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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Lösung eines Rätsels.

Bringt Ihr Nachricht von dem Burschen?« fragte derselbe Kaufmann, von welchem Gerhard einige Tage früher so unfreundlich abgewiesen worden war, sobald Ellenborough den Wagen vor seiner Tür anhielt. »Im Kosthause ist er noch nicht eingetroffen; statt seiner aber Highway, Worthleß und die anderen. Man wird ungeduldig und wünscht der Sache ein Ende zu machen, bevor es zu spät ist, zumal sich Stimmen gegen Euch erheben. Man argwöhnt, daß Ihr ihn möchtet entschlüpfen lassen.«

»Verlangt man noch vollgültigere Beweise meiner Zuverlässigkeit, als daß ich, gewissermaßen als Unterpfand, den jungen Menschen fast im Augenblicke meines Scheidens aus dieser Gegend der Brüderschaft überantworte?« fragte Ellenborough, indem er vom Wagen sprang. »Doch ich muß Euch ohne Zeugen sprechen,« und nachlässig warf er den Zügel über ein zu solchem Zwecke vor dem Hause angebrachtes Gerüst.

»Zum Teufel, Mann, wie seht Ihr aus?« fragte der Besitzer des Ladens, als er sich an Ellenboroughs Seite nach einem Hinterzimmer begab; »habt Ihr Euch doch verändert, als wär's Sumpffieber in Eure Glieder gefahren.«

»Aufregung, nur innere Aufregung,« entgegnete Ellenborough heiser, »denn was ich in der letzten Stunde erlebte, ist genug, zehnmal des Satans zu werden. Ich habe den jungen Menschen gesehen,« fügte er hinzu, indem er sich erschöpft auf einen Stuhl warf.

»Und gesprochen? Wird er in sein Quartier zurückkehren?«

»Gesprochen ebensowenig, wie er die Stadt jemals wieder betritt«, erklärte Ellenborough zur sichtbar unangenehmen Überraschung des Genossen, »dagegen wird er in meinem Hause übernachten, und daran knüpfe ich Pläne, die Ihr den Brüdern zur Begutachtung vorlegen mögt.«

»Warum geht Ihr selber nicht zu ihnen?«

»Damit der Bursche entschlüpft und ihr das Vergnügen habt, ihm bis nach Kanada hinauf nachzusetzen?« fragte Ellenborough ungeduldig; dann fuhr er ruhiger fort: »Durch das Eintreffen einer jungen Verwandten ist meine Stellung eine wesentlich andere geworden. Ich bin gezwungen, mehr auf meine Sicherheit bedacht zu sein und vor allen Dingen zu vermeiden, daß Nachrichten über meine Beziehungen zu dem Clan in die Öffentlichkeit dringen. Ich schlage daher vor, daß das gegen den jungen Mann beschlossene Verfahren gerade draußen in meinem Hause ins Werk gesetzt werde. Hier mitten in der Stadt würde es ohnehin zu viel Staub aufwirbeln, zumal die Mehrzahl der Einwohner zu den Nördlichen hält.«

»Wie soll ich das verstehen? Um Eure Sicherheit seid Ihr besorgt und doch bietet Ihr Euer Haus zum Schauplatz an?«

»Laßt mich endigen: Noch in dieser Nacht trete ich meine Reise nach dem Norden an, wo ich das Mädchen treuen Händen zu übergeben beabsichtige, und da kommt der junge Deutsche mir gerade gelegen, während meiner Abwesenheit das Haus zu bewachen. Geschieht es nun, daß gleich in der ersten Nacht mein Haus ausgeplündert und niedergebrannt wird, so trifft meine Person am wenigsten ein Vorwurf. Den Schaden aber ertrage ich gern, weil es sich darum handelt, meine letzten Verpflichtungen gegen den Clan zu erfüllen und damit mir und der mir anvertrauten jungen Waise eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern.«

»Das läßt sich hören; verdammt! Denjenigen möchte ich sehen, der schlau genug wäre, aus der Asche herauszulesen, wer den Brand unter die Betten warf. Und zu leugnen ist's nicht, seit den jüngsten Vorfällen in Cincinnati und Philadelphia ist die Regierung aufmerksamer geworden. Man spricht von der Absicht des Präsidenten, den Ku-Klux-Clan durch Gewaltmaßregeln zu unterdrücken. Nun, wir wollen sehen, wer länger lebt: der Präsident mit der Hauptsorge für sich und seinen Anhang, oder die »Weißen Brüder« mit Messer und Strick.«

»Die Zeit wird's lehren,« versetzte Ellenborough düster, »ich selbst bin weniger siegesbewußt, oder ich scheute, den vor kurzem erst erstandenen Landbesitz wieder zu opfern.«

»Ihr seid entschlossen?«

»Fest entschlossen.«

»Um Mitternacht?«

»Nicht früher, nicht später.«

»Welche Maßregeln trefft Ihr im Hause selbst?«

»Beteiligt Ihr Euch an dem Unternehmen?« fragte Ellenborough schnell.

»Ich zog eine hohe Nummer.«

»Um so besser, denn Ihr seid mit den Räumlichkeiten vertraut. Die Haustür bleibt offen und in dem Zimmer zur rechten Hand schläft der junge Mensch. Das weitere ist Eure Sache. Macht, was ihr wollt; ich wasche meine Hände in Unschuld. Nur nicht vor zwölf Uhr, auf daß das Mädchen nicht durch fremde Gestalten eingeschüchtert werde.«

»Baut auf mein Zartgefühl. Glückt's, so wird man's euch dank wissen. Spielt ihr dagegen mit falschen Karten – nun – ihr kennt die langen Arme des Clans. Wenn erforderlich, reichen sie bis zum Nordpol hinauf.«

»Ich kenne sie zur Genüge,« versetzte Ellenborough lächelnd, »und deswegen ist's gleichgültig für mich, ob den jungen Mann hier oder einige Wochen später auf einer anderen Stätte sein unabweisbares Geschick ereilt.«

Er erhob sich und begleitet von dem Genossen trat er auf die Straße hinaus. Nachdem er in seinem Wagen Platz genommen hatte, reichte er jenem noch einmal die Hand.

»Ein Mißverständnis waltet nicht mehr?« fragte er erzwungen sorglos.

»Punkt zwölf Uhr in Eurem Hause,« antwortete der Kaufmann mit billigendem Kopfnicken.

»Alles wird zum Empfange bereit sein.« Ein leichter Schlag mit der Peitsche; das Pferd zog an und in langgestrecktem Trabe ging es zur Stadt hinaus.

Der Besitzer des Ladens blickte ihm ein Weilchen nach.

»Des Teufels will ich sein, wenn ich ihm traue!« sprach er kopfschüttelnd vor sich hin; dann eine heitere Melodie summend, begab er sich ins Haus zurück.

Der Einspänner verfolgte unterdessen seinen Weg mit ungeschwächter Eile. Erst auf der zweiten Hälfte seiner Fahrt und als die Sonne kaum noch eine Viertelstunde zu scheinen hatte, zog Ellenborough die Zügel wieder straff. Er wünschte Gerhard, den er auf dem Heimwege zur Stadt vermutete, zu treffen. Sorgfältig spähte er um sich. Wo nur immer der Weg durch einen Hain führte, der einen müden und niedergedrückten Wanderer zur Rast hätte einladen können, da fuhr er nicht von dannen, ohne Gerhards Namen einige Male laut ausgerufen zu haben. Doch alles vergeblich. Erst als er sich dem Punkte näherte, auf dem der Seitenweg von der Landstraße abbog, bemerkte er jemand, der seitwärts vom Wege im Grase saß. Das Haupt auf Arme und Knie gestützt, schien er eingeschlafen zu sein, denn er beachtete weder den herbeirollenden Wagen, noch daß Ellenborough, neben ihm angekommen, das Pferd anhielt und mit unverkennbarer Teilnahme zu ihm niederschaute.

»Herr Gerhard,« hob dieser nach einer längeren Pause tiefen Sinnens an, »ich suchte Sie auf dem ganzen Wege von der Stadt bis hierher, um Angelegenheiten von der dringendsten Wichtigkeit mit Ihnen zu besprechen.«

Sobald Gerhard seinen Namen nennen hörte, schrak er empor, und sein erregtes, schmerzentstelltes Antlitz zu Ellenborough erhebend, betrachtete er ihn mit beinahe stumpfem Ausdruck.

»Ich wüßte nicht, daß ich zu irgend jemand in der Welt in Beziehung stände, die eine solche Anrede rechtfertigte,« antwortete er darauf ruhig.

»Mein Name ist Ellenborough,« fuhr jener fort. »Wie ich vernahm, suchen Sie mich seit längerer Zeit.«

»Auf den ersten Blick erkannte ich Sie,« gab Gerhard zu, und die in ihm tobenden Leidenschaften offenbarten sich darin, daß er mit Heftigkeit einzelne längere Grashalme aus der Erde riß, »auch geforscht habe ich nach Ihnen, allein alle Mühe war überflüssig; die Gründe, welche mich dazu bewegten, sind geschwunden. Fahren Sie Ihres Weges, ich bedarf Ihrer nicht mehr.«

Ellenboroughs Nacken krümmte sich wie unter einer schweren Last. Unwillkürlich beugte er sich in Achtung vor dem jungen Manne, der augenscheinlich nach einem vor Esther abgelegten Versprechen handelte.

Plötzlich richtete er sich wieder empor.

»Sie forschen nicht nach mir,« begann er zögernd, »Sie weichen mir sogar aus, das hindert indessen nicht, daß ich eine Zusammenkunft mit Ihnen suche; denn Ihr, dem jungen Mädchen dort drüben in der zu dem Landhause gehörenden Laube verpfändetes Wort ist für mich nicht bindend.«

Gerhard sprang auf. Er glaubte falsch verstanden zu haben.

»Mein verpfändetes Wort?« fragte er bestürzt. »Wer verleiht Ihnen das Recht, leere Mutmaßungen als vollendete Tatsachen hinzustellen?«

»Wer es mir verlieh?« sprach Ellenborough, einen vergeistigten Blick zum Himmel emporsendend – »nun, rechten wir darüber nicht, sondern wenden wir uns Dingen zu, die Ihnen näher liegen: es droht Ihnen eine furchtbare Gefahr.«

»An Gefahren habe ich mich während meines kurzen Aufenthalts in diesem Lande gewöhnen müssen,« versetzte Gerhard bitter, »jetzt beachte ich sie nicht mehr, gehe ihnen nicht mehr aus dem Wege.«

»Ich möchte Sie vor dem Verderben bewahren.«

»Von Ihnen erwarte und verlange ich das am wenigsten. Ist mein Untergang beschlossen, so findet er mich nicht unvorbereitet.«

»Sie sind jung, Sie müssen dem Leben erhalten bleiben.«

»Über mein Dasein zu verfügen, steht mir allein zu. Sie sind der letzte, von dem ich Gefälligkeiten entgegennehmen möchte.«

»Das entbindet Sie nicht von der Verpflichtung, Ihr Leben einer gewissen Esther Kabel zu weihen,« versetzte Ellenborough nunmehr langsam und mit feierlichem Ausdruck, »derselben Esther Kabel, deren Haupt vor kurzem noch auf Ihrer Schulter ruhte und deren Tränen sich mit den Ihrigen vereinigten.«

Gerhard stand wie betäubt. Der Mann, der einen so entscheidenden Einfluß auf Esther ausübte und nunmehr mit der Gabe des Hellsehens ausgerüstet zu sein schien, flößte ihm Grauen ein. »Sie hörten von geheimen Verbindungen, die in ihrem unauslöschlichen Parteihaß Mord und Brand zu Bundesgenossen wählten, um Schrecken über den ganzen nordamerikanischen Kontinent zu verbreiten?« fragte Ellenborough, bis zu einem gewissen Grade sich weidend an dem Eindruck, den seine Worte auf Gerhard ausgeübt hatten.

Dieser gab ein zustimmendes Zeichen.

»Wohlan denn,« fuhr Ellenborough fort, »dieselben Mitglieder dieser finsteren Genossenschaften, deren Verfolgungen Sie ausgesetzt gewesen sind, haben auch mich und Esther zu ihren Opfern erkoren. Es fragt sich nun, ob Sie geneigt sind, durch tätigen Beistand dazu beizutragen, daß wir zu dreien glücklich entkommen, anstatt einzeln der Gefahr zu erliegen.«

»Ich – ich soll Ihnen, soll Esther meinen Beistand leihen! Ich, der ich selber hilflos in der Welt umherirre?« fragte Gerhard verstört; »nein, es ist unmöglich – Sie täuschen mich!«

»Sie mißtrauen meinen Worten,« sprach Ellenborough mit seltsamer Dringlichkeit, »ich besitze nicht das Recht, mich darüber zu beklagen. Um Ihren Glauben zu gewinnen, mahne ich Sie daher an die Worte unvergänglicher Liebe, die Sie mit Esther austauschten. Bei dieser Erinnerung aber beschwöre ich Sie bei allem, was Ihnen heilig: in Ihrer Hand liegt es, jene geheimnisvollen Gründe, deren das arme Kind mit brechendem Herzen erwähnte, zu beseitigen oder wenigstens inhaltslos zu machen.«

»Sie sind ein Dämon,« rief Gerhard bei dieser neuen Kundgebung entsetzt aus, »ein Dämon, oder ein hinterlistig lauschender Dämon hat Sie gut bedient!«

»Nennen Sie mich Dämon oder Engel,« erwiderte Ellenborough leidenschaftlich, indem er zur Erde sprang und seine Hand schwer aus des jungen Mannes Schulter legte, »halten Sie mich für was Sie wollen, nur verlieren Sie keine Zeit mehr mit Zweifeln und Erörterungen! Was Ihnen rätselhaft erscheint, wird bald kein Geheimnis mehr für Sie sein; und nun entscheiden Sie – von jeder neuen Minute kann das Lebensglück eines schuldlosen Wesens abhängen – wollen Sie blindlings meinen Anweisungen folgen? Wollen Sie ohne Einwendungen sich meinen Ratschlägen unterwerfen? Erwägen Sie aber wohl: es handelt sich um den Seelenfrieden jemandes, für welchen Sie mit Freuden Ihr Leben hundertfach zum Opfer bringen.«

Gerhard war noch immer von Argwohn erfüllt; und dennoch lag in dem Ausdruck, mit dem Ellenborough zu ihm sprach, etwas, das ihn unwiderstehlich anzog. Dann sich aufraffend:

»Wenn Sie ein unedles Mittel wählten, um mich für Ihre Pläne zu gewinnen,« bemerkte er nach kurzem Überlegen, »so mögen Sie es vor Ihrem eigenen Gewissen verantworten, ich dagegen kann nicht anders: nachdem Sie einen mir heiligen Namen anriefen, muß ich mich zu Ihrer Verfügung stellen.«

Über Ellenboroughs Antlitz flog ein Ausdruck der Genugtuung.

»Es ist acht Uhr,« bemerkte er eintönig, »drei und eine halbe Stunde bleiben mir zur Ausführung meines Planes, keine Minute länger. Merken Sie daher auf meine Worte: Nach Ablauf von zwei Stunden erwarte ich Sie drüben im Landhause; so viel Zeit gebrauche ich zu meinen Vorbereitungen. Werden Sie kommen?«

»Zur festgesetzten Minute bin ich dort,« antwortete Gerhard entschlossen.

»Als Zeichen, daß ich Sie erwarte, mag dienen, daß dieser Wagen, von dort herkommend, in die Landstraße einbiegt, aber die nördliche Richtung einschlägt. Esther selbst lenkt ihn; reden Sie sie indessen nicht an. Es hängt alles davon ab, daß ihre Ruhe nicht gestört, sie nicht im letzten Augenblick irre gemacht wird.«

»Bauen Sie auf meinen heiligen Willen. Doch eine Gegenfrage, zu der ich vielleicht durch Ihre Andeutungen berechtigt bin: Werde ich Fräulein Kabel wiedersehen?«

»Das steht in Gottes Hand. Um ein Wiedersehen zu ermöglichen, entfernen Sie sich vom Wege und vermeiden Sie jede Gelegenheit, mit zufällig Vorübergehenden in ein Gespräch verwickelt zu werden.«

Bei den letzten Worten bestieg er hastig den Wagen; die Peitsche knallte leicht und einige Minuten später verhallte das Geräusch, mit dem er nach dem gepflasterten Hofe des Landhauses hinauffuhr.–

Wie betäubt stand Gerhard da, die Blicke dahin gerichtet, wo der Wagen aus seinem Gesichtskreise getreten war. Er wußte nicht, was von dem Gehörten er glauben, was für die Erzeugnisse einer überreizten Phantasie halten sollte. Der Name Esther vibrierte in seinem Herzen; er hatte ihr versprochen, Ellenborough auszuweichen, und nun war er von ihm selber mit Gewalt in seine verwickelten Verhältnisse hineingezogen worden. Das Landhaus zeichnete sich nur noch matt in der tiefen Dämmerung aus. Ein Licht schimmerte zu ihm herüber. Leuchtete es der vereinsamten Geliebten, oder demjenigen, der sich zu ihrem Beschützer aufgeworfen, ihr Los mit unerklärlichen Banden an das seinige gekettet hatte?

Schwankenden Schrittes begab er sich nach der anderen Seite des Weges hinüber. Im Schatten eines Haselstrauches warf er sich auf den Rasen. Die Arme schob er rückwärts unter den Kopf, die Blicke richtete er empor zum strahlenden Firmament. Wie weit, wie unberechenbar weit waren die friedlich ihre ewigen Bahnen wandelnden Himmelskörper; und dennoch, wie nahe erschienen sie ihm im Vergleich mit seinen erbleichten Hoffnungen.

Nachdem Ellenborough heimgekehrt war, hatte er das Pferd in den Stall gezogen, jedoch nicht abgeschirrt, dagegen ihm reichlich Futter vorgeworfen. Dann begab er sich zu Esther, in deren Augen noch Tränen schimmerten.

»Esther,« hob er alsbald in eigentümlich weichem Tone an, »dein Wunsch, alle meine früheren Beziehungen gänzlich abgebrochen zu sehen, naht seiner Erfüllung.«

Esther blickte erstaunt, aber sichtbar befriedigt empor, senkte indessen sogleich ihre Augen wieder.

»Wir werden unsere jetzige Umgebung verlassen?« fragte sie kaum vernehmbar.

»Heute Abend noch brechen wir auf.«

»Ohne leicht zu verfolgende Spuren zurückzulassen?«

»Auch darauf habe ich Bedacht genommen.«

»Gott sei dank!« hauchte Esther anfänglich schmerzlich.

Ellenborough betrachtete sie besorgt, dann sprach er weiter: »Ich bin sogar zur größten Vorsicht gezwungen; denn nachdem ich mit der Vergangenheit brach, drohen mir in hiesiger Gegend ernste Gefahren. Welcher Art diese Gefahren sind, erfährst du zu gelegenerer Zeit; nur so viel deute ich an, um dir den Ernst unserer Lage zu veranschaulichen, daß sie in den Nachwehen des schon vor Jahren beendigten Bürgerkrieges wurzeln. Ja, mein Kind, wir ziehen von dannen nicht wie freie Menschen, sondern als Flüchtlinge und unter dem Schutze der Nacht. Schon die nächsten Stunden können eine verderbliche Entscheidung für uns herbeiführen, doppelt verderblich, weil ich offen für einen bedrohten Deutschen, namens Gerhard, einen früheren Buchhalter der Zentrifugalbank, eingetreten bin.«

Er zögerte, um heimlich zu beobachten, wie Esther, bei Nennung des Namens tödlich erbleichend, ihr Antlitz abkehrte; dann nahm er seine Mitteilungen wieder auf: »Nur schleunige Flucht kann uns retten, und um eine solche zu ermöglichen, müssen wir im vollkommensten Einverständnis handeln. Leider dürfen wir nicht zugleich von hier fort, doch nur wenige Stunden werden wir getrennt sein. Zur Vorsorge versehe ich dich mit ausreichenden Geldmitteln, damit du im Falle der Not dich auf eigene Hand nach Neuyork zu begeben vermagst. Ordne daher deine notwendigsten Habseligkeiten – nicht zu viel – höchstens deinen Koffer voll. Eine Stunde gebe ich dir Zeit; ich werde unterdessen einige Briefe schreiben. Nach Ablauf dieser Frist besteigst du den Wagen, und in die Landstraße hinüberfahrend, schlägst du die nördliche Richtung ein. Nach langsamer Zurücklegung einer Stunde Weges hältst du an, um mich zu erwarten. Am liebsten begleitete ich dich von hier aus, allein ich fürchte Späheraugen. Ich werde mich zu Fuß über die Felder auf den Weg begeben und erst in sicherer Entfernung in die Hauptstraße einbiegen. Sollte ich wider Vermuten auf Hindernisse stoßen, so sende ich dir einen Boten mit den betreffenden Ratschlägen. Die Gelder, die ich dir anvertraue, sind redlich erworbenes Gut; sie stehen in keiner Beziehung –« »Ich bin zu allem bereit,« fiel Esther mit ersterbender Stimme ein. »Mir genügen wenige Minuten, um reisefertig zu sein – ja, fort – nur fort von hier – es ist dies alles, was ich noch hoffe und wünsche – fort, bis wir einen Winkel finden, in dem wir ungestört und unbehelligt durch –«

»Ja, fort«, wiederholte Ellenborough einfallend, und die in Esthers abgebrochenen Sätzen sich offenbarende, obwohl nicht beabsichtigte furchtbare Anklage erzeugte auf seinem Antlitz schmerzliches Zucken – »fort, jedoch ohne Übereilung. Das Pferd bedarf einer kurzen Ruhe und des Futters, und ich selbst darf diese Stätte nicht verlassen, ohne zuvor einige dringende Geschäftsangelegenheiten erledigt zu haben. Also nach Ablauf einer Stunde, nicht früher.«

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, begab er sich in sein Zimmer hinüber. Ein Bett stand in demselben und ein mit Schreibmaterialien bedeckter Tisch. Mit dem in seiner Hand befindlichen Licht zündete er eine Lampe an, bei deren Schein er zunächst eine Anzahl Banknoten in ein Päckchen zusammenschnürte und versiegelte. Mit einer erheblich größeren Summe verfuhr er ähnlich. Er schien damit seine Kasse erschöpft zu haben. Dann erst setzte er sich zum Schreiben nieder. Zunächst beendigte er mehrere kurze Geschäftsbriefe, erst nachdem er diese versiegelt und mit Adressen versehen hatte, erhielt die Form eines neuen Schreibens den Charakter längerer, eingehenderer Mitteilungen. Die Hand flog über das Papier, als hätte er befürchtet, nicht fertig zu werden, und dennoch zitterte sie zuweilen; sie stockte sogar, wie um sich zur Fortsetzung zu stählen. Über sein Antlitz verbreitete sich dabei tiefe Röte, und während seine Augen ins Leere starrten, schien sich die Narbe auf seiner Wange zu vertiefen, sein Gesicht die scharfen Züge einer bereits in einem Sarge ruhenden Leiche zu erhalten. Es mußte Furchtbares sein, was in dem kurzen Zeitraum einer halben Stunde in der Brust des sonst so starken, sich selbst beherrschenden Mannes vorging; Kämpfe, deren Ursprung nicht in den Ereignissen jüngster Tage zu suchen war, sondern in weit zurückliegenden Fernen, als er, vielleicht noch im Besitze vollster Jugendkraft und heiteren Jugendmuts, von den sich vor ihm teilenden Wegen denjenigen wählte, auf dem gleißendes Farbenspiel seine Augen blendete, seinen Geist in die Irre führte. Dafür zeugten die vereinzelten Tränen, die langsam und schwer aus den mit finsterer Entschlossenheit auf das sich mit Schrift bedeckende Papier gesenkten Augen in den ergrauten Bart und von diesem zu der schnarrenden Feder hinabrollten. Ach, diese heißen, sengenden Tränen, sie schienen zu wissen, wohin sie gehörten, schienen zu wissen, daß da, wo Worte nicht ausreichten, einen Gemütszustand treu zu schildern, sie nur einige Buchstaben zu verlöschen brauchten, um den Inhalt eines Briefes den Stempel heiliger Wahrheit aufzudrücken!

Der Brief war beendigt und geschlossen; es fehlte nur noch die Aufschrift, als Esther eintrat. Sie befand sich im Reiseanzuge. Ihr Antlitz trug einen gewissen teilnahmlosen Ausdruck. Fast tonlos war auch ihre Stimme, als sie bei ihrem Eintritt zu sprechen anhob.

»Fünf Minuten fehlen noch an der anberaumten Zeit,« begann sie leise und, indem ihre Blicke auf Ellenborough fielen, offenbarte sich in denselben eine unbeschreiblich schmerzliche Entsagung – »ich bin reisefertig; Dunkelheit herrscht in meinem Zimmer, soll ich hier warten?«

Wie aus einem schweren Traume schrak Ellenborough empor. Doch sich ermannend steckte er alle Briefe zu sich, auch das größere Geldpaket, worauf er das kleinere Esther einhändigte.

»Nimm das an dich,« sprach er, und seine Stimme vibrierte seltsam, »der Zufall spielt oft wunderbar und macht unsere sorgfältigsten Berechnungen zuschanden.«

Nach diesen Worten trat er hinaus; Esther dagegen sank auf einen Stuhl. Nur noch das Leben eines künstlich hergestellten Gebildes schien in ihr zu wohnen. Denn wie die Quellen ihrer Tränen versiegt waren, schwiegen auch die eine bedrängte Brust erleichternden Ausbrüche eines herben Wehs. Regungslos saß sie da. Selbst ihr Geist rastete, in so hohem Grade hatte sie sich daran gewöhnt, ohne Widerspruch oder Klage alle Schickungen über sich ergehen zu lassen. Erst als nach einer Weile der Wagen vorfuhr, erhob sie sich, um mit der Lampe auf den Flur hinauszutreten. Gemeinschaftlich mit Ellenborough trug sie das Gepäck in den Vorgarten hinaus; schnell war es verladen; als sie aber selbst den Wagen besteigen wollte, hielt Ellenborough sie zurück.

»Meine Weisungen waren klar genug?« fragte er leise, wie gegen Luftmangel kämpfend. »Du bist nicht in Zweifel über die nächste Zukunft?«

»Über nichts,« tönte es gedämpft zurück; »ich kenne den Weg und das Pferd ist fromm und leicht zu lenken.«

»So fahre denn mit Gott; sollte ich selbst zurückgehalten werden, so sende ich weitere Verhaltungsregeln durch eine zuverlässige Person, der du dich furchtlos anvertrauen darfst. Und nun lebe wohl –« heftig zog er Esther an seine Brust, und sie auf Stirn und Wange küssend, wiederholte er gepreßt: »Lebe wohl – lebe wohl –«

»Was ist es,« sprach Esther, und bestürzt wich sie zurück – »du verheimlichst mir Schreckliches –«

»Säume nicht, säume nicht,« bat Ellenborough dringend und seine Unvorsichtigkeit bereuend; »ließ ich mich von meinen Empfindungen hinreißen – nun – Esther, versetze dich in meine Lage; es ist so schwer, sich an jemandem versündigt zu haben und das Bewußtsein zu hegen, daß alle Mühe, aller guter Wille vergeblich, das begangene Unrecht zu sühnen.«

Esther schauderte. Sie besaß nicht die Kraft, ein Wort des Trostes zu sprechen, aber Ellenboroughs Hand preßte sie krampfhaft, und als dieser sich ihr wiederum zuneigte, reichte sie ihm willig die Lippen zum Kuß.

Dann bestieg sie den Wagen und gleich darauf setzte sich das Pferd in Bewegung. Im Schritt näherte es sich der Landstraße und im Schritt bog es, dem leichten Druck der schmalen Hand folgend, in diese ein. Esther hatte das Haupt geneigt. Sie sah nicht das zauberisch funkelnde Firmament, nicht den bleichen Schein, der in klaren Nächten, wie eine träumerische Fata Morgana, von Westen nach Norden und Osten herumschleicht, gleichsam vermittelnd zwischen dem Abendrot und dem goldig aufleuchtenden jungen Tage. Sie sah nicht die Gestalt eines Mannes, der auf ihrer linken Seite sich in den Schatten eines Haselstrauches schmiegte und dennoch so angstvoll sich ihr zuneigte, wie um ihre Züge von der Dunkelheit zu trennen. Sie sah ihn nicht, obwohl er, geschmückt mit den wärmsten Farben des Lebens, ihrem Geiste vorschwebte; hörte nicht, wie ein Seufzer sich leise und doch so unendlich herbe seiner Brust entwand, als sei mit demselben ein junges, jeder Hoffnung auf Glück beraubtes Leben dem müden Körper entflohen. Schlaff ruhten die Zügel in ihren Händen. Das Pferd schnaubte zuweilen. Sonst kein Laut in der Natur; nur hin und wieder ließ sich aus dem Grase das verstohlene Zirpen eines Heimchens vernehmen. Alles war still, alles war schwarz und dunkel; die Felder, die Zukunft wie die Vergangenheit der beiden Herzen, zwischen welchen die Entfernung sich von Minute zu Minute vergrößerte. –

Nachdem der Wagen, der Esther davontrug, Ellenboroughs Blicken entschwunden war, begab er sich in sein Zimmer zurück. Die Briefe warf er wieder auf den Tisch, worauf er den zuletzt beendigten mit der Adresse »An Esther Kabel« versah.

Ein unheimliches Lächeln trat auf seine vergeistigten Züge, als er die noch feuchte Schrift prüfend betrachtete. Grübelnd schritt er nach dem Hintergrunde des Zimmers hinüber, wo er aus dem Schrank eine Drehpistole nahm. Behutsam untersuchte er die sechsfache Ladung; dann ließ er mit lustigem Klirren und Knacken den Zylinder spielen. Das Geräusch schien seine Lebensgeister anzufachen, denn sein Antlitz rötete sich und aus seinen Augen sprühte erwachende Kampfeslust. Da vernahm er Schritte in dem Vorgarten. Hastig verbarg er die Waffe auf seinem Körper, und mit der Lampe sich der Tür nähernd, leuchtete er dem eintretenden Gerhard.

»Bis jetzt glückte alles,« redete er ihn erzwungen ruhig an, und nachdem er ihn durch eine Handbewegung zum Niedersitzen eingeladen hatte, prüfte er die festschließenden Fenstervorhänge – »sogar über Erwarten geglückt,« wiederholte er, Gerhard gegenüber Platz nehmend; »Esther befindet sich zurzeit in Sicherheit; es handelt sich jetzt nur noch darum, daß auch wir unentdeckt entkommen. Ich darf noch immer auf Ihren guten Willen zugunsten des schwer heimgesuchten Kindes rechnen?« Gerhard verneigte sich zustimmend. Ellenborough erschien ihm plötzlich in Haltung und Wesen so Achtung gebietend, daß er sogar den unerhörtesten Zumutungen gegenüber keine Einwendungen zu erheben gewagt hätte.

»Wohlan,« nahm Ellenborough sogleich wieder das Wort, »erledigen wir zunächst den geschäftlichen Teil. Die Zeit, die uns dann noch bleibt, mögen wir zu vertraulichem Geplauder verwenden. Die uns bedrohenden Gefahren legen uns den Zwang auf, einzeln von hier zu verschwinden; jeder muß daher auf alle Möglichkeiten vorbereitet sein, das heißt, über ausreichende Mittel gebieten, dem weniger Glücklichen von einem sicheren Orte aus Beistand leisten zu können. Nehmen Sie also dieses Paketchen. Es enthält eine erhebliche Geldsumme; ferner – für den Fall, daß es mir nicht gelingen sollte, bald zu Ihnen zu stoßen – diesen Brief an Esther, den Sie indessen nicht vor morgen mittag übergeben. In ihm sind auch für Sie fernere Ratschläge betreffs des Schutzes des armen Kindes niedergelegt –«

»Was hindert Sie, mich zu begleiten?« fragte Gerhard besorgt, indem einzelne Anordnungen ihm geradezu unverständlich erschienen.

»Meine äußeren Verhältnisse müssen zuvor geordnet werden,« versetzte Ellenborough finster, »denn bin ich erst frei, so muß meine Reise wie im Fluge gehen, und deshalb schicke ich Sie und Esther voraus. Hier sind noch zwei Briefe; diese beziehen sich aus die unglücklichen Ansiedler in den Sumpfkolonien, dürfen aber nicht vor Ablauf zweier Wochen an ihre Bestimmung abgehen, wenn ich vielleicht über diesen Zeitraum hinaus mich fern und verborgen halten sollte.« Er lächelte seltsam vor sich hin; dann fuhr er fort: »Die armen Menschen! Das Los der Überlebenden mag vielleicht noch gemildert werden; aber die Toten, die Toten, sie ruft niemand ins Leben zurück. – Sie sahen Esther?«

»Ich erkannte ihre Gestalt trotz der Dunkelheit; keine andere konnte es sein.«

»Keine andere,« bestätigte Ellenborough; »Sie achteten auf die Richtung, die sie einschlug?« »Die nördliche.«

»Es ist die alte Landstraße, die auf viele Meilen denselben Charakter beibehält und mit den Nebenwegen nicht zu verwechseln ist. Folgen Sie also dieser Straße und innerhalb einer Stunde höchstens werden Sie Esther finden. Steigen Sie zu ihr auf den Wagen und setzen Sie gemeinschaftlich mit ihr die Reise fort. Bald nach Tagesanbruch erreichen Sie eine Eisenbahnstation. Dort warten Sie bis Mittag. Bin ich um diese Zeit nicht bei Ihnen, so verkaufen Sie Pferd und Wagen zu jedem Preise und eilen Sie auf dem nächsten Wege nach Neuyork. Das Nähere ist in dem Briefe an Esther enthalten. Sind meine Anordnungen Ihnen verständlich?«

»Es können keine Zweifel walten,« antwortete Gerhard zögernd.

»Dann kommen Sie,« versetzte Ellenborough dringender, indem er nach der Uhr sah, »ich werde Sie eine Strecke begleiten und der Sicherheit halber auf einem Umwege hierher zurückkehren. Sogar durch die Fußspuren müssen unsere Feinde irregeführt werden, oder wir sind dennoch verloren; denn Sie ahnen nicht, wie weit deren Macht reicht.«

Er löschte die Lampe aus, und Gerhard voranschreitend, trat er ins Freie. Aber erst auf der Landstraße nahm er das Gespräch wieder auf, und zwar leise und mit wunderbarer Innigkeit, indem er Gerhards Arm ergriff und, obwohl er selbst die Richtung bestimmte, sich von ihm führen ließ. Er begann in einem Tone, wie wohl ein Vater zu seinem Sohne spricht, wenn er dem vor seinem Sterbelager Stehenden besorgnisvoll die letzten Ratschläge erteilt. Er sprach in einem so bewegten Tone, daß Gerhard, von namenlosem Erstaunen ergriffen, keine Gegenbemerkung wagte, sondern mit wachsender Ehrerbietung lauschte und zurückrief alle Schmähungen und Flüche, mit den er jemals Ellenboroughs, als seines und Esthers bösen Engels, gedacht hatte. Ellenborough aber erzählte immer weiter mit einer gewissen Hast, als hätte er befürchtet, mit seinen Mitteilungen nicht zu Ende zu kommen. Er sprach von geträumtem Familienglück und von dem Elend, wenn tadelnswerte Leidenschaften eine ursprünglich reine Zuneigung überwuchern und endlich ersticken. Er sprach von Herzen, die, einmal einander entfremdet, den Mut nicht besitzen, böse Stunden aus der Erinnerung zu streichen und, sich hinwegsetzend über die Spottreden der Menschen, ihre Lebensbahn gleichsam von neuem zu beginnen, in den bitteren Erfahrungen aber, wenn auch hart kämpfend gegen Not, ihren treuesten Beschützer finden würden. Er sprach von Elternliebe und von verbrecherischen Handlungen, zu den man sich in der Besorgnis um ein teures, geliebtes Wesen nur zu leicht hinreißen lasse. Er wies darauf hin, wie ein Mann, jeglichem milden Einfluß entzogen, allmählich abstumpfe und endlich die letzte Teilnahme für seine unglücklicheren Menschen verliere, sich sogar weide an fremdem Elend und darin eine Art Rache suche für erlittenes, wenn auch selbst verschuldetes Mißgeschick. Auch von leeren Gräbern sprach er, jedoch nur flüchtig und mit unverkennbarem Entsetzen, daß es Gerhard wie ein eisiger Schauer durchrieselte, als hätte er die Geständnisse eines Wahnsinnigen vernommen. Hieran schlossen sich aber wieder Schilderungen der wildesten Verzweiflung, die ihn beim ersten Anblick Esthers ergriffen hatte, und der unsäglichen Seelenqualen, den er im täglichen Verkehr mit der Teuren, ohne Klage oder Vorwürfe in ihr trauriges Los sich Ergebenden unterworfen gewesen. In den letzten Minuten seines Zusammenseins mit Gerhard hatte er jedoch nur noch Worte der Liebe, inniger, aufrichtiger Liebe für diejenige, deren irdische Wohlfahrt der einzige und letzte Wunsch seines Lebens, und für ihn, dessen treue Anhänglichkeit an Esther durch die vernommenen Geständnisse nicht hatte erschüttert werden können und in dessen Händen er das Glück Esthers für ewige Zeiten gesichert wußte.

Von Ellenboroughs Kugel durch den Kopf getroffen, brach er lautlos zusammen.

»Wir kennen uns einander jetzt,« schloß er endlich, als sie, auf der Landstraße auf und ab wandelnd, wieder in der Nähe des Seitenweges eintrafen; »mag das Schicksal entscheiden, wie es wolle: was ich an meiner Tochter verbrach, es ist gesühnt, wird in erhöhtem Maße durch Sie gesühnt werden. Gehen Sie zu ihr und bringen Sie ihr meine Grüße. Geben Sie ihr zu verstehen, daß kein Geheimnis mehr zwischen Ihnen beiden schwebe, und aus dem neu befestigten rückhaltlosen Vertrauen wird ein Glück ersprießen, wie ich es meinem armen Kinde vom Himmel zu erflehen kaum noch gewagt hätte. Leben Sie wohl,« und krampfhaft drückte er Gerhards Hand, »möge des Himmels Segen mit Ihnen sein immerdar!«

»Wann dürfen wir Sie erwarten?« fragte Gerhard, wie von Glück verheißenden Tränen umgaukelt und daher unempfindlich gegen die in Ellenboroughs Wesen sich offenbarende, Unheil verkündende Entschlossenheit.

»Morgen um die Mittagszeit,« antwortete dieser kurz; »treffe ich nicht ein, so setzen Sie, nach Eröffnung meines Briefes an Esther, Ihre Reise nördlich fort.«

Hier drückte er ihm noch einmal die Hand, rief ihm noch einmal zu: »Beeilen Sie sich, zu Esther zu kommen!« dann bog er schnell in den nach dem Landhause führenden Weg ein.

Einige Minuten blieb Gerhard wie betäubt auf derselben Stelle stehen. Er meinte die Wirklichkeit des Erlebten bezweifeln zu müssen. Dann schritt er in der ihm vorgeschriebenen Richtung langsam davon. Doch indem die seinem Geiste vorschwebenden, bisher ihm unlösbar erscheinenden Rätsel sich mehr entwirrten, beschleunigte er seine Bewegungen. Was hinter ihm lag, sich hinter ihm vollzog, er hatte keine Gedanken mehr dafür. Nach vorn richteten sich seine Blicke, nach vorn, wo das teure Bild seiner geliebten Esther, holdselig geschmückt mit einer Glorie edler Selbstverleugnung und Selbstaufopferung, ihm verheißend winkte.


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