Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

Ein letzter Wille.

Kappels erster Blick fiel auf ein Antlitz, dem der Tod seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt hatte. Aschfahl starrte es ihm entgegen, aber aus den tief eingesunkenen Augen sprach eine gewisse Befriedigung. Um den mit kurz geschorenem Haar bedeckten Kopf hatte der Leidende ein Tuch geschlungen; ein mehrere Wochen alter, struppiger Bart ließ die hageren Gesichtszüge noch leichenhafter erscheinen.

»Gott sei Dank!« sprach er kaum verständlich und seine letzten Kräfte schonend, »ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben. Erkennen Sie mich, Herr Kappel?«

»Ich weiß nicht –« stotterte der jäh aus seiner ewigen Sorglosigkeit aufgerüttelte heruntergekommene Korpsbursche, »ich entsinne mich nicht – freilich – Ihre Züge erinnern an jemand –«

»An den Fremden, der sich einst auf der Landstraße zu Ihnen gesellte,« half der Sterbende seinem Gedächtnis nach, »derselbe, der mit den schurkigen Lenkharts um Maßlieb –

»Sie?« rief Kappel erstaunt aus, »Sie und in einer solchen Lage?«

»Noch furchtbarer würden Sie meine Lage finden,« versetzte Spark, und er versuchte zu lächeln, »noch weit furchtbarer, ahnten Sie den Wechsel, dem ich in dem Zeitraume von kaum zwei Monaten unterworfen gewesen bin. Doch von mir will ich nicht sprechen. Anderer wegen ließ ich Sie hierher bitten; denn ich selbst bedarf keines Menschen Hilfe mehr. Es fragt sich nur, ob Sie geneigt sind, die letzten Wünsche eines Sterbenden mit der Gewissenhaftigkeit eines Ehrenmannes zu erfüllen.«

»Ich bin bereit,« antwortete Kappel überzeugend, »mag ein wenig freundliches Geschick mich in eine unwürdige Rolle hineingestoßen haben, die Heiligkeit des gegebenen Wortes ist mir nie fremd geworden.«

»Dann setzen Sie sich zu mir,« fuhr Spark fort, und nachdem jener Platz genommen hatte, zu Rosamunda gewendet! »Geben Sie mir die Briefschaften.«

Rosamunda schritt nach der einen Seite des düsteren Gemaches hinüber, und hinter ein loses Brett langend, zog sie ein versiegeltes Schreiben und ein vergilbtes, mehrfach zusammengefaltetes Papier hervor, was sie beides Spark darreichte.

»Sonst noch etwas?« fragte sie ruhig.

»Nichts mehr,« antwortete Spark leise, »ich möchte nur noch in Gegenwart eines Zeugen wiederholen, daß ich Ihnen die Gelegenheit zum Schreiben dieses Briefes verdanke – woher hätte ich in meiner Hilflosigkeit das Material nehmen sollen? – und daß ich Ihnen, nachdem ich ihn zum letztenmal benutzte, meinen Siegelring zum Andenken gab. Es war das einzige, was mir von der alten Harpyie gelassen wurde. Wäre es doch möglich, daß Sie sich über dessen Besitz ausweisen müßten, in welchem Falle der Brief mit dem Siegel und das Zeugnis dieses Mannes genügten, jeden Verdacht gegen Sie zu zerstreuen.«

»Den Ring behalte ich gern,« versetzte Rosamunda unsäglich bitter, »allein um einen Verdacht gegen mich zu vernichten? Welchen Wert könnte das für mich haben? Doch bei Ihrem Gespräch mit diesem Herrn bin ich überflüssig. Ich gehe daher, um zu wachen, daß Sie nicht überrascht werden; es wäre ein Unglück für uns alle.«

So sprechend trat sie aus den Bodenraum hinaus, die Tür hinter sich schließend. Auf die oberste Stufe der Treppe sich setzend, versank sie in ein durch bitteres Grübeln erzeugten Zustand zwischen Wachen und Träumen.

Rosamunda hatte kaum das Gemach verlassen, als Sparks vergeistigte Züge sich plötzlich mehr belebten.

»Es ist besser, daß sie sich unaufgefordert entfernte,« bemerkte er flüsternd zu Kappel gewendet, »was ich Ihnen anzuvertrauen habe, darf kein anderer Sterblicher erfahren – wenigstens so lange nicht, bis Sie Gelegenheit finden, sich mit denjenigen ins Einvernehmen zu setzen, auf die meine Mitteilungen sich beziehen.«

Er zögerte, augenscheinlich um seine Gedanken zu sammeln, dann fuhr er fort:

»Um nicht Bestimmungen unmöglich zu machen, die ich mit Rücksicht auf meinen Tod getroffen habe, ist es notwendig, Sie darüber zu unterrichten, wie ich hierher gelangte:

Ich hatte die dringendsten und leider nicht die ehrenhaftesten Gründe, mich verborgen zu halten, und blieb daher dort, wo man mich am wenigsten suchte, um erst, nachdem die Telegraphen ausgespielt haben würden, das Weite zu suchen.

Was andere verprassen, das gedachte ich in fernen Landen nach eigenem Geschmack anzulegen. Wo ich mich bis vor drei Tagen aufhielt, kommt nicht in Betracht. Es widerstrebt mir, ihn, der mich am dritten Orte beherbergte, ins Verderben zu stürzen. Genug, ich nahm Abschied von ihm auf Nimmerwiedersehen. Es geschah um Mitternacht. Meine Vorsicht ließ mich diese Stunde wählen; wäre ich am hellen Tage gegangen, möchte es für meine Person besser gewesen sein. Nun, da es mit mir zu Ende geht, kümmere ich mich indessen nicht mehr darum.

Festen Schrittes, wie ein seines Rechtes bewußter Mann, wanderte ich durch die stillen Straßen, und keine Viertelstunde mehr hätte es gedauert, bis ich die Stadt im Rücken gehabt hätte, als ich entdeckte, daß jemand mir folgte.

Wer sich nicht frei von Schuld weiß, ist in den meisten Fällen zu ängstlich darauf bedacht, Gefahren zu vermeiden, zu denen in seiner erregten Phantasie die geringfügigsten Umstände anwachsen. So erging es mir. In dem Verfolger einen Feind vermutend, beschleunigte ich nicht nur meine Schritte, sondern bog auch in jede nächste Straße oder Gasse ein, wobei es sich ereignete, daß ich beinah einen Kreis beschrieb. Dieser Umstand erhöhte ohne Zweifel den Argwohn meines Verfolgers, denn seine Bewegungen wurden schneller; aber auch meine Furcht wuchs, so daß ich in einen mäßig schnellen Lauf verfiel. Sobald ich aber hinter mir die Signalpfeife eines Wächters vernahm, die in der Ferne schrill beantwortet wurde, änderte ich in meiner Verwirrtheit so oft die Richtung, bis ich selbst nicht mehr wußte, wo ich mich befand. So erreichte ich endlich den Strom auf einer Stelle, auf der eine Brücke hinüberführte, dessen Ufer dagegen nach rechts und links durch Baulichkeiten abgeschlossen waren. Ein einziger Weg öffnete sich also nur vor mir; wurde dieser mir auf der Brücke selber verlegt, so war ich verloren. In meiner Not – die Verfolger hörte ich ja beständig hinter mir – kletterte ich, anstatt über die Brücke zu fliehen, neben ihr hinab. Ich wollte mich in ein Boot schwingen, trat aber zu kurz; mein Fuß glitt aus, ein furchtbarer Schmerz durchzuckte meinen Körper, und ich stand bis an die Schultern in Morast und Wasser.

Ja, ich stand, weil ich mit beiden Händen mich an dem Fahrzeug hielt; ich wäre sonst unfehlbar zugrunde gegangen; denn ich fühlte, daß ich den einen Fuß gebrochen hatte.

Trotz der rasenden Schmerzen und der schneidenden Kälte des Wassers war der Selbsterhaltungstrieb so stark, daß ich in jenen entsetzlichen Minuten an weiter nichts dachte, als den mir Nachsetzenden zu entkommen. Ich verhielt mich still und hatte die Genugtuung, zu beobachten, daß die Verfolgung über die Brücke hin fortgesetzt wurde und niemand daran dachte, daß ich den gefährlichen Sprung ins Wasser gewagt haben könne.«

»Mit einem gebrochenen Fuße liegen Sie hier,« fragte Kappel, der seinen Ohren kaum traute, »mit einem gebrochenen Fuße auf dieser elenden Stätte und ohne jeglichen Beistand?«

»Was hätte ich beginnen sollen?« fragte Spark höhnisch zurück, »jede für mich herbeigerufene Hilfe wäre für mich gleichbedeutend mit dem Verlust meiner Freiheit gewesen.«

»Wie aber gelangten Sie gerade hierher?« forschte Kappel bestürzt weiter.

»Was mir auf festem Boden unmöglich war, führte ich im kalten Wasser aus,« erklärte Spark mit einem grausig triumphierenden Lächeln: »ich löste das Boot von seiner Kette, und mich daranklammernd und zugleich seinen Lauf bestimmend, folgte ich immer dicht am Ufer hin der Strömung. So strandete ich endlich nach unsäglichen Qualen zwischen den Stützbalken eines Schuppens, nach dem eine Leiter hinaufführte. Meine Kräfte waren aber jetzt vollständig erschöpft; sie reichten nur noch so weit, daß ich die Sprossen hinaufzukriechen vermochte. Kaum oben, sank ich bewußtlos nieder.

Heftiges Rütteln weckte mich aus meiner Betäubung, und als ich die Augen aufschlug, erblickte ich bei hellem Tageslicht dasselbe Weib, das Sie hier an meiner Seite gesehen haben. Der von dem gebrochenen Fuß herrührende Schmerz wurde noch übertäubt durch Fieberfrost, der mich unfähig zum Denken und Sprechen machte. Trotzdem begriff ich, daß ich in keine guten Hände geraten war; allein in einem Zustande, wie der meinige, schwinden alle Rücksichten. Unbekümmert um die Zukunft, flehte ich um Hilfe, um Erwärmungsmittel; meine Bitten eindringlicher zu machen, zog ich die Börse hervor, dem Weibe von dem Inhalte gebend, und zugleich forderte ich Verschwiegenheit und das tiefste Geheimnis.

Doch was soll ich weiter sagen? Die Raubgier des Scheusals war beim Anblick des Goldes erwacht; eine Viertelstunde später, und ich lag zwischen den Falten einer Decke. Aber erst am Abend wurde ich aus meiner Gefangenschaft in dem zugigen Schuppen erlöst und von dem Weibe und der Person, die draußen Wache hält und sich meiner, aus weit zurückliegenden Ursachen, noch besonders annahm, heimlich hier heraufgeschafft. Da liege ich nun seit drei Tagen. Mein Fuß wird wohl verbunden und mit Salzwasser gekühlt; allein was kann aus einer Verletzung, bei der die umsichtigsten Ärzte oft vergeblich ihre Kunst anwenden, bei solch dürftiger Pflege werden? Und hätte mich dieser Unfall nicht betroffen, würde mein Geschick sich dennoch erfüllen: denn daß mein erhitzter Körper stundenlang im eisigen Wasser zubringen mußte, rächt sich jetzt in furchtbarer Weise. In meiner Brust wühlt der Tod nicht minder, als in meinem gebrochenen Fuß. Mein Atem – jedes Wort – bald ist es überstanden –«

»Ich darf nicht dulden,« bemerkte Kappel erschüttert, sobald Spark schwieg, um neue Kräfte zu sammeln, »daß Sie hier so verkommen, es muß Ihnen geholfen werden, Sie sind nicht unbemittelt –«

Spark aber unterbrach ihn, jetzt fieberig erregt: »Nichts davon; ich bin ein Bettler, die Papiere, der Raub, den ich in Sicherheit bringen wollte, das Wasser vernichtete ihn. Alle meine Pläne umsonst – – aber anderes kann noch geschehen, und darum ließ ich Sie rufen.«

Nach einigen Minuten, die Kappel wie eine Ewigkeit erschienen, hob er wieder an: »Kennen Sie ein Fräulein Meredith Kabul?«

»Nur ihren Namen hörte ich, sie soll eine menschenfreundliche, wenn auch wunderliche Dame sein.«

»Hier ist ein Brief,« versetzte Spark leise, »ihre Wohnung ist auf der Adresse verzeichnet. Diesen Brief nehmen Sie an sich; warten Sie drei Tage – länger kann ich nicht mehr unter den Lebenden weilen – dann begeben Sie sich zu ihr und überreichen Sie ihn ihr, jedoch nur, wenn keine Zeugen zugegen sind. Sagen Sie, er käme von einem Toten, und nur auf ihre ausdrückliche Frage teilen Sie ihr mit, wo und wie Sie mich fanden und was Sie über mein Ende wissen. Anderenfalls – und ich baue auf Ihre Gewissenhaftigkeit – erwähnen Sie weder zu ihr, noch zu sonst jemand in der Welt das leiseste Wort. Kann ich auf Sie bauen? Wollen Sie mir diesen Trost mit in den Tod hineingeben?«

Kappel nahm den Brief und drückte die ihm gereichte Hand. Ein tausendfacher Eid hätte den Sterbenden nicht mehr beruhigt, als das zustimmende Neigen des ernst zu ihm niederschauenden Mannes.

Spark seufzte tief auf. Eine Last schien von seiner Seele genommen zu sein.

»Was Sie an mir tun, kann ich Ihnen nicht vergelten,« flüsterte er, das zweite Papier nebst einer Einlage mit unsicheren Händen entfaltend und Kappel ebenfalls darreichend, »aber Sie finden Ihren Lohn vielleicht hierin. Lesen Sie; es betrifft Ihr Maßliebchen. Das vergilbte Blatt – seltsamerweise das einzige, was nicht verdarb, weil ich es, anstatt mit den Wertpapieren in einem Gurt, in der Brusttasche trug – ist der unwiderlegliche Beweis ihrer Herkunft. Das andere – ich schrieb es erst gestern in flüchtigen Umrissen nieder – enthält Aufschlüsse und Erklärungen, die die Echtheit des ersteren Schriftstückes noch bekräftigen und jede Möglichkeit eines Irrtums der Person ausschließen. Sie selbst erhalten dadurch die Lösung des Rätsels, weshalb ich das Kind an mich zu bringen wünschte. Gelang mir der Plan mit dem Mädchen, so hätte ich zu keinen andern Mitteln der Bereicherung meine Zuflucht zu nehmen brauchen. Aber lesen Sie – lesen Sie. Ich will etwas ausruhen, und ist Ihnen nach Beendigung noch irgend etwas unklar, so wird es mir um so leichter, Ihnen weitere Aufschlüsse zu erteilen.«

Kappel tat, wie ihm geheißen war. Kaum aber hatte er die erste Seite unter des Sterbenden angstvoll forschenden Blicken zu Ende gelesen, als das Erstaunen, das sich in seinen Zügen ausprägte, einem Ausdruck der Enttäuschung wich.

»Nathan?« fragte er mit schlecht unterdrücktem Widerwillen, »der Jude Nathan?«

»Sie kennen ihn?«

»Ich hörte nur von ihm.«

»Wohlan, der weise Nathan besitzt genug Reichtümer, um die längste Straße der Stadt mit harten Talern zu pflastern – doch lesen Sie weiter; vielleicht finden Sie ein bessers Verständnis für die Gewalt, die in Ihren Händen ruht und die Sie – ich weiß es – nur zugunsten der verstoßenen Waise in die Wagschale legen werden.«

Kappel hatte die Blicke auf das Schriftstück gesenkt. Er las eine, zwei Seiten, und mit jedem neuen Wort wurde sein Antlitz erregter. Als er zu Ende war fragte er fast atemlos:

»Ist alles verbürgt?« und er schien zu vergessen, daß er sich bei einem Sterbenden befand.

»Ich bürge dafür mit meinem letzten Atemzuge,« flüsterte Spark.

»Sie hegen die Überzeugung, daß dieses Dokument und Ihre schriftlichen Aussagen vom Gericht als gültig angenommen werden?«

»Das Gericht ziehen Sie nicht zu in dieser Angelegenheit,« warnte Spark mit äußerster Kraftanstrengung, »denn dadurch würden Sie gerade derjenigen am meisten schaden, der Sie einen Dienst zu leisten wünschen. Aber dessen bedürfen Sie auch nicht; benutzen Sie nur die in Ihren Händen ruhende Macht zu Drohungen, und Sie werden Ihr Ziel auch ohne gerichtliche Hilfe erreichen.«

Kappel hatte das Haupt geneigt. Was an ihm dem Vagabundentum angehörte, es fiel von ihm ab, wie die Raupenhülle von einem dem Sonnenlicht zustrebenden Falter. Zum erstenmal in seinem Leben war eine ernste, sein ganzes Sinnen erfüllende Aufgabe vor ihm erstanden; in ihm erwachte der so lange in Scheintod versenkt gewesene Enthusiasmus jener glücklichen Jahre, in denen er meinte, spielend den Himmel erstürmen zu können. Plötzlich schlug er sich mit der Faust vor die Stirn, dann ergriff er Sparks beide Hände.

»Aber Maßlieb, wo finde ich sie? seitdem sie zum zweitenmal von dem Karussell getrennt wurde –«

»Sie weilte in diesem Hause, wohin sie auf Nathans Anstiften gelockt worden war,« versetzte Spark, als Kappel stockte, »und dem unglückseligen Geschöpf, das draußen auf der Treppe sitzt, verdankt sie allein, daß sie aus diesem Sumpf der Verderbnis entkam. Wohin die Ärmste sich wandte, Gott mag es wissen, und an Ihnen ist es, sie auszukundschaften –«

»Nathan kann vielleicht Auskunft geben,« fiel Kappel hastig ein, »und er soll es, muß es, und wäre ich gezwungen – ha, ein alter Gitarrespieler – ich entsinne mich jetzt – er wohnt in demselben Hause –«

Die Tür öffnete sich und in ihr erschien Rosamunda.

»Es ist Zeit,« sprach sie ernst, »Sie müssen sich trennen, oder es wird mir unmöglich, den Herrn unentdeckt auf die Straße hinauszuschaffen.«

»Wir sind fertig,« erklärte Spark matt, »meine letzten Anordnungen sind getroffen, bleibt mir nur noch der Schritt in die ewige Finsternis –

Unten schlug eine Tür, und herauf drang das eigentümlich schlürfende Geräusch, mit dem Sarah die Treppe erstieg.

»Hinaus,« riet Rosamunda dringend, »hinaus und hinter den Schornstein, bevor es zu spät wird!«

Kappel drückte dem Sterbenden die Hand.

»Seien Sie eingedenk meiner Worte,« seufzte dieser schwer. Dann zog Rosamunda den alten Korpsburschen auf den Vorboden hinaus. Er war eben in sein Versteck getreten, als von dem vorletzten Stockwerk der matte Schein einer Lampe heraufdrang. Sarah hatte noch immer nicht das Grauen überwunden, welches durch Rosamundens Hinweisen auf den Tod erzeugt worden war; sie wäre sonst im Dunkeln gekommen.

Als sie, auf der obersten Stufe angelangt, Rosamunda in der offenen Tür stehen sah, fragte sie geheimnisvoll:

»Ist er hinüber?«

»Er mag noch bis morgen leben,« antwortete Rosamunda, »aber er schläft; willst du bei ihm wachen, ist mir's recht. Ich gehe hinaus auf die Straße; zwischen diesen Mauern ersticke ich.«

»Ja, Schätzchen gehe,« versetzte das Weib, in die Kammer schlüpfend, und auf dem widerwärtigen Antlitz prägte sich die Hoffnung aus, dem Sterbenden im Schlafe seine letzte Habe zu entwinden, »ja, gehe; 'n Stündchen halte ich gern bei ihm aus, und nachher kommt's nicht darauf an, ob überhaupt noch jemand bei ihm bleibt.«

Rosamunda schloß die Tür hinter der Eintretenden. Kappel schlich aus seinem Versteck an ihre Seite, und vorsichtig von ihr geführt, tastete er sich die Treppe hinunter. Er befand sich so vollständig unter dem Eindruck der jüngsten Erlebnisse, daß er kein Wort hervorzubringen vermochte.

»Vergessen Sie nicht Ihr Wort,« tönte es im letzten Augenblick ihm wie ein Hauch ins Ohr, »fühlen Sie sich aber mir verpflichtet, so beweisen Sie Ihre Dankbarkeit durch ewiges Schweigen über gewisse Dinge.«

Mit leisem Klirren schlug der Riegel des Schlosses in seine Haft, und Kappel war allein.

Ein Weilchen stand er wie betäubt; als aber Schritte sich ihm näherten, entfernte er sich schnell in entgegengesetzter Richtung. Seine rechte Hand ruhte auf der Brusttasche, auf den ihm von Spark anvertrauten Papieren.–

Am folgenden selbigen Nachmittage war in den Zeitungen zu lesen:

»Ein Ereignis, ganz dazu angetan, ernste Betrachtungen über das geheimnisvolle Verschwinden des der Veruntreuungen verdächtigen Mitdirektors der Zentrifugalbank zu erwecken, beschäftigt alle Gemüter. Dieser wurde als Leiche aus dem Wasser gezogen, in dem er höchstens vierundzwanzig Stunden gelegen haben konnte. Wahrscheinlich hat er seinem Leben selbst ein Ziel gesetzt. So endet das Drama der Zentrifugalbank, eines mit treuem Willen ins Leben gerufenen und gewissenhaft verwalteten Unternehmens, dem wohl ein längeres Bestehen zu gönnen und zu wünschen gewesen wäre. Unter der unermüdlichen Leitung des Herrn Bankdirektors Nailleka, der zugunsten der Aktionäre mit gewohnter Selbstverleugnung keine Opfer scheut, nimmt die Liquidation einen guten Fortgang.«

Das war die Grabrede für die Zentrifugalbank, der letzte Trost für diejenigen, deren Habe von ihr verschlungen worden war. –


 << zurück weiter >>