Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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37.

Ein Geständnis auf den Sterbebett.

In Mgwana hatten sich, wie schon früher erwähnt wurde, Symptome von Cholera gezeigt, und die Europäer des Hafens waren mit ihrem Vorschlag durchgedrungen, daß jeder, zu Lande oder an Bord, sei er Schwarzer oder Weißer, der auch nur eine Spur dieser schrecklichen Krankheit zeige, sofort nach Borronkon geschafft werde, wo er von Aerzten und Krankenpflegern beobachtet wurde.

Als der wöchentliche Postdampfer, der die ganze Westküste von Afrika entlangfährt, von Kapstadt ankam, entstand zwischen dem Kapitän des Schiffes und einem Sanitätsbeamten von Mgwana Streit wegen eines Passagiers.

Dieser Mann war unterwegs erkrankt, und wenn auch nicht gerade an Cholera, so war sein von heftigem Fieber zerrütteter Körper doch der Ansteckung besonders ausgesetzt. Der Kapitän erklärte, der Passagier habe nach Mgwana gewollt und dafür bezahlt. Er sei im Besitze von großen Geldmitteln, und so stehe nichts im Wege, ihn an Land zu bringen, wohin, das ginge ihn, den Kapitän, nichts an. Der Arzt wollte den kranken Mann nicht an Land haben, aber es blieb ihm schließlich doch nichts anderes übrig, als sich dem Willen des Kapitäns zu fügen.

»Wissen Sie, was der Zweck der Reise des Kranken ist?« fragte der Arzt den Kapitän.

»Nein, ich konnte nichts aus ihm herausbekommen; sofort als er den Anfall des Fiebers bekam, verfiel er ins heftigste Delirium, er wird ohne Zweifel sterben. Ich gebe Ihnen sämtliche Effekten mit, darunter seine Papiere, und Sie können dann nach Gutdünken handeln. Glaube, er ist ein Gentleman.«

»Er kommt natürlich nach den Baracken und muß eine zweiwöchentliche Quarantäne (Beobachtungszeit) durchmachen. Aber auch ich glaube kaum, daß er noch einige Tage leben wird,« sagte der Arzt und ließ den besinnungslosen Kranken von einem Krankenträger in das Boot bringen, welches die weiße Flagge mit dem roten Kreuz führte, die internationale Sanitätsflagge.

Da trat ein noch junger Herr, welcher ein Billet besaß, laut dessen er die ganze Küste von Afrika befahren konnte, auf den Arzt zu.

»Gestatten Sie mir,« sagte er höflich, »daß ich diesen Herrn in Privatpflege nehme? Es ist ein Mann von Ansehen und Bedeutung, dessen Familie unglücklich sein würde, wenn sie erführe, daß er hier krank und verlassen im fremden Lande liegt.«

»Kennen Sie ihn?« fragte der Arzt mißtrauisch.

»Ich kenne ihn, wenn ich auch nicht mit ihm befreundet bin. Er ist ein Deutscher, gleich mir.«

Der Arzt sann einen Augenblick nach. »Nein, es geht nicht,« entschied er dann, »ein jeder Kranker, wer er auch sein mag, muß in die Baracken. Gestatte ich einmal eine Ausnahme, so folgen bald mehrere. Tut mir leid, mein Herr, daß ich Ihre Bitte abschlagen muß.«

Der junge Mann versuchte noch einmal, den Arzt zu bewegen, daß er die Pflege des Kranken übernehmen könne, aber schließlich mußte er seine Bemühungen als fruchtlos aufgeben.

Der Kranke wurde ins Boot gebracht und an Land gerudert, aber auch der junge Herr teilte dem Kapitän sofort mit, daß er hier das Schiff zu verlassen wünsche, und brummend mußte der Kapitän den Befehl geben, ein Boot auszusetzen, um den Passagier an Land zu bringen.

Der Herr nahm seine beiden kleinen Koffer und erreichte das Ufer, nachdem das Sanitätsboot schon längst gelandet und der Kranke nach den Baracken gebracht worden war. Bei den Krankenträgern erkundigte er sich, wo jene lägen, und eilte ungesäumt dahin, sein Gepäck dem Schütze eines Hafenbeamten überlassend.

Die Baracken, lange, hölzerne, luftige Gebäude, lagen etwa eine halbe Stunde von Mgwana entfernt, auf einem Hügel, also so gesund wie möglich. Obgleich der Kranke sicher nicht sehr schnell getragen werden konnte, gelang es dem jungen Deutschen doch nicht mehr, den Transport zu erreichen. Er sah nur noch aus der Ferne, wie sich das hölzerne Barackentor hinter der Tragbahre schloß.

Fünf Minuten später stand er atemlos vor demselben und bat den Pförtner um Einlaß, da er den soeben eingelassenen Kranken unbedingt sprechen müsse, aber die Erfüllung des Wunsches wurde ihm in unhöflichem Tone rundweg abgeschlagen.

»Außer den Beamten kommt kein Gesunder in die Baracken,« lautete die Antwort. »So möchte ich den Anstaltsarzt sprechen,« rief ärgerlich der junge Mann.

»Das hat gar keinen Zweck, er verbietet Ihnen den Zutritt erst recht, und dann ist seine Sprechzeit schon längst vorüber.«

Der Herr war sehr ärgerlich; man sah ihm an, von welcher Wichtigkeit es ihm sein mußte, den Kranken noch einmal zu sprechen, ehe derselbe die Reise ins Jenseits anträte, was auch nach Aussage des Schiffsarztes bald erfolgen mußte.

Der Pförtner musterte mit pfiffigen Augen den elegant gekleideten Fremden von oben bis unten, und dadurch fiel diesem plötzlich ein, wie er sich wohl auf diese oder jene Weise den Eingang zu den Baracken ermöglichen könne.

»Hier, guter Freund,« sagte er und drückte dem Manne ein, großes Silberstück in die Hand, »gestatten Sie mir den Zutritt zu dem eben hereingeschafften Kranken. Ich muß ihn auf alle Fälle vor seinem Tode noch einmal sehen und sprechen.«

Jetzt hellte sich das Gesicht des braunhäutigen Gesellen plötzlich auf, weniger wegen der freundlich gesprochenen Worte, als vielmehr wegen des Silberstückes.

»Ich kann Ihnen den Zutritt nicht erlauben ohne die Genehmigung des Arztes, und dieser erteilt sie nicht, aber,« fügte der Torhüter hinzu, »gehen Sie nach dem englischen Konsulat und holen Sie sich dort eine Bescheinigung, daß Sie den Kranken sehen müssen, so bekommen Sie den Zutritt, denn die Baracken stehen unter der Aufsicht des englischen Konsuls. Der Kranke hat nicht die Cholera, sonst könnten Sie ihn auf keinen Fall sehen, er hat nur einen Nervenschlag bekommen und liegt im heftigsten Fieber. Er wird wohl bald draufgehen.«

»Schon gut,« unterbrach der Fremde rasch den redseligen Mann. »Wo befindet sich das Konsulat?« Der Pförtner beschrieb ihm die Lage desselben. »Also in der Stadt selbst!« rief der Deutsche und war schon auf dem Wege dorthin.

»Der hat es ja furchtbar eilig,« brummte der Torhüter in seinen Bart, »aber ehe er den Erlaubnisschein hat, wenn er ihn überhaupt bekommt, ist der Kranke schon längst gestorben; er lebt höchstens noch ein paar Stunden.«

Der junge Deutsche eilte so schnell wie möglich nach der Stadt zurück, die Umständlichkeit verwünschend, die er erst zu besiegen hatte. Eine halbe Stunde rechnete er hin, eine halbe Stunde zurück, und eine Stunde auf dem Konsulat; wer wußte, ob der Kranke noch so lange zu leben hatte!

Aber er sollte für seine Entschlossenheit belohnt werden.

Noch hatte er nicht das Vierteil des Weges nach der Stadt zurückgelegt, als er auf einem kleinen Seitenpfade einen Spaziergänger erblickte, einfach gekleidet, einen Strohhut auf dem Kopfe.

Schon wollte er flüchtig an dem Manne vorübereilen, der eben den Weg erreicht hatte, als dieser selbst auf ihn zukam und ihn anredete.

»Oskar,« rief der Mann mit dem Strohhüte auf deutsch. »Plagt mich der Teufel, oder bist du's wirklich? Willst du dich hier in Afrika zum Schnelläufer ausbilden, daß du so unsinnig rennst?«

Erstaunt blickte der Deutsche dem Unbekannten ins Gesicht, er wußte noch nicht, wen er vor sich hatte.

»Gib dir keine Mühe, mich erkennen zu wollen!«, klang es etwas spöttisch. »Da ich sehe, daß du es sehr eilig hast, so will ich dich nicht lange raten lassen. Ich nannte mich, als ich in Deutschland mit dir zusammen arbeitete, Mister Lind aus Philadelphia.«

»Was, Nick Sharp, du bist es?« rief der mit Oskar Angeredete erfreut und schüttelte dem Detektiven herzlich die Hand. »Ich brauche nicht zu fragen, wie du hierherkommst, du treibst dich ja in aller Herren Ländern herum, manchmal sogar,« fügte er scherzend hinzu, »in einigen Ländern zur gleicher Zeit. Komm mit mir, ich will dir unterwegs erzählen, was mich hierherführt, denn ich habe wirklich keine Zeit zu verlieren.«

Oskar Bergler war Detektiv in einem deutschen Unternehmen, welches privatim die Beobachtung von Personen, die Verfolgung von Flüchtlingen und das Auffinden von Vermißten besorgte. Er hatte Sharp in Deutschland kennen gelernt, als dieser einen nach dort geflohenen, amerikanischen Verbrecher auf den Hacken saß. Beide waren Freunde geworden.

»Du willst nach dem englischen Konsulat, um dir den Eingang zu den Baracken zu verschaffen?« rief Sharp nach den ersten Worten des Freundes. »Dann brauchst du dich nicht so sehr zu beeilen, jedenfalls kannst du den Konsul heute nicht mehr sprechen, und vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden erhältst du den Erlaubnisschein auf keinen Fall.«

»Aber ich muß einen Kranken, dessen letzte Stunde bald geschlagen hat, unbedingt vor seinem Tode sprechen,« rief Oskar halb verzweifelt.

»Das hättest du mir eher sagen sollen,« antwortete Sharp und drehte sich sofort um. »Ich kann dir den Eingang in die Baracken sofort verschaffen, und wenn der Mann von zehn Seuchen zugleich befallen wäre, kraft meiner Vollmachten, die mir überall die Tore öffnen.«

»Gott sei Dank,« rief Berger erfreut, »so erscheinst du mir ja wie ein rettender Engel!«

»Was für ein Mann ist das, den du da sprechen willst, ehe er stirbt? Hat er ein großes Geheimnis zu verraten?«

»Ich glaube, ja. Es ist ein sehr vornehmer Herr, den zu beobachten, mir vorgeschrieben ist, aber ich folge ihm nun fast durch die ganze Welt nach, ohne zu erfahren, was ich erstrebe. Jetzt oder nie ist mir also die Gelegenheit geboten, zu hören, was ich wissen will. Der Mund eines Sterbenden ist eher bereit, ein Geheimnis auszuplaudern, als der eines Lebenden. Jener Mann ist ein Freiherr, er heißt Freiherr von Schwarzburg.«

»Freiherr von Schwarzburg!« rief Sharp erstaunt.

»Kennst du ihn?«

»Ja und nein! Fahre erst fort!«

»Die Freiherren von Schwarzburg sind ein mächtiges, deutsches Adelsgeschlecht, welches –«

»Ich weiß, weiter!« unterbrach ihn Sharp,

Berger kannte den Detektiven zur Genüge, und so fuhr er fort:

»Vor etwa fünfzig Jahren fiel das Majorat nicht an den ersten Sohn, weil dieser eine Ehe mit einem verworfenen Subjekt geschlossen hatte, sondern an den zweiten Sohn. Jener nicht standesgemäßen Ehe entsprang ein Sohn, Emil von Schwarzburg, der Mann, welcher jetzt wahrscheinlich im Sterben liegt, der Ehe des zweiten Sohnes, welcher nun das Majorat besitzt und den Stammbaum führt, Rudolf von Schwarzburg. Außer den beiden Brüdern existiert noch eine Schwester, welche – merke wohl auf, Nick – von dem harten Vater auch verstoßen wurde, so daß er also zwei Kinder verstoßen hat. Später aber erkannte er, daß er unrecht gegen sie gehandelt. Es war zu spät, den getanen Schritt rückgängig zu machen, die Tochter war und blieb verschwunden. Kurz darauf starb der Erstgeborene und hinterließ den obengenannten Emil. Wir haben nun Ursache, anzunehmen, daß dieser Emil von Schwarzburg alles versucht, um wieder in den Besitz des Majorats zu kommen; denn es ist nur nötig, daß Johannes von Schwarzburg, welcher Seekadett ist, stirbt, so ist Emil wieder Majoratsherr, respektive sein Sohn Konrad. Hast du das verstanden, Nick?«

»Ja, weiter.«

»Emil von Schwarzburg hat einen bösartigen, niederträchtigen, habgierigen Charakter; es ist dem Majoratsherrn Rudolf vorgekommen, als ob derselbe Böses gegen ihn im Sinne habe, und er hat deshalb die Gesellschaft, der ich diene, beauftragt, ihn zu beobachten. Ich bin der erwählte Beobachter. Emil reist fortwährend in der Welt herum, und zwar reist er dem Schiffe nach, auf welchem sich der Seekadett, Freiherr Johannes von Schwarzburg, befindet, und so ist anzunehmen, daß er nach dessen Leben trachtet, umsomehr, als er öfters Umgang mit verdächtigen Elementen hat. Er arbeitet wahrscheinlich weniger für sich, als vielmehr für seinen Sohn Konrad, denn er selbst ist ja schon ein alter und sehr kranker Mann.«

»Was willst du aus dem Munde des Sterbenden erfahren?« fragte Sharp den Erzählenden,

»Ich komme gleich darauf. Emil war zuletzt in Neu-Seeland und begab sich dann nach Kapstadt, wo er den Dampfer wechselte und diesen nahm, den er krank verlassen hat. Ich hatte und habe auch jetzt keine Ahnung, warum er sich hierher begab, vielleicht, daß ich es nun erfahre. Eine Zeitlang hatte ich seine Spur verloren, fand sie endlich in Neu-Seeland wieder und verfolgte sie bis hierher. In Kapstadt empfing er einen Brief aus Deutschland – ich bemerkte, daß er überhaupt äußerst zerrüttete Nerven besaß – las ihn und brach dann, von einem Nervenschlag getroffen, plötzlich zusammen. Ich hielt mich, wie sein Schatten, immer in seiner Nähe, war der erste, der ihm zu Hilfe eilte, und las schnell den Erich, der solchen Eindruck auf ihn gemacht. Er enthielt die Nachricht, daß sein Konrad, ein Bengel von zweiundzwanzig Jahren, wegen bedeutender Wechselfälschungen verhaftet worden war und mehrere Jahre Zuchthaus zu erwarten hatte.«

»Aha, ich fange an zu begreifen,« brummte Sharp.

»Ich wüßte nicht, was du schon ahnen solltest.«

»Fahre nur fort!«

»Gut, ich bin gleich zu Ende. Nun möchte ich aus seinem Munde erfahren, ob er den Aufenthalt Gertruds kennt, welche durch Intrigen seines Vaters verstoßen wurde, oder ob er wenigstens weiß, was ihr Schicksal gewesen ist. Vielleicht, daß sie Kinder hat, deren sich Rudolf von Schwarzburg annehmen will!«

»Sollte Emil darüber Papiere besitzen?«

»Es ist nicht anzunehmen, daß über so etwas irgend welches Schriftliche existiert, wohl aber, daß der Vater, durch den die Tochter verstoßen, dem Sohne mitgeteilt hat, wie er dies bewerkstelligte, und zwar nur, um seinem Sohne zum Majorat zu verhelfen. Es ist dem Majorats-Herrn Rudolf nämlich zu Ohren gekommen, daß Emil seinem Vater hat schwören müssen, nicht eher zu ruhen, als bis er sich das Majorat wieder angeeignet hat.«

»Das Geheimnis, welches du erfahren willst, bezieht sich also hauptsächlich auf Gertrud, die unschuldig Verstoßene?«

»Ja, es ist aber auch möglich, daß der von seinem Sohne so schwer gedrückte Vater diesen nun gar nicht mehr als Majoratserben für würdig hält, bei einem Zuchthäusler wäre dies auch gar nicht mehr möglich, und daher die Pläne verrät, die er gesponnen hat, um dem Sohne das Majorat wieder zu verschaffen, und die eventuell auch nach seinem Tode weitergegangen wären.«

»Da sind wir,« sagte Sharp, auf eine Nebentür der unterdes erreichten Baracken deutend. »Du mußt mir erlauben, daß ich der Vernehmung beiwohne, denn ich bin mehr für die Schwarzburgschen Verhältnisse interessiert, als du glaubst, vielleicht kann ich dir später sogar eine wichtige Erklärung abgeben. Noch eins aber: hast du den Kranken nicht schon an Bord gesprochen?«

»Nein, der Arzt ließ mich niemals zu ihm, darum wollte ich ihn hier gern in Privatpflege geben.«

Sharp zog die Klingel, erhielt aber von dem Pförtner denselben Bescheid, wie vorhin sein Freund: außer den Beamten dürfe kein Gesunder die Baracken betreten.

»Hole den Arzt, aber schnell!« sagte Sharp.

»Er hat jetzt keine Sprechstunde,« war die Antwort.

Sharp nahm eine Karte aus der Brusttasche, schrieb einige Worte darauf und gab sie dem Pförtner. »Innerhalb einer Minute wird der Hauptarzt diese Karte haben,« sagte er dabei kurz und bestimmt.

Es lag etwas in seinen Worten, was den Torhüter veranlaßte, die Karte zu nehmen und sich sofort auf den Weg nach der Stube des Arztes zu machen. Unterwegs studierte er die Karte.

»Ein Kriminalbeamter,« murmelte er. »Das ist allerdings etwas anderes.«

In fünf Minuten stand Sharp vor dem Arzt, sprach mit diesem, und gleich darauf führte derselbe die beiden Freunde nach der Baracke, wo der Freiherr lag.

»Es ist ein Glück, daß du mich getroffen hast,« sagte der Detektiv unterwegs, »es soll schlimm mit ihm stehen, jede Minute kann er seinen letzten Seufzer tun.«

»Was fehlt ihm eigentlich?«

»Sein Nervensystem soll schon seit langer Zeit vollständig zerrüttet sein. Die Nachricht von dem Streiche seines sauberen Sohnes hat ihm den Rest gegeben; er geht seiner Auflösung entgegen.«

»Dann wollen wir eilen, daß wir nicht zu spät kommen!«

In dem hölzernen Gebäude lagen oder saßen wohl gegen fünfzig Personen, welche der Cholera verdächtig waren und scharf beobachtet wurden. Nur einige waren aber wirklich krank.

Der einzige, welcher schwer krank war, war der zuletzt Angekommene, Emil Freiherr von Schwarzburg.

Er lag bewegungslos auf seinem Bett. Das nervöse. Zucken hatte sein Gesicht jetzt verlassen, aber dasselbe war vollständig eingefallen, die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen, und nur ein leises Stöhnen verriet, daß er noch lebte und die letzten Stunden unter heftigsten Schmerzen zu verbringen hatte. Er war so schwach, daß er sich nicht mehr bewegen und seinen Schmerz nur durch Zuckungen äußern konnte.

Neben seinem Bett standen zwei Krankenwärter mit einer Bahre, und so rücksichtslos ging es hier zu, daß sie schon Vorbereitungen trafen, den Leichnam wegzutragen. Sie warteten nur, bis der Kranke den letzten Atemzug getan hatte.

»Beeilen Sie sich!« drängte der Arzt. »Er ist gerade bei Besinnung, ein sicheres Zeichen, daß er bald sterben wird.«

Schnell trat Berger ans Bett.

»Emil Freiherr von Schwarzburg,« sagte er laut, sich über den Kranken beugend, »sind Sie im Stande, mich zu verstehen und mir Antwort zu geben?«

Der Kranke öffnete langsam den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu. Doch konnte man in seinen Augen, die er auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet hatte, lesen, daß er ihn verstanden hatte.

»Ihr Vetter Rudolf fragt, ob Sie wissen, wo sich Ihre Tante Gertrud befindet.«

Da öffnete der Kranke den Mund wieder, und leise, fast unhörbar, drang es stoßweiße daraus hervor:

»Nein – ich weiß – es nicht – ich sterbe – hört Ihr mich ...?«

»Wir verstehen Sie, sprechen Sie!« drängte Berger, sich noch dichter über den Mund des Kranken beugend, wahrend Sharp auf der anderen Seite dasselbe tat. Sie ahnten, daß er wirklich ein Geständnis machen wollte.

»Ich sterbe – so hört denn – was ich meinem Vetter – sagen lasse – Johannes, der Kadett – ist gar nicht – sein richtiger – Sohn ...«

»Nicht sein Sohn?« schrie Berger fast auf. »Um Gottes willen, machen Sie nicht noch im Sterben eine Lüge!«

»Es ist keine Lüge – Johannes – ist nicht sein Sohn.«

»Wer denn? So sprechen Sie doch!«

»Still.« mahnte Sharp.

Aber der Kranke öffnete den Mund nicht mehr. Eine Schwäche hatte ihn übermannt.

Da bog sich Sharp noch weiter über ihn.

»Ist der Mann, welcher den Namen Hannes Vogel trägt, das legitime Kind?« fragte er zum namenlosen Erstaunen seines Freundes.

Der Freiherr nickte, gleichzeitig fand er die Sprache wieder.

»Ja,« flüsterte er tonlos, »Hannes Vogel – ist Johannes Freiherr von Schwarzburg – der Kadett ist ein untergeschobenes Kind.«

»Beweise! Wo sind die Beweise?« drängte Sharp, welcher das Leben des Kranken erlöschen sah.

»Er hat – den Geburtsschein.«

»Ich weiß es, aber ich brauche mehr Beweise.«

»Die Frau, welche ihn – erzogen hat – hat sie – ich ließ – ein anderes Kind – unterschieben.«

»Sprecht Ihr die Wahrheit, Mann?« rief Sharp.

»Ich – verfluche – meinen Sohn – ich sage mich – von ihm los – Hannes Vogel – ist der Majoratsherr.«

Plötzlich richtete der Sterbende sich mit einem Ruck im Bett auf und fuhr mit seiner letzten Kraft, so schnell wie er früher gesprochen, fort, auch sein Gesichtszucken hatte sich wieder eingestellt.

»Es ist zu spät,« stöhnte er mit heiserer Stimme. »Hannes wird nicht nach Hause kommen – wenn Ihr nicht schnell ihm nacheilt – an Bord des Schiffes, auf dem er sich befindet – ist ein Mann mit dem Auftrage – ihn zu töten – von mir angeworben – eilt – sonst wird Konrad – doch noch – Erbe – des ...«

Er vollendete den Satz nicht, sank hintenüber und verschied.

Die Unterhaltung war deutsch geführt worden. Keiner der anwesenden Beamten hatte die Worte verstanden, aber Berger sah erstaunt seinen Freund an, der solche Kenntnis von dieser Sache besaß.

»Wer ist dieser Hannes?« fragte er.

»Ich kenne ihn,« antwortete Sharp, »er ist vor einigen Tagen mit der »Urania« abgefahren, und wir müssen eilen, wollen wir ihn noch am Leben finden.«

Er zog Berger eiligst mit sich aus dem Sterbezimmer.

»Aber so sprich doch, wer ist denn dieser Hannes, und wie willst du ihn retten, wenn es wahr ist, was der Mann eben gesagt hat? Wir können das Schiff doch nicht mehr einholen.«

»Komm, komm!« drängte Sharp und nötigte den Freund zum Schnellergehen. »Wir können dies doch vielleicht noch ermöglichen. Eilen wir zunächst so schnell wie möglich nach dem Hafen, dann gehst du nach den Baracken, bringst dich in Besitz der Effekten des Freiherrn und dann wollen wir sehen, was geschehen kann, um Hannes zu retten.«

Im Eilschritt erreichten sie den Hafen; Sharp sprang in ein Boot, sein Begleiter ihm nach, und beide ließen sich nach einem großen, schwarzen Vollschiffe rudern.

In aller Kürze teilte Sharp dem Kapitän Hoffmann mit, was sie aus dem Munde des Sterbenden vernommen hatten. Ohne auf Berger zu achten, fragte Sharp den Kapitän des Vollschiffes:

»Werden Sie die »Urania« noch einholen können?«

»Wann ist sie abgefahren? Vor drei Tagen, nicht wahr?«

»Ja.«

Hoffmann nahm ein Buch aus dem Schranke und blätterte darin. Es enthielt sämtliche eingetragenen Schiffe mit Angaben des Tonnengehaltes und der Schnelligkeit.

»Sie fährt nur sechzehn Knoten,« sagte er dann. »Ja, ich könnte sie in drei bis vier Tagen erreicht haben.«

»Wollen Sie helfen, Hannes, den Majoratserben, zu retten?«

»Dann müssen wir aber das andere, was wir ausgemacht haben, aufschieben.«

»Vorläufig! Das schadet nichts weiter.« »Gut, ich bin bereit, der »Urania« nachzufahren,« entgegnete Hoffmann. »Wir wollen hoffen, daß wir nicht zu spät kommen, um eine Freveltat zu verhindern. Aber, meine Herren,« fügte der bedächtige Ingenieur hinzu, »bedenken Sie, was Sie tun wollen. Johannes, der Seekadett glaubt, er sei der Freiherr. Durch Ihre Aussagen aber wird er aus seiner Position entfernt. Hannes, unser Matrose, ist ein glücklicher Mensch, und ich glaube kaum, daß ihm Ihre Mitteilung viel Freude bereiten wird – er paßt besser zum Kapitän als zum Freiherr«, Ihn zu retten, will ich wohl versuchen, wäre es aber nicht besser, Sie ließen die Verhältnisse so, wie sie sich einmal gestaltet haben?«

»Derartige Rücksichten dürfen wir nicht nehmen,« entgegnete der Detektiv, »dann dürften wir nie ein Unrecht aufdecken, weil dadurch die Ruhe einiger Personen gestört wird. Außerdem existiert Konrad, der Sohn, der sicher von den Plänen seines Vaters weiß, ferner die Pflegemutter von Hannes, vergessen Sie das nicht! Diese beiden Personen ziehen Vorteile aus der Verwechselung, und das dürfen wir nicht dulden. Nein, die Sache muß unbedingt aufgedeckt werden!«

»Und denken Sie auch an den alten Freiherrn, an seinen Schmerz, wenn er erfährt, daß er bis jetzt einem fremden Kinde seine Vaterliebe zugewendet hat!«

Diesmal nahm Berger das Wort:

»Rudolf von Schwarzburg ist zu gerecht, als daß er selbst eine solche Verwechselung dulden würde,« sagte er, »aber es ist auch nicht nötig, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Vor acht Tagen erhielt ich die letzte Nachricht über ihn, und zwar, daß er auf den Tod krank liegt, und wenn Sie, Mister Sharp, und Sie, Kapitän Hoffmann, die Sie beide Hannes Vogel kennen, mir Ihren Beistand zusagen, so wird es mir ein Leichtes sein, Licht in diese Sache zu bringen und den eigentlichen Erben einzusetzen, womöglich ohne daß der alte Freiherr es erfährt.« »So sei es denn!« entgegnete Hoffmann. »In zwei Stunden ist der »Blitz« seebereit. Ich erwarte Sie noch kurz vorher an Bord, meine Herren.« – – –

Ein feuriges Ungetüm schoß bald nach dieser Unterredung geisterhaft durch das Meer, den Sturm nicht achtend, der es von vorn in seinem Laufe zu hemmen suchte. Schäumend stürzten die Wogen mit aller Macht über das rätselhafte Fahrzeug, als wollten sie versuchen, die im Innern brennenden Flammen zu löschen, aber so oft und so lange sie den großen Körper auch vollständig überfluteten, immer tauchte er wieder auf und sandte seine Strahlen weit hinaus aufs Meer. Die Wellen vermochten nicht einmal ihre Wut an irgend einem Gegenstände auszulassen, denn das völlig leere und öde Deck bot ihnen keinen Widerstand, und mit unverminderter Stärke beleuchteten die aus einigen Glasfenstern dringenden weißen Strahlen das tobende Meer.

Oft, wenn das Schiff, dessen Schornstein keine Rauchsäule entstieg, den Bug tief in die Wellen steckte, das Heck aber hoch in die Luft hob, gleich einer riesigen Tauchente, konnte man sehen, was dem Schiffe die ungeheure Schnelligkeit erteilte. Dann wurden zwei mächtige Schrauben sichtbar, so groß, wie sie kein Kriegsschiff, kein Passagierdampfer aufzuweisen hat, und ihre Umdrehungsgeschwindigkeit war eine rasende.

Da fiel einer der bleichen Lichtstrahlen plötzlich auf einen Gegenstand, der als Spielball der Wellen hin und hergeschleudert wurde, und so intensiv war das Licht, daß man trotz der dunklen Nacht sehen konnte, daß dieser Gegenstand lebte. Es war ein Mensch, der verzweifelt mit den Wogen rang.

Die Hilferufe dieses Unglücklichen wären vergeblich gewesen, auch wenn viele Retter in der Nähe gewesen wären, das Heulen des Sturmes hätte es keinen Meter weit hören lassen, aber auf diesem sonderbaren Schiffe mußten sich wachsame Augen befinden, die fortwährend das Meer nah und fern absuchten. Kaum war der Mensch, gerade auf einem hohen Wellenkamme schwebend, in den Bereich eines der Strahlen gekommen, so verminderte sich die Schnelligkeit des Schiffes bedeutend, die Schrauben hörten auf zu arbeiten, Und im Inneren begann ein Hin- und Herlaufen von Schritten.

Wieder wurde der wackere Schwimmer in einen wirbelnden Strudel gezogen; lange dauerte es, ehe er wieder an der Oberfläche erschien, als er aber nochmals auftauchte, da sah er plötzlich ein graues Boot, fast wie ein Ei geformt, auf sich zuschießen, und ehe er wieder, vielleicht das letzte Mal, in den fürchterlichen Strudel gezogen wurde, fühlte er sich von einem kräftigen Arme gepackt und dem nassen Grabe entrissen.


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