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Zehntes Kapitel.

Über Land.

Noch zögerte das nächtliche Dunkel, sich in Zwielicht zu verwandeln, als die Haustür von Nathans Familienbaracke sich leise öffnete und zwei leichtverhüllte Gestalten auf die Straße hinausschlüpften. Behutsam zogen sie die Tür hinter sich zu, dann lauschten sie argwöhnisch.

Tiefe Stille herrschte überall; nirgend eine Spur von Leben. Schwarz war der Himmel; eine schwere Dunstschicht lagerte auf der Erde und füllte die Straßen. Die Laternen verbreiteten nur geringe Helligkeit, der Nebel war zu dicht. Dabei war es kalt, so eisig kalt, wie nur je an einem frischen Oktobermorgen.

»Wohin wenden wir uns?« fragte Schwärmer, dessen Schulter eine straff gefüllte Jagdtasche beschwerte, wogegen Maßlieb ein festes Bündelchen und die durch einen grünen Friesüberzug geschützte Gitarre trug.

»Auf dem nächsten Wege zur Stadt hinaus,« antwortete Maßlieb leise, indem sie ihren Arm auf den Schwärmers legte und furchtsam sich an ihn anschmiegte. »Das Wohin kümmert uns nicht; Gelegenheit für unser Spiel finden wir überall und freundliche Menschen ebenfalls. Nur hinaus aus diesem Häusermeer, wo hinter jeder Ecke, in jedem Winkel ein Verfolger lauern kann; hinaus ins Freie, soweit die Füße uns tragen.«

»Hätte ich doch nie geglaubt, daß ich mein langjähriges Asyl anders als in einem Sarge verlassen würde,« bemerkte Schwärmer nach einer Pause, während der sie mit beschleunigten Schritten durch die düstere Gasse eilten, »doch das sollte nicht sein. Gibt es aber überall freundliche Menschen, so findet sich auch wohl ein Fleckchen Erde, groß genug für einen müden Erdenwaller zur letzten Rast.«

»Regen Sie nicht so trübe Gedanken an,« bat Maßlieb treuherzig; »es stimmt mich ohnehin traurig, mir sagen zu müssen, daß ich eigentlich die Ursache Ihres Kummers bin. Fast bereue ich, nicht heimlich entflohen zu sein.«

»Um in dein Unglück zu stürzen?« fragte Schwärmer vorwurfsvoll; »nein, nein, nicht meinetwegen beunruhige dich. Du gibst mir nur Grund zur Dankbarkeit. Seit Jahren war ich nicht mehr als ein Bettler, durch dich, indem ich deine Lieder kunstgerecht begleite, bin ich wieder ein Künstler geworden, habe also wieder einen Schritt aufwärts getan, und der schwärzesten Undankbarkeit gegen ein freundliches Geschick machte ich mich schuldig, hätte ich in der Wahl zwischen dir und der elenden Dachkammer nur einen Augenblick geschwankt.«

»Ein recht elender Aufenthaltsort war es in der Tat,« bestätigte Maßlieb heiter, »und als fahrende Künstler gehören wir am wenigsten in die engen Straßen einer Stadt. O, wie viel schöner ist es draußen in der freien Natur, wo der Sonnenschein lacht, und die Wolken am Himmel sich in die wunderlichsten Gebilde verwandeln! Wo der Tau auf dem Rasen funkelt, die Früchte reifen, altväterisch dareinschauende Windmühlen ihre Arme drehen, Lerchen in den Lüften jubeln, und zahllose Wandervögel zirpend und kreischend mit in das Konzert einstimmen.«

Und weiter wanderten sie, zur Stadt hinaus; weiter in den schattigen Wald hinein und über anmutige Lichtungen. Die Stille der Natur übertrug sich auf ihre Stimmung, aus der Ferne herüberdringendes Geläute mahnte sei an die Sonntagsfeier. Ein neckischer Lufthauch rollte bald hier, bald dort die zarten Gespinste in Flocken zusammen, um sie tändelnd in die Lüfte zu entführen. Die Spechte hämmerten, die Nußhäher schnarrten, im Grase flüsterten Heuschrecken und Heimchen sich gegenseitig kleine Liebesgeschichten zu; und dann das Glockengeläute. –

Und immer weiter wanderten die beiden Obdachlosen ihrer ungewissen Zukunft entgegen. Nachdem sie den Wald durchquert hatten, waren sie in ein Dorf gekommen. Auch hier rasteten sie nicht eher, als bis die letzten Häuser hinter ihnen lagen und sie nur noch ein einzeln stehendes Gehöft vor sich sahen.

Beim Näherkommen bemerkten sie, daß der einsamen Lage des Gutshofes völlige Verwahrlosung sich zugesellt hatte. Die Einfriedigungen waren niedergebrochen, wilder Hopfen rankte sich an den unbeschnittenen Obstbäumen empor und weit über die Hecken fort in das daranstoßende Feld hinein. Leer standen Scheunen, Ställe und Tagelöhnerwohnungen. Es fehlte das Federvieh, fehlten die sonst eine Hofstätte geräuschvoll belebenden Hunde. Nur ein Flug Tauben schwebte über den langen, schadhaften Dächern, nach abwärts gelegenen Stoppelfeldern spähend, auf denen vielleicht noch einige Körner zu finden waren.

Nathan streckte die hageren Hände aus. wie um sie in Sparks Kehle einzukrallen.

Maßlieb und ihr greiser Begleiter näherten sich dem Wohnhause. Wie der verwilderte Vorgarten, so zeugten auch gesprungene Fensterscheiben für die traurige Dürftigkeit des ganzen Besitzes.

»Schwerlich werden wir willkommen geheißen werden,« bemerkte Schwärmer trübselig. »Scheint doch die Not hier eingezogen zu sein.«

»Not zur Not,« flüsterte Maßlieb mit erzwungenem Lächeln, ihr Bündelchen neben der Tür auf eine alte Steinbank legend, »dürfen wir denn nur da singen, wo Freude und Überfluß wohnt?«

Sie waren auf den geräumigen Flur getreten. Mehrere Türen verbanden ihn mit dem Innern des Hauses; eine davon stand offen. Schwärmer schickte prüfend einige Akkorde voraus, und hell und klar, mit der redlichen Absicht, ein vielleicht in Kummer und Sorgen versenktes Gemüt zu erfreuen, begann Maßlieb eines ihrer Lieblingslieder. Fast gleichzeitig wurde die Hintertür geöffnet und eine betagte Haushälterin trat durch diese so weit vor, daß sie einen Blick in das offene Zimmer zu werfen vermochte. Aber ein beruhigendes Zeichen mußte ihr von dorther zugehen, denn sie verschwand alsbald wieder, anstatt, wie es wohl ursprünglich ihre Absicht gewesen war, den Gesang zu unterbrechen.

Maßlieb sang unterdessen weiter mit bald lieblich schwellender, bald melancholisch verhallender Stimme, bis sie endlich mit einem Hauch der Klage schloß.

Die letzten Akkorde erstarben. Einige Sekunden lautloser Stille; dann ertönte eine Klingel. Die Haushälterin erschien wieder, begab sich aber sogleich in das Zimmer, wo nach ihr verlangt worden war. »Sind warme Speisen zur Hand?« fragte eine ruhige, wohlklingende Männerstimme laut genug, um auf dem Flur verstanden zu werden.

Maßlieb hatte indessen kaum den ersten Ton vernommen, als ihr Antlitz erbleichte und die Füße ihren Dienst zu versagen drohten. Einige Augenblicke verharrte sie regungslos; dann zog sie ihr rotes Kopftuch hervor, es mit zitternden Händen um ihr Haupt schlingend, daß nicht nur die dunklen Locken dadurch bedeckt, sondern auch ihre Stirn und Augen verschleiert wurden. Dumpf vernahm sie, wie die Haushälterin die Frage ihres Herrn verneinte, aber begierig lauschte sie auf weitere Kundgebungen.

»Die armen Leute,« sprach der unsichtbare Hausherr, »so trage ihnen dieses hinaus und bitte sie, ein anderes Lied zu singen.«

»Einen ganzen Taler,« fragte die Haushälterin vorwurfsvoll, »ist es kein Versehen?«

»Nein, nein,« hieß es ungeduldig zurück, »der Gesang ist mir mehr wert.«

Die Haushälterin beeilte sich, ihren Auftrag zu erfüllen. Schwärmer stimmte bereits wieder die Saiten, Maßlieb war daher gezwungen, das Geld in Empfang zu nehmen. Wie flüssiges Erz brannte es in ihrer Hand, und das Antlitz abwendend, vergegenwärtigte sie sich bestürzt ihre Lage, wenn der Hausbesitzer selber vor sie hintreten und in ihr diejenige wiedererkennen sollte, für die er in Merediths Wohnung mit so viel Wärme Partei ergriffen hatte. Schwer hob und senkte sich ihre Brust, und nur mühsam brachte sie hervor:

In einem kühlen Grunde –

aber ihre Stimme gewann bald wieder an Umfang und Klarheit. Lauter und lauter sang sie, als hätte ihr übervolles Herz wie das Ringlein, dessen sie erwähnte, zerbrechen müssen. Dann aber schlummerten die lieblichen Töne allmählich wieder ein. Zarter, träumerischer vereinigten sie sich mit den leise angeschlagenen Akkorden, und als sie schließend den Wunsch, zu sterben, äußerte, da vermochte sie nur mit Mühe sich der Tränen zu erwehren. Dann wär's auf einmal still – floß es wie ein Todesseufzer von ihren Lippen. Bei dem letzten Wort aber hatte sie Schwärmers Hand ergriffen und den alten Gefährten mit sich vom Hofe hinuntergezogen.

Erst auf der Grenze der zu dem wüsten Gehöft gehörenden Feldmark atmete sie freier, und heiterer zogen die beiden einsamen Wanderer nunmehr einem fernen Dorfe zu. Die Sonne neigte sich gen Westen; die Niederungen begannen zu dampfen.–


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