom Hofe her waren die Akkorde einer Gitarre durch die offenen Fenster hereingedrungen.

»Reisende Musikanten,« erklärte Meredith, indem sie die Börse zog und nach einer kleinen Münze suchte. »Es geschieht selten, daß solche sich bis in diesen Erdenwinkel verirren,« fügte sie aufmunternd hinzu, als sie bemerkte, daß Maßlieb fortgesetzt auf das offene Fenster starrte. Sie begriff, daß deren Erinnerungen peinlich angeregt worden waren, und wünschte ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken.

Noch einige Akkorde, und eine Baßstimme, der man auf der Stelle anhörte, daß sie unzählige Male im Kreise froher Zechgenossen den »Landesvater« in die Welt hinausgedonnert hätte, sang mit einen: gewissen sentimentalen Ausdruck:

»Wir hatten gebauet ein stattliches Haus!«

»Auch ein Sänger,« sprach Meredith mit einem besorgten Blick auf die von dunklen Locken umwallten totbleichen Züge ihres Lieblings, vielleicht –«

»Er – sie sind es!« flüsterte Maßlieb fast atemlos, und über ihr Antlitz breitete sich plötzlich flammende Glut aus: »sie sind es beide –«

»Sie? Wer?« fragte Meredith, in freudiger Erregung emporspringend, denn sie kannte Maßliebs Geschichte bis in die kleinsten Einzelheiten.

»Schwärmer und – und –«

»Und?« fiel Meredith hastig ein.

»Kappel!« brachte Maßlieb in ihrem namenlosen Erstaunen mühsam hervor.

»Kappel?« wiederholte Meredith fast drohend, und indem ihre schlummernden Erinnerungen und wunderlichen Neigungen plötzlich neues Leben erhielten, warf sie sich stolzer in die Brust, »ein Kabul, der als Minstrell von Tür zu Tür wandert? Ein Nachkomme jenes berühmten –« und sie eilte mit langen Schritten hinaus, wo sie in der Tat den greisen, trübselig dareinschauenden Schwärmer gewahrte, der nach alter Weise die an einem verschossenen, grünseidenen Bande hängende Gitarre spielte, und neben ihm das Urbild eines heruntergekommenen Korpsburschen mit langem, buschigem Schnauzbart, noch längerem Knebelbart und auf dem Rücken einen vollgepfropften Tornister mit kühnlich hervorlugender Kleiderbürste und Stiefelbürste. Auf dem Ohr saß eine abgegriffene Studentenmütze; in der einen Hand hielt er einen gewaltigen Ziegenhainer, in der anderen ein leeres Notenblatt, von dem er alle seine Lieder abzusingen pflegte, um sie hinterher auf demselben Notenblatt mit barer Münze bezahlt zu erhalten, und dabei zeigte er ein so biederes, wettergebräuntes Antlitz, wie nur je eins nach einem verlorenen Schatz suchte.

Meredith hatte die beiden treu vereinigten Genossen ebensowenig jemals gesehen, wie sie selbst von ihnen gekannt wurde, und dennoch blieb sie keinen Augenblick im Zweifel über dieselben. Einige Sekunden zögerte sie, um sich zu sammeln. Dann trat sie mit einer Entschlossenheit auf die beiden bestaubten Musikanten zu, daß diese, wie in schüchterner Erwartung, vom Hofe gewiesen zu werden, Spiel und Gesang einstellten.

Vor Kappel angekommen, senkte sie einen durchdringenden Blick in seine ehrlichen Augen. Bedächtig tupfte sie ihn mit dem Finger auf die Brust, und: »Kabul?« tönte es ihm mit einer gewissen verhängnisvollen Ruhe entgegen. Kaum aber hatte Kappel die eine ganze ihm vertraute Lebensgeschichte enthaltende Frage vernommen, als zehntausend lustige Studentenstreiche aus seinen entzückten Augen sprühten. Hastig riß er die Mütze von seinem Haupt, und die andere Hand mit einer anmutigen Bewegung nach Merediths Herzgegend schwingend, fragte er gleichfalls: »Kabul?«

Die Beantwortung der beiderseitigen Frage aber lag in dem kräftigen Druck, mit dem sie ihre Hände ineinanderlegten.

»Sie sind nicht der erste Kabul, der als Minstrell die Länder durchstreift,« sprach Meredith, wieder vollständig Altertümlerin, tief bewegt, »und herzlich heiße ich Sie willkommen als Träger eines edlen Namens, wie auch als einen Mann, in dessen Adern das Blut meiner Vorfahren rinnt.«

»Und ob ich Sie mit frohem Herzen begrüße?« fragte Kappel, er hätte laut aufjubeln mögen über die wunderbare Fügung des Zufalls, »Sie, die wahrhaft edle Fräulein Meredith Kabul, nach der ich schon seit mehr als acht Monaten vergeblich das Land durchforsche? Ha, teurer Schwärmer –« und er schlug den greisen Schauspieler auf die Schulter, daß dieser in die Knie zu brechen drohte – »sagte ich's nicht vor jedem elenden Kreuzwege, daß wir beide unter einem günstigen Stern geboren seien und wir daher den richtigen Weg nicht verfehlen könnten? Wiederholte ich es nicht oft genug, wenn wir viele Tage hintereinander vergeblich auf die gerechte Anerkennung unserer hervorragenden Talente spekulierten? Wiederholte ich's nicht, wenn Hunger und Kälte uns schüttelten, der Sturm unsere Gesichter peitschte und Ihr getreuer Jammerkasten vor Wehmut seufzte? Und wie hat es sich bewahrheitet? Denn hier –« er verneigte sich anstandsvoll – »Fräulein Meredith Kabul; und hier, meine hochverehrte Dame –« wiederum eine anmutige Verneigung und eine empfehlende Handbewegung nach dem alten Schauspieler hin – »Herr Schwärmer, ein verkanntes Kunstgenie, ein würdiger Sohn Melpomenens, ein goldenes Herz, eine stählerne Treue, und mit mir denselben hohen Zweck verfolgend!«

Hätte Kappel sich unter seinem wahren Namen vorgestellt, hätte er seine übersprudelnden Empfindungen mehr zu beherrschen gewußt und, anstatt Meredith bereitwillig entgegenzukommen, Einwendungen erhoben, so würde diese sich um so krampfhafter an ihre wunderlichen Ideen angeklammert haben. Der Ausdruck eines gleichsam wilden Triumphes in dem Wesen des heruntergekommenen Korpsburschen, der berechnender Zudringlichkeit so ähnlich, erweckten dagegen ihren Argwohn. Konnte sie doch nicht ahnen, was ihn, nachdem er bereits alle Hoffnung aufgegeben hatte, förmlich berauschte und bis über die Wolken hob. Vergeblich suchte sie das sonst mit einem Kabul nicht ganz in Einklang stehende tolle Auftreten sich zu erklären, sich zu überzeugen, daß er nicht dennoch ein lästiger Vagabund, welcher ihre Eigentümlichkeiten zu seinen Gunsten auszubeuten trachtete. Mit einer gewissen abwehrenden Kälte antwortete sie daher auf seine Begrüßung:

»Wer Sie auch sein mögen, ein Kappel oder ein Kabul, von mir soll keiner dieses Namens unberücksichtigt scheiden; nein, schon allein eines jungen –«

»Fräulein Kabul,« fiel der heruntergekommene Korpsbursche mit dem höflichen, würdevollen Anstande eines auf die Mensur tretenden bemoosten Hauptes Meredith ins Wort, denn die langen Jahre eines unsteten Stallmeisterlebens hatten sein Zartgefühl nicht abzustumpfen vermocht, »ich bedauere unendlich, den Ausdruck meiner reinsten, ungeheuchelten Freude mißverstanden zu sehen. Wenn ich aber wagte, im Übermaß meines Entzückens scheinbar unverschämt auf die von Ihnen angeregten Ideen einzugehen, so geschah es nur, weil ich glaubte, daß unsere beiderseitigen Sorgen sich in einer armen Waise begegnen würden. Ich handelte vorschnell und bitte um Ihre gütige Nachsicht. Ich heiße Kappel; meine Aufträge lauten auf Ihren geehrten Namen wie auf den Maßliebs. Sie sind wichtig genug, das seltsamste Auftreten zu rechtfertigen, und wäre ich auf dem scheußlichsten aller Karusselldrachen oder auf dem Leibpferde des Doktor Faust seligen Andenkens, einem vollen Ohmfaß, hier vorgesprengt. Sie schließen in sich Lebensfragen ein – das heißt, nicht für meine hohe Person; denn nach gewissenhafter Erfüllung heiliger Versprechen gehe ich – Pah!«

»Die Woge nicht haftet am einsamen Strand!«

Er lachte bitter, setzte achselzuckend die Mütze aufs Ohr, strich seinen Knebelbart und schaute blinzelnd in die Sonne, daß seine Augen, wie durch die glänzenden Strahlen geblendet, sich mit Wasser füllten.

»Ein echter Kabul,« versetzte Meredith mit aufrichtiger Herzlichkeit, indem sie Kappels Hand abermals heftig drückte. Denn mehr noch als die wohlgefügten Worte, hatte der Ton seiner Stimme ihr Urteil zu seinem Gunsten umgewandelt – »ein echter Kabul, und als ein solcher seien Sie mir doppelt willkommen!«

»Ha, ich wußte, daß der Schicksalszensor an dieser Stelle keinen schwarzen Pinselstrich statt einiger herzerwärmenden Zeilen in mein Lebensdiarium eintragen würde!« erwiderte Kappel nicht minder herzlich, jedoch mit mehr Zurückhaltung als zuvor: »und so wünsche ich denn, daß meine Botschaft eine Welt der Last und der Sorge von Ihrem Gemüt entferne, ein heiterer Lebensabend die an Bedrängnis reiche Vergangenheit kröne, gleich wie ein lustiger Dämmerungsfalter der im Sonnenschein schwerfällig einherkriechenden Raupenhülle entschlüpft. Ja, solches wünsche ich Ihnen – Ihretwegen sowohl, als einer teuren Waise halber, für die, so Gott will, jetzt sorgenfreiere Zeiten tagen.«

Meredith erbleichte. Die rätselhafte Andeutung hatte bange Ahnungen in ihr wachgerufen. Einen bestürzten Blick sandte sie nach den verschiedenen Stockwerken hinauf, wo zahlreiche gerunzelte Gesichter aus den geöffneten Fenstern neugierig auf sie niederschauten; doch in dem Bewußtsein, daß man sich bereits zu sehr an ihre Seltsamkeiten gewöhnt hatte, um noch durch irgendetwas befremdet zu werden, lud sie die beiden Genossen freimütig ein, ihr ins Haus hinein zu folgen.

»Maßlieb – das Kind, ich hoffte es bei Ihnen zu finden,« bemerkte Schwärmer schüchtern, indem sie sich der Hausecke näherten, »alles, was wir über sie erfuhren, beschränkte sich darauf, daß in Ihrer Gesellschaft ein braunlockiges Mädchen die Stadt verlassen habe. Wir vermuteten daher –«

»Und Ihre Vermutungen täuschten Sie nicht,« bestätigte Meredith, indem sie wieder stehenblieb und nach der Ecke hinüberwies, wo Maßlieb, ein rührendes Bild ungeheuchelter Freude, tränenden Auges und mit gefalteten Händen ihren alten Beschützern entgegensah, »es sei denn, Sie verleugneten in jener jungen Dame Ihr dankbares Maßliebchen.«

»Fast möchte ich mich weigern, die junge Dame wiederzuerkennen,« versetzte Kappel, nur mit Mühe seine Selbstbeherrschung bewahrend und, wie beiläufig, mit dem seidenen Taschentuch – er wäre lieber verhungert, bevor er sich solchen Luxus versagt hätte – über seine ehrlichen Augen hinfächelnd, »und doch kann es nicht anders sein; wo natürliche Anmut gefördert wird durch wohlüberlegte Lehren, da muß jedes Meisterwerk einer schöpferischen Hand zur tadellosen Vollkommenheit gelangen. Hm – Gott segne dich –« murmelte das alte Haus tief ergriffen vor sich hin, »Gott grüße und segne dich vieltausendmal, du einziger Lichtpunkt in meinem armen Leben! Er segne dich, daß unermeßliche Schätze dich ebenso treu finden mögen, wie Armut, Elend und feindliche Nachstellungen es getan!«

Meredith vernahm seine Worte, und wiederum drängte sie gewaltsam die auf ihren Lippen schwebende Frage zurück. Aber mit innigem Wohlgefallen beobachtete sie Maßlieb, die, wie von einem sie fesselnden Bann befreit, nunmehr ihren alten Beschützern entgegeneilte und, sprachlos vor Erstaunen, mit einem süßen Lächeln die Hände reichte.

Der alte Schwärmer, von Jugendmut durchströmt, nahm einen gewaltigen Anlauf, um, wie einst auf den Brettern, auch in seiner äußeren Haltung die ihn überwältigenden Empfindungen zu offenbaren, allein alles mißglückte. Das kühn vorgeschobene rechte Knie schlotterte nicht minder, als das linke, den zurückgebogenen Oberkörper tragende, die malerisch auf die Hüfte gestützte Gitarre sank ebenso schlaff nieder, wie die auf dem Herzen ruhende Hand. Nur Tränen standen dem viel und hart geprüften Greise zu Gebote und das einzige Wort »Maßliebchen,« das er mehrfach und obenein so undeutlich wiederholte, als wäre es aus einem Souffleurkasten hervorgedrungen.

Kappel hatte seine Mütze wieder gezogen. Selbst unter dem Eindruck einer ihn fast verwirrenden Freude vergaß er nicht den äußeren Anstand, berücksichtigte er taktvoll die aus den Fenstern lugenden, gerunzelten Gesichter und daß sein bestaubtes Kleid und das liederreiche Notenblatt sich kaum recht zu der sittigen und sauberen Erscheinung Maßliebs passen dürften, mindestens eine vertraulichere Begrüßung vor Zeugen verboten sei.

In dem Zimmer dagegen, von dem die seitwärts gleitende Sonne Abschied zu nehmen drohte, da taute er wieder vollständig auf, und keinen Ausdruck der Liebe und der Freude gab es in seinem ziemlich reichen Lexikon, den er nicht aus überströmendem Herzen auf die holde Gefährtin einer langen Reihe seiner Stallmeisterjahre angewandt hätte. Dazwischen aber flössen geheimnisvolle Andeutungen von ungeahntem Glück, das zuweilen aus teuren Gräbern ersprieße, ein Erwecken wehmütiger Rückerinnerungen erheische und rechtfertige.

Ernster wurde bei solchen Worten Merediths Antlitz und sorgenvoller. Sie fühlte selbst, daß dieselben mehr auf ihre eigene Person berechnet waren. Ein Weilchen zögerte sie noch; dann aber ihren Mut zusammenraffend, bat sie Kappel, sie nach der Küche hinüber zu begleiten und dort mit ihr über Maßliebs Zukunft zu beraten.

Kappel folgte ihr gern, zumal er sah, wie Maßlieb, dieses goldene Herz ohne Falsch und Fehl, sich neben den vor Wehmut zitternden Greis setzte, seine Hand, wie in den Zeiten ihrer größten Not, zwischen ihren beiden Händen hielt, und mit kindlichem Erröten jener Tage gedachte, in denen er sein dürftiges Strohlager mit ihr geteilt hatte.

»Sie sind auf gutem Wege,« meinte der heruntergekommene Korpsbursche, sobald er auf den Flur hinausgetreten war und Meredith die Zimmertür hinter sich schloß, »holde Jugend und gebrechliches Alter; in beiden aber ein gleich kindliches Gemüt – o, Fräulein Kabul, könnten wir das von uns selber behaupten!« Er lachte bitter, dann fuhr er anscheinend sorglos fort: »Leider gibt es nur zu oft Menschen, die das Geschick zu besonderen Spielbällen seiner Laune wählt. Es würzt ihr Leben mit einem herben Beigeschmack, der, gleichviel ob selbst verschuldet oder unverdient, die letzte Heiterkeit raubt und wie Gift in der Seele wirkt. Man lacht und scherzt, Fräulein Kabul, allein nur um sich selbst und andere zu täuschen, nicht zu verraten, daß hinter einer solchen Maske hier Gram um das eigene verlorene Erdendasein, dort unheilbarer Kummer um das von fremder Hand gewaltsam Entzogene am Herzen nagt.

Mit einer Verbeugung ließ er Meredith den Vortritt in die enge Küche, in der ein Brettschemel und eine Waschbank zu ihrer Aufnahme bereit standen.

»Sie haben mir Wichtiges – ein Geheimnis anzuvertrauen,« hob Meredith an, sobald sie in der Nähe des Fensters Platz genommen hatten, und schmerzliche Spannung prägte sich in ihren scharfen Zügen aus.

»Die letzten Grüße eines Verstorbenen,« antwortete Kappel feierlich, indem er eine vielbenutzte Brieftasche hervorzog und Meredith die Adresse eines versiegelten Schreibens zeigte.

Meredith erbleichte noch mehr.

»Ich kenne sie,« antwortete sie schaudernd, ohne indessen den Brief, obwohl an sie gerichtet, anzurühren.

Kappel seufzte erleichtert auf.

»So ist die letzte Möglichkeit einer Täuschung ausgeschlossen,« sprach er wie zu sich selbst, dann fuhr er lauter und eindringlicher fort: »Wohlan denn, Fräulein Kabul, die Hand, die dieses verfaßte, ist längst kalt und starr, und mit ihr modert der Schreiber in seinem Sarge. Ein furchtbares Los traf ihn; es traf ihn so schwer, daß er allein schon deshalb auf die Vergebung seiner Mitmenschen Ansprüche erheben darf.«

Zögernd nahm Meredith nunmehr den Brief, ihn uneröffnet neben sich auf den Küchentisch legend.

Verriet er Ihnen die Beziehungen, in denen er zu mir stand?« fragte sie beinahe tonlos.

»Nichts verriet er mir,« beteuerte Kappel ernst; »noch weniger glaubte ich berechtigt zu sein, Fragen an ihn zu stellen. Er ließ mich zu sich bescheiden, um mir seine letzten Wünsche anzuvertrauen; ich nahm sie entgegen mit dem Versprechen gewissenhafter Erfüllung.«

»Er ist tot?« fragte Meredith wie im Traum.

»Tot,« bestätigte Kappel, »gestorben wie das elendeste Geschöpf unter den Klauen gefräßiger Geier.«

Über Merediths Antlitz rollten Tränen. Dann sah sie mit einer hastigen Bewegung empor.

»Kennen Sie seinen wahren Namen?« fragte sie mit erhöhter Spannung.

»Nein,« hieß es zurück, »er beauftragte mich, nur im Namen eines Toten zu Händeln.«

»Eines Toten«, wiederholte Meredith sinnend, als hätte sie es nicht fassen können; »und in Erfüllung eines Ihnen übertragenen letzten Willens durchstreiften Sie so lange suchend das Land?«

»Bis an mein Lebensende hätte ich gesucht und geforscht, wäre ich nicht von einem glücklichen Zufall vor diese Tür geführt worden; denn von den Spuren, auf die jener Unglückliche mich wies, durfte ich nur schwache Hoffnung auf Erfolg hegen. Nach Ihrer Wohnung schickte er mich, und die fand ich leer. Kaum daß es mir gelang, die Richtung auszukundschaften, in der Sie die Stadt verlassen hatten.«

»Warum wendete der Verstorbene sich gerade an Sie?«

»Weil er wußte, daß die Aufklärungen über Maßliebs Herkunft bei mir am sichersten aufbewahrt seien. Und er handelte überlegt; denn viele in den ihm nur noch zugänglichen Kreisen hätten schwerlich den Anerbietungen widerstanden, die mir für Aushändigung der Beweise von des teuren Kindes Geburt gemacht wurden.«

»Wunderbar,« flüsterte Meredith vor sich hin, dann wieder lauter zu Kappel: »Sie besitzen die erwähnten Beweismittel?«

»Hier sind sie,« antwortete Kappel, die Brieftasche wieder öffnend und ein dünnes Päckchen Papiere zu dem Brief auf den Tisch legend.

Auch diese rührte Meredith nicht an. Sie wünschte augenscheinlich zuvor noch weitere Erklärungen.

»Sie ist vornehmer Leute Kind, ich ahnte es längst,« bemerkte sie nach einer Pause tiefen Sinnens.

»Die Tochter eines Schauspielers und einer Sängerin, einer getauften Jüdin.«

Meredith schrak empor.

»Eine Verwandtschaft, die am besten vor ihr verheimlicht wird,« sprach sie zweifelnd.

»Dazu fehlt uns das Recht,« wendete Kappel ein, »einesteils hatte sie keine Ursache, sich ihrer Eltern zu schämen, außerdem aber knüpfen sich an ihre Herkunft so bedeutende materielle Vorteile, daß es Torheit wäre, dieselben in Frage zu stellen. Und dürfen wir überhaupt ihr vorenthalten jenen freundlichen Gruß, mit Wehmut und Zärtlichkeit ihrer Heimgegangenen Eltern zu gedenken?«

»Sie urteilen edler, als ich,« versetzte Meredith düster, »allein wenn man so lange einsam in der Welt lebte, kann es nicht überraschen, wenn die angeborenen milden Regungen allmählich einen gewissen sagenhaften Charakter erhielten. Gern ordne ich daher mein Urteil dem Ihrigen unter. Doch von wem kommen jene materiellen Vorteile?«

»Von ihrem Großvater mütterlicherseits.«

»Von einem Juden?«

»Von Nathan Myer, allgemeinbekannt als der weise Nathan.«

»So ist alle Mühe vergebens,« nahm Meredith schnell das Wort, »ich hörte von ihm; er soll ein fürstliches Vermögen besitzen. Weiß er um das Kind?«

»Ich selbst nahm Veranlassung, mit ihm darüber zu sprechen, erlangte indessen nur den Bescheid, daß ich vor allen Dingen seine Enkelin ihm vorzustellen habe.«

»In welcher Beziehung stand der Tote zu Maßlieb? Sie selbst erwähnte seiner nie.«

»Der Zufall hatte ihn mit ihren Eltern kurz vor deren Hinscheiden zusammengeführt, und von ihnen erhielt er diese Schriftstücke.«

»Warum erbarmte er sich nicht der verlassenen Waise?«

»Dringende Geschäfte führten ihn übers Meer –«

»Dringende Geschäfte,« lachte Meredith höhnisch, »sehr dringende Geschäfte! Ha! Nannte er Ihnen nicht deren Charakter? Sprach er nicht –« sie erschrak über sich selbst und senkte das Haupt; dann fügte sie milder hinzu: »Doch er steht vor seinem letzten Richter; mag dieser ihm verzeihen, wie ich es tue; denn geschähe das Gegenteil, die von mir erduldeten Leiden würden dadurch nicht rückgängig gemacht. Ja, verzeihen will ich ihm, seine letzten Worte will ich lesen, um zu erfahren, was er zu seiner Entschuldigung anführt; Vielleicht daß dadurch die Erinnerung ihren schärfsten Stachel verliert.«

Sie nahm den Brief, prüfte die Adresse noch einmal aufmerksam, dann riß sie ihn auf, sich alsbald in den Inhalt vertiefend.

Kappel beobachtete sie gespannt. Er begriff, daß geheimnisvolle Beziehungen zwischen Spark und Meredith bestanden hatten; vergeblich aber trachtete er, aus den Gesichtszügen der Lesenden näheres zu erraten. Starr und ausdruckslos flogen ihre Blicke über die Zeilen hin. Erst nachdem sie eine Weile gelesen hatte, erwärmte ihr Antlitz sich wieder, während die großen Augen versöhnlicher blickten. Allmählich gelangte sogar Mitleid zum Ausdruck, bis endlich Tränen über ihre Wangen rollten, die bebenden Lippen zu flüstern begannen und sie bald darauf, sichtbar unbewußt, halblaut, jedoch mit eigentümlicher Weichheit vorlas.

Regungslos saß der heruntergekommene Korpsbursche. Er ahnte nicht, ob Meredith ihm den Inhalt des Briefes wirklich mitzuteilen wünschte, oder ob ihr Verfahren ein absichtsloses sei. In dem einen wie in dem andern Falle war es ihm peinlich, die offenbar unter einem schweren geistigen Druck Befindliche zu unterbrechen. Er überließ daher dem Zufall, nach irgendeiner Richtung hin eine Entscheidung herbeizuführen.

»Meine Qualen sind unbeschreiblich,« las Meredith, als hätte sie sich allein befunden, »doch was sind alle körperlichen Schmerzen im Vergleich mit den Leiden, die beim Rückblick auf die erste Zeit unserer Bekanntschaft meine Seele zerfleischen! Dein verfehltes Erdendasein, es fällt mir zur Last, und jetzt, da ich alles sühnen möchte, ist es zu spät. Denn vernimm die Wahrheit und dann frage den Himmel, ob es noch eine Verzeihung gibt für das, was ich an dir verbrach. Versetze dich zurück in jene Tage, in den ich um deine Gunst, um deine Liebe warb. Du, die einzige Tochter deiner Eltern, wurdest für eine reiche Erbin gehalten, und das – zu meiner Schmach gestehe ich es – verlieh dir in meinen Augen erhöhte Reize. Deine Eltern aber schnitten mir jede Hoffnung ab, sie wußten mehr über mich, als ich ahnte. Sie kannten meinen Leichtsinn und meine sträflichen Neigungen, und wohl wäre es dir zu gönnen gewesen, daß du ähnlich gedacht hättest. Allein du warst unempfindlich für alles, nur nicht für meine Schwüre ewiger Liebe und Treue. Wäre es mir beschieden gewesen, offen mit dir vor den Altar zu treten, so wäre dein Einfluß auf mich ein segensreicher geworden, er hätte mich umgewandelt. Allein das sollte nicht sein! Um in der Öffentlichkeit zu glänzen und für reich zu gelten, namentlich deinen Eltern gegenüber, ließ ich mich zu Ausgaben verleiten, die meine Kräfte weit überstiegen. Meine Schulden wuchsen, so daß ich endlich keinen andern Ausweg mehr entdeckte, als zu Fälschungen meine Zuflucht zu nehmen, was nur durch meine Stellung als Kassierer nur zu sehr erleichtert wurde. Doch mit Entsetzen sah ich den Tag herannahen, an dem ich dem Gericht übergeben werden würde, und es reifte in mir der Plan, dessen Ausführung dich in das Verderben hinabstürzte. Du solltest meine Retterin werden; und ich entschloß mich zu dem verzweifelten Schritt, meinen Einfluß auf dich zu einer heimlichen Verheiratung zu mißbrauchen und demnächst meine und deine Rettung von der Schande von deinen Eltern mit Gewalt zu erzwingen. Verblendet, wie du warst, lauschtest du willig meinen Ratschlägen; allein die Ausführung meiner Pläne war um so schwieriger, weil ich keinen Geistlichen kannte, der mir zu solchem Beginnen die Hand geliehen hätte. Da gab mir der Böse einen Gedanken ein, dessen Verwirklichung er gleichsam selber überwachte.

Zu meinen Bekannten zählte ich einen Kandidaten der Theologie – er starb später im Armenhause –, der ein würdiges Seitenstück zu meiner eigenen Person bildete. Stets in Geldnot, bedurfte es bei ihm keiner großen Überredungsgabe, in die Rolle eines Geistlichen einzutreten und uns in aller Form zu trauen. Nur er und ich wußten um unser Geheimnis und die drei Zeugen, die ich einlud, gehörten ebenfalls jener Gesellschaft an, die sich gegen eine mäßige Entschädigung zu allen Dingen gebrauchen läßt. Alles gelang. In einer für den Abend von dem Kandidaten gemieteten Wohnung wurde der entsetzliche Betrug vollzogen, worauf wir beschlossen, die Feier durch ein kleines Festmahl zu verherrlichen. Auf dem Wege nach dem Gasthofe betrachtetest du dich bereits als meine Gattin, während ich selber in der ungesetzlichen und daher ungültigen Handlung nur den ersten Schritt zu meiner Rettung erblickte. Denn meine Berechnungen reichten bis dahin, daß deine Eltern mich fußfällig darum bitten würden, mich in wirklich bindender Form mit ihrer Tochter trauen zu lassen. Doch in diesen Berechnungen hatte ich mich getäuscht. Du entsinnst dich, daß ich auf jenem verhängnisvollen Wege von einem Manne angehalten wurde, der mir einige Worte zuraunte, nach denen ich das Festmahl auf einen anderen Tag verschob und mich flüchtig von dir verabschiedete. Ich ging, um nach vielen Jahren erst wieder vor dich hinzutreten; denn meine Fälschungen waren entdeckt worden, und nur mit Mühe gelang es mir, zu entfliehen.

Die öffentlichen Bekanntmachungen konnten unmöglich deiner Aufmerksamkeit entgehen, und auf deine Seele wälzte sich das furchtbare Bewußtsein, durch kirchlichen Segen einem Fälscher als Gattin anzugehören.« –

»Was ich in der Ferne trieb, es gehört nicht mehr hierher. Nur anklagen will ich mich, daß ich auf der einmal beschrittenen Bahn des Frevels weiter arbeitete und an nichts weniger dachte, als dir Nachricht von mir zu geben oder dich gar über das zwischen uns bestehende Verhältnis aufzuklären. Beständig schwebte mir die Möglichkeit vor, gerade dieses Verhältnis noch einmal zu meinen Gunsten auszubeuten.«

Hier sanken Merediths Hände mit dem Schreiben auf ihren Schoß. Ihr Antlitz schien sich versteinert zu haben, und wie mit erloschener Sehkraft stierten ihre Augen ins Leere. Das Bewußtsein, die vielen langen Jahre hindurch sich unter einem furchtbaren Drucke vermeintlicher heiliger Verpflichtungen befunden zu haben, die sie mit Leichtigkeit zu jeder Stunde hätte abschütteln können, schien wie ein Todesstoß zu wirken, den Haß gegen ihren Verderber noch einmal zur hellen Flamme anzufachen. Denn der Starrheit auf ihrem Antlitz folgte eine lodernde Glut; ihre Augen sprühten, mit einer heftigen Bewegung hob sie den Brief wieder empor, und scharf und unheimlich tönte ihre Stimme durch den engen Raum.

»Nach langen Jahren abenteuerlichen Umherstreifens sehnte ich mich endlich nach Ruhe und nach einem meine Ruhe sichernden Besitztum,« las Meredith mit feindseligem Lächeln. »Ich dachte an dich, an den heimatlichen Boden, wo man mich, wenn ich unter einem andern Namen auftauchte, schwerlich wiedererkannte. Gegen Erwarten fand ich dich unverheiratet; du führtest zwar noch immer deinen Mädchennamen, allein starr hingst du an dem Wahne, daß Bande dich an einen Mann knüpften, die nicht gelöst werden konnten, ohne dich zugleich der öffentlichen Schande preiszugeben. Dein Entsetzen, als ich zum ersten Male bei dir eintrat, sagte mir alles, lieferte mir aber zugleich den Beweis, daß ich mein ferneres Schweigen zu den günstigsten Bedingungen an dich würde verkaufen können. Wie dies geschah, du hast es nicht vergessen; auf welche Gründe hin ich deiner Hilfe nicht mehr bedurfte, ist dir ebenfalls nicht fremd. Ich zählte zu jenen verworfenen Hyänen des Kapitals, zu jenen Scheusalen, deren einzige Lebensaufgabe ist, alle nur denkbaren, im Strafgesetzbuch nicht besonders vorgesehenen Mittel und Wege sich zunutze zu machen, ihre Mitmenschen bis auf den letzten Faden auszuplündern. Doch wenn es den meisten dieser Verworfenen vergönnt ist, sich an den Früchten ihres Raubes zu mästen, ihre Verruchtheit hinter äußeren Glanz zu verstecken, sogar durch jesuitische Mittel sich den Ruf der Achtbarkeit und Frömmigkeit zu bewahren, so traf die Rache des Himmels mich schon in dieser Welt: Elend und unter den gräßlichsten körperlichen Qualen liege ich auf einer Brutstätte roher, verbrecherischer Gewalten. Wie ich hierher gelangte, wird der Überbringer dir erklären. Schildern aber kann er nicht die Höllenqualen, unter denen ich deiner gedenke, unter denen ich mit meinem letzten Atemzuge das an dir Begangene – leider zu spät – zu sühnen suche. Ich könnte jemand zwingen – und du errätst den Namen meines Hauptmitschuldigen –, dir jene fluchwürdigen Aktien zum vollen Nennwerte abzukaufen; allein ich kenne deine Gesinnungen, weiß, daß du lieber dein letztes verlierst, bevor du dich entschließest, von den Tausenden der um ihre Habe Betrogenen eine Ausnahme zu machen und durch solche Abfindung gewissermaßen eine Mitschuldige der Hyänenzunft zu werden. Ebenso vermeide ich, die Handhaben zu liefern, mittels deren dieser und jener vor die Schranken der Geschworenen geführt werden könnte. Mag des Himmels Rache sie suchen, wenn die weltliche nicht geneigt ist, sie zu treffen. Mit ihnen habe ich nichts mehr zu schaffen. Meine letzte Stunde naht, und ich benutze sie, mit der Welt sich abzufinden. Was nach diesem Leben kommt, es ist mir gleichgültig!

So nimm denn hin als Vermächtnis meine heilige, durch den Tod besiegelte Beteurung: Schändlich betrog ich dich um deine Ruhe, um deinen Seelenfrieden; denn du warst weder gezwungen noch berechtigt, meinen Namen zu tragen! Als Meredith Kabul bist du unter den Augen treu liebender Eltern herangewachsen. Als Meredith Kabul bist du gealtert, und wirst du dereinst zur ewigen Ruhe eingehen! Deine Verzeihung, ich erflehe sie nicht; zu schwer sündigte ich an dir; den größten Dienst aber, den ich dir hätte leisten können, ich leiste ihn gern durch meinen Tod.

Für eine andere möchte ich indessen bei dir bitten. Ein liebliches Kind, an dem ich mich nur mittelbar verging, ein junges Mädchen, namens Maßlieb; solltest du durch den Überbringer näheres über dasselbe erfahren, so erbarme dich seiner. Nimm es in deinen Schutz und sei ihm behilflich, daß es zu seinem Rechte gelange, daß es nicht dem grausamen Schicksal verfalle, das andere ihm bereiten möchten.

Ich leide so furchtbar, daß ich den Tod als meinen Erlöser mit ganzer Seele herbeisehne.

Meredith Kabul, lebewohl! Dieser letzte Wunsch eines Sterbenden, er wird dir nicht zur Schande oder zum Nachteil gereichen.«

Wiederum sanken die Hände mit dem Brief auf Merediths Schoß, und lange starrte sie grübelnd auf ihn nieder. Ihr Antlitz zeigte einen Ausdruck, als hätte sie selbst ins Grab gelegt werden sollen. Zu überwältigend waren die durch Sparks Geständnis erzeugten Empfindungen.

Als sie nach einer langen Pause wieder emporsah, erhellte ein versöhnliches Lächeln ihre Züge. Ihre Blicke trafen in die Kappels. Ein Weilchen ordnete sie ihre Gedanken, erwägend, inwieweit sie den heruntergekommenen Korpsburschen zu ihrem Vertrauten gemacht habe, dann sprach sie ernst und frei von jeder Regung des Hasses oder der Befriedigung:

»Mögen die Toten ruhen in ihren Gräbern. Die Kunde, ob sie früher oder später mich traf: die bitteren Lebenserfahrungen wären in ihrer traurigen Wirkung nicht gemildert worden. Wo einem jugendlich hoffenden und liebenden Herzen einmal der Glaube ans Heiligste gewaltsam entrissen wurde, da ist eine Erneuerung und Wiederholung holden Sehnens nicht mehr denkbar. Aus einem kalten Aschenhügel schlagen keine hellen Flammen mehr empor.« Ihre Stimme bebte, als hätte sie in lautes Weinen ausbrechen mögen; darauf fuhr sie fort: »Seltsam! Hätte ich alles gewußt, so wäre nicht – ach, ich sehe es ein – das krankhafte Sinnen und Trachten in mir entstanden, meinen Geburtsnamen beständig in den Vordergrund zu stellen, eifersüchtig darüber zu wachen, daß nie der Verdacht einer Änderung desselben auftauchte. Und dennoch, dieses Haschen nach Verwandten oder vielmehr Kabuls, diese Besorgnis, daß der seltene Name als ein gefälschter hingestellt werden könne: ein Segen wars vielleicht, daß meine Gedanken nach dieser Richtung hin abgelenkt wurden; unter den furchtbaren heimlichen Seelenkämpfen wäre ich sonst wohl kaum vor einem geistigen Tode gewahrt geblieben.«

Sie schauderte. Es war wie das Zurückbeben vor dem Abgrund einer gefährlichen krankhaften Idee. Wiederum das schmerzliche Lächeln, und inniger, wärmer tönte ihre Stimme, indem sie ihre Worte gleichsam an sich selbst richtete:

»Trotzdem habe ich keinen Grund unzufrieden zu sein. Ich fand nicht, aber ich schaffte mir in meiner Not Namensverwandte, um nicht die einzige und letzte dieses Stammes zu sein, und liebe, herzige Seelen waren es, die sich mir zuneigten – meine arme Esther, mit ihr verlor ich ein Stück von meinem Leben – und dann mein gutes, getreues Maßliebchen, diese freundliche Fee, wohl geeignet, Segen um sich her zu verbreiten und dereinst der Mittelpunkt einer glücklichen Familie zu werden. Doch ich fürchte, die Erfahrungen ihres jungen Lebens haben einen Stachel in ihrem Herzen zurückgelassen, der ihr die Pforten eines Glücks verschließt, wie ich es ihr so herzlich gern gegönnt hätte. Mein armes, getreues Maßliebchen! Meine letzte Kabul –« sie lächelte über sich selbst bei der erneuten Anwendung dieses Namens – »nein, nein«, fügte sie hinzu, dem mit tiefer Ehrerbietung zu ihr aufschauenden Kappel die Hand reichend, »warum soll ich meiner langjährigen Gewohnheit untreu werden? Auch Sie begrüße ich noch als einen echten Kabul, als einen Mann, wie in meinen phantastischen Träumen wohl der eine oder der andere meiner Vorfahren vor mir auftauchte, als einen Mann, opferwillig und treu und jederzeit bereit, für das Recht einzutreten und die verfolgte Unschuld zu schützen und zu beschirmen. Außerdem kennen Sie die Spuren, die – so Gott will – zu einem erwünschten Ziele führen; Sie lieben das teure Kind hinlänglich, um in Ihrer Sorge für dasselbe alles andere zu vergessen; und die Mittel? Nun, etwas steht mir noch zu Gebote, und genügt das nicht, wohlan, jetzt soll es mich keinen Kampf mehr kosten, alle meine Reliquien und Altertümer hinzugeben, von denen ich bisher meinte, daß durch deren Sammeln und Ordnen der Name Kabul als der einzige mir gebührende eine gewisse sichere Unterlage erhalte, Sie sind mit mir einverstanden?« fragte sie wunderbar zutraulich.

»Alles für unser Maßliebchen«, versetzte Kappel bewegt, und wohl nie in seinem Leben erschien ihm die Armut bitterer, bereute er tiefer und aufrichtiger sein bisheriges sorgloses Vegetieren; »alles, alles für unser Maßliebchen, alles für das teure Kind, das schon in seiner ersten Jugend gewissermaßen das rettende Eiland bildete, an das der auf unabsehbarer Meereswüste planlos umhertreibende verlorene Weltbürger sich mit seinen letzten Kräften anklammerte.«

»Gut, mein lieber Herr Kappel – oder vielmehr Kabul,« und ein kaum bemerkbares gewinnendes Lächeln umspielte Merediths schmale Lippen, »wir sind einig, und ich müßte mich sehr täuschen, träte Ihr greiser Gefährte nicht gern als Dritter unserm Bunde bei. Doch eine Bedingung,« und sie tupfte mit dem Zeigefinger leicht auf Sparks offenen Brief, »dies ist der Sarg meiner Jugendhoffnungen; möge das Geheimnis zwischen uns beiden ruhen, nie wieder zwischen uns, noch weniger vor fremden Ohren erwähnt werden.«

Kappel verneigte sich, indem er mit tadellosem Anstände die Hand auf sein biederes Herz legte.

»Und dieses,« fuhr Meredith fort, auf die Maßlieb betreffenden Papiere weisend, »ich kann jetzt noch nicht, und – es sind ohnehin der Aufregungen schon mehr als zu viel. Wenn ich erst einigermaßen mich in die neue Lage gefunden habe, wollen wir weiter beraten, Maßlieb aber vorläufig noch im Dunkeln über alles erhalten. Weshalb Hoffnungen erwecken, die sich vielleicht nicht verwirklichen? Warum Aufklärungen erteilen, von welchen wir nicht wissen, ob wir später Ursache finden, sie zu bereuen? Und lieber kehre ich mit ihr in die friedliche Stille dieses traulichen, dem Geräusch der Welt fernen Asyls zurück, ehe ich ihren Seelenfrieden ganz aufs Spiel stelle, sie wohl gar mit einem kranken, vergifteten Herzen, wie eine vom Nachtfrost grausam getötete Blüte dahinsiecht.«

Sie erhob sich. Kappel, eitel Ehrerbietung und Hochachtung, folgte ihrem Beispiel. Der verkommene Korpsbursche schien plötzlich um Kopfeslänge gewachsen zu sein, so veredelt fühlte er sich unter seinem bestaubten Röcklein. Hätte er vor dreißig Jahren solche Empfindungen kennen gelernt, er wäre mindestens bis zum Minister – nein, dazu war er zu offenherzig –, dagegen zu der geachteten Stellung eines kindlich gesinnten Vikar of Wakefield emporgestiegen, um, anstatt als Karussellstallmeister die Welt zu durchstreifen, seine Reisen – wie jenes Urbild eines treuen Geistlichen – auf die Strecke von dem blauen Himmelbett nach dem roten zu beschränken und, wie jener, als braver Familienvater sich am selbstgekelterten Johannisbeerwein zu laben.

Wie langjährige Freunde traten sie gleich darauf in das Wohnzimmer ein. Die Sonne hatte sich längst aus demselben empfohlen. Nur noch verschämt spielten ihre rötlichen Strahlen mit den offenen Fensterflügeln und lugte sie durch die kleinen bleigefaßten Scheiben, auf den das Alter vor lauter Langeweile die schönsten Regenbogenfarben echt eingebrannt hatte.

Schwärmer und Maßlieb saßen noch immer nebeneinander. Aber der alte Schauspieler hatte, sobald Maßlieb die erste Anregung dazu gab, seine Natur nicht verleugnet. Den rechten Fuß auswärts etwas nach vom gestellt, den linken sittig unter den Stuhl zurückgezogen und den Oberkörper sanft über die anmutig umfaßte Gitarre geneigt, hielt er sich bereit, auf ein gegebenes Zeichen kräftig in die Saiten zu greifen; wogegen Maßlieb, das gute herzige Maßliebchen, die Perlenzähne verlockend zwischen den leicht geöffneten Rosenlippen hindurchschimmern ließ, ebenfalls bereit, die süße Stimme auf das erste Signal zu erheben.

Und das Signal erfolgte. Höflich scharrende Männerschritte auf dem Flurgange von der Küche her, und die ersten leisen Akkorde zogen durch das Zimmer. Die Tür öffnete sich, und:

»Fern im Süd das schöne Spanien«

tönte es unbeschreiblich rührend von den Rosenlippen, während die großen, dunklen Augen, wie Verzeihung erflehend und doch so heiter zwischen Meredith und dem heruntergekommenen Korpsburschen hin- und herflogen.

Letzterer schob leise die Tür hinter sich zu. Tiefe Bewegung hatte ihn ergriffen. Nicht um die Welt hätte er eine Note des Liedes verlieren mögen, das er selbst einst mit gleichsam väterlichem Stolze dem zutraulichen Kinde einprägte. Merediths Augen schwammen in Tränen – gewiß eine Seltenheit – zu genau begriff sie Maßliebs Regungen. Hätte sie doch kein geeigneteres Mittel wählen können, die alten treuen Freunde zu überzeugen, daß trotz Zeit und Entfernung ihre Dankbarkeit unwandelbar geblieben.

»Unter schattigen Kastanien
Will ich einst begraben sein!«

schloß die süße Stimme. Die Sonne versank. Dämmerung schlich durch die kleinen Gemüsegärten um das altertümliche Gebäude herum und in das trauliche Zimmer hinein, in dem gedämpfte Stimmen zueinander sprachen und berieten, und vor lauter Eifer beinahe die allernotwendigsten Lebensbedürfnisse vergaßen. –

Am folgenden Morgen begaben die beiden Musikanten sich wieder auf den Weg nach der Hauptstadt. Aber nicht zu Fuß reisten sie, sondern stattlich in einem Postwagen und ausgerüstet mit Geldmitteln und Verhaltungsregeln, wie sie notwendig für die vor ihnen allen liegende Aufgabe war.

Meredith und Maßlieb, die sich weniger schnell von ihrer Heimstätte zu trennen vermochten, sollten später folgen und an Ort und Stelle von den beiden Freunden erwartet werden.

Das Posthorn ertönte, der gelbe Wagen rasselte über das holperige Straßenpflaster. Hell und klar schien die Sonne vom blauen Himmel auf die im Morgentau erglänzende Landschaft nieder. Die Lerchen jubelten, und mit ihnen jubelten die alten Herzen, die überall eine gute Vorbedeutung zu entdecken meinten. –


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