Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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31.

In der Abendstunde.

England ist das Land der Frömmelei. In keinem Teile Europas steht dieselbe in so schöner Blüte wie dort. Aber die von England nach Amerika getragene Bigotterie hat dort noch seltsamere Auswüchse gezeitigt. Amerika hat das Mutterland darin noch überflügelt, und wer Neigung oder Bedürfnis fühlt, auf offener Straße vor Tausenden von Zuhörern, natürlich Arbeitslosen oder Faulen, zu predigen, zu gewissen Zeiten mitten auf dem Trottoir auf die Kniee zu sinken, um zu beten, sich vor die Theater zu stellen und die Besucher derselben vor den Fallstricken dieser Welt zu warnen und so weiter, der gehe nach den Vereinigten Staaten, dort wird ihm dies alles gestattet, er findet Gleichgesinnte, er findet auch Bewunderer.

Ganz besonders lieben es die amerikanischen Damen, sich mit ihrer frommen Andacht zu brüsten, oder, wie sie sogar sagen, mit ihrer Heiligkeit, und wie immer und in jedem Lande die größten Gegensätze herrschen, so findet man wiederum unter den amerikanischen Damen gerade die ärgsten Freidenker, die schlimmsten Emanzipierten und die am freiesten Sprechenden und Handelnden.

Zu der ersteren Kategorie gehörten auch die Mitglieder eines sogenannten Andachtsklubs, das heißt eines Vereines junger Damen, welche an gewissen Tagen zusammenkamen, beteten, sangen, aus der Bibel vorlasen – und hinterher die Tagesereignisse durchklatschten, wobei eine große Menge Tee konsumiert wurde, damit der Geist die nötige Spannkraft erhielt, um aus der kleinsten Mücke einen Elefanten machen zu können, und damit das Mundwerk nicht erschlaffe.

Die Mitglieder des Andachtsklubs setzten sich aus Töchtern der höheren Kreise und der Geldaristokratie von New-York zusammen. Bis vor einem Jahre hatte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Stadtneuigkeiten, ab und zu auch um die Besatzung des ›Amor‹ und der ›Vesta‹ gedreht. Die in den Zeitungen über diese Schiffe erscheinenden Artikel wurden besprochen und den Vestalinnen etwas am Zeuge zu sticken versucht, bis einst in diesen Klub ein neues Mitglied aufgenommen wurde, welches nach der Andachtsstunde eine ganz andere Unterhaltung aufbrachte, die bald in eine wahre Manie, in eine Sucht ausartete.

Dieses neue Mitglied war Miß Emmy Waible, jene Freundin Hopes, welche dieser nach Australien einen Brief schrieb, der von Hope beantwortet wurde, und später fand nochmals zwischen beiden ein Briefwechsel statt, ohne daß dessen besonders Erwähnung getan worden wäre.

Als einst wieder das Gespräch auf die Vestalinnen gekommen und deren Beziehungen zu den englischen Herren durchgehechelt waren, sprach Miß Emmy davon, daß sie selbst im Besitze einiger Briefe einer Vestalin sei.

Allgemeine Aufregung entstand,

Emmy mußte die Schriftstücke mitbringen, sie wurden von vorn nach hinten, von hinten nach vorn gelesen, buchstabiert und studiert, und da sie aus der Feder der zur Uebertreibung neigenden Hope stammten, so kann man leicht begreifen, daß die Andachtsstunde um zwei Stunden verlängert und daß dreimal soviel Tee, wie gewöhnlich, getrunken wurde.

Plötzlich erinnerten sich alle vierzehn Mitglieder des Andachtsklubs, daß sie doch auch diese oder jene Dame der ›Vesta‹ kannten, einige sogar gleich zwei und drei, und ebensogut wie Emmy mit Hope korrespondierte, konnten sie doch auch einen Briefwechsel mit einer Vestalin beginnen.

Welch prächtigen Stoff gab dies zur Unterhaltung nach der Andachtsstunde!

Am nächsten Tage mußte der Postdampfer vierzehn Briefe expedieren, welche alle die Adresse ›Vesta‹ »Amerikanisches Konsulat«, trugen.

Nun ist es natürlich, daß, wenn jemand sonst keine Verwandten oder Bekannten hat, mit denen er sich schreibt, er gern die Gelegenheit ergreift, einen Brief zu beantworten, denn jeder spricht sich gern einmal einem Bekannten gegenüber aus, den er kennt und nicht jeden Tag sieht.

Kurz und gut, nach einer schönen Andachtsstunde griff eine Dame in ihr Nähkörbchen und sagte so nebenhin:

»Ich habe jüngst Miß Nikkerson geschrieben; ich hatte gerade einmal Zeit, und sie hat mir auch sofort geantwortet. Ein sehr hübscher Brief, aber, aber ...

»Wie wunderbar,« sagte eine Zweite, »auch ich bekam neulich den Einfall, an Miß Petersen zu schreiben! Sie wissen, ich lernte sie auf dem Eise kennen.«

»Und da sagt die Welt, es gäbe keine Wunder? mehr,« ließ sich eine Dritte vernehme»und brachte aus ihrem Häkeltäschchen ebenfalls einen Brief zum Vorschein,« »ist das nicht ein sicherer Beweis? Vor einigen Wochen ...«!

Und so ging es in verschiedenen Variationen weiter bis endlich vierzehn Briefe aus Taschen, Beuteln, Körbchen und Strickstrümpfen erschienen waren. Alle waren sie von der ›Vesta‹ und alle waren sie Antworten auf zufällig in einem freien Augenblick geschriebene Briefe.

Das Vorlesen der Schreiben begann. Mit hoher, tiefer, heller, rauher oder knarrender Stimme wurde ihr Inhalt von den Empfängerinnen zum besten gegeben, jedem einzelnen schloß sich eine kurze Kritik an, und nach dem Verlesen sämtlicher Briefe erfolgte eine lange Debatte Aus diesen Briefen konnte man das Leben der Vestalinnen haarklein erkennen, es lag wie ein offenes Buch vor den Augen der scharfsinnigen Mädchen, und leider mußten alle gestehen, daß dieses Leben als ein sehr gottloses zu bezeichnen war.

In den nächsten Andachtsstunden sollte der Weltumseglerinnen im Gebet gedacht werden, damit ihre unsterblichen Seelen nicht verloren gingen, wenn sie sich mit schwarzen Heiden und gottlosem Gesindel abgäben. Heute war es schon zu spät. Die Equipagen warteten schon vier geschlagene Stunden auf das Erscheinen der jungen Damen, und während diese oben die Abschiedshymne sangen, fluchten unten die Kutscher.

Diese segensreichen Andachtsstunden mit solchen Effekten wiederholten sich noch öfter, fast jeden Monat einmal. Immer höher wurde der Stapel von Briefen, immer mehr beteten die Mädchen um Errettung der Seelen der armen Verirrten, und immer grimmiger wurde das Fluchen der wartenden Kutscher.

Trotz der Verschwiegenheit, welche jede dieser Damen beteuerte, dauerte es nicht lange, so wurde in weiten Kreisen von New-York bekannt, mit wem die frommen Mädchen in so eifrigem Briefwechsel standen. Manche neugierige Frage ward hörbar, aber sie wurde immer energisch abgewiesen, weil jedes Mädchen verschwiegen war wie das Grab – mit Ausnahmen. Ja, ein unverschämter Reporter des »New-York-Herald« hatte einmal die Frechheit, eine Dame zu fragen, ob ihm die Briefe der Vestalinnen nicht für einige Tage geliehen werden könnten. Seine Zeitung würde zehntausend Dollar in die Armenkasse zahlen. Nun, dieser Mensch gehörte eben zu jener Klasse von Menschen, welche den Hyänen und Aasgeiern gleichen. Je mehr etwas anrüchig ist, desto mehr werden sie davon angezogen.

Dieser Briefwechsel entwickelte sich unter den Damen zu einer Art von Sport, jede suchte die andere durch die Anzahl von Briefen, die sie von der ›Vesta‹ empfangen, zu überflügeln, und wer die meisten aufzuweisen hatte, war stolz und wurde von den anderen beneidet. In der Andachtsstunde wurde nicht mehr so viel gesungen wie früher. Man sah oft nach der Uhr, und kaum war das »Amen« gesprochen, so packte man die alten, die neueren und neuesten Briefe aus, die letzteren wurden unter Ausrufen des Entsetzens oder der Entrüstung vorgelesen – das Wort »Shocking« ward unzählige Male hörbar – dann wurden die neueren Briefe mit den älteren verglichen, und stets fanden die frommen Mädchen, daß die armen Seelen der Vestalinnen sich mit rasender Schnelligkeit dem Orte näherten, wo Heulen und Zähneklappern ist. Wie konnte dies auch anders sein, wenn diese armen, betörten Mädchen – der Ausdruck frivol wurde umschrieben – sich der Gefahr aussetzten, mit Männern tagelang durch Wildnisse zu marschieren, in Zelten dicht nebeneinander zu schlafen, ja, sogar in einem einsamen Hause, mitten in der Wüste, zu. tanzen – »Shocking.«

Gott sei Dank, daß ein aus reinem Mädchenherzen aufsteigendes Gebet erhört wird, vielleicht, daß die Vestalinnen noch vor dem ewigen Verderben gerettet werden konnten. –

Der Andachtsklub hatte Versammlung bei Miß Emmy Waible, welche, obgleich noch die jüngste, bereits vor langer Zeit schon mit frommer Hand die Oberherrschaft über den Klub an sich gerissen hatte. Sie konnte beim Vorlesen aus der Bibel durch den Tonfall der Stimme, durch ein eigentümliches Vibrieren derselben und durch feuchten Augenschimmer bei rührenden Stellen die Zuhörer am besten zum Weinen bringen. Keine andere wußte so, wie sie, die dunkelsten Bibelstellen zu erklären, und in ihren Gebeten wechselten blumenreiche Ausschmückungen mit poetischen Wendungen – die Herzen der Mitbetenden wurden direkt bis in den Himmel erhoben.

Miß Emmy Waible, eine hübsche Blondine mit träumerischen Augen, ließ unter ihrer Aufsicht von zwei Stubenmädchen den Teetisch ordnen und deutete dabei einer der Zofen, einer neuengagierten, oftmals mit sanften Worten an, daß sie besser in einen Gänsestall passe als in ein Teezimmer.

Eine Equipage kam nach der anderen angerollt, ihre schönen Fahrgäste schälten sich im Vorzimmer aus Pelzen und warmen Umhüllungen – es war Winter – bis sich ihre erst unförmlichen Gestalten wieder in schlanke verwandelt hatten; die Dienstmädchen zogen die Ankommenden die Ueberschuhe von den Stiefelchen, und dann begaben sich alle nach dem Teezimmer, wo sie von Miß Emmy mit sanftem Lächeln und noch sanfteren, Augenaufschlag begrüßt wurden.

Als zwölf Gäste erschienen waren, hielt Emmy die Zeit für gekommen, die Mitglieder des Andachtsklubs mit einer entsetzlichen Tatsache bekannt zu machen.

»Miß Cook und Miß Vincent haben für heute abgesagt,« teilte sie mit. »Erstere hat sich einen starken Fieberanfall zugezogen – wir wollen nachher im Gebet der Schwester gedenken, und letztere macht einen Besuch im Hospital.«

Die Gefahr war angedeutet; ein vielstimmiger Schreckensschrei verriet, wie scharfsinnig dieselbe überall sofort erkannt worden war.

»Gott sei uns gnädig, so sind wir ja zu dreizehn am Tisch,« ertönte es von allen Seiten.

»Ich habe Vorsichtsmaßregeln getroffen,« lächelte Emmy, »Sie sehen, es sind vierzehn Tassen vorhanden.«

»Wer ist denn die vierzehnte Besucherin?«

»Mein neues Stubenmädchen Hedwig,« erklärte Emmy. »Sie ist noch ein sehr junges Ding, erst vierzehn Jahre alt. Ich habe sie mir vom Lande kommen lassen und hoffe, aus ihr noch eine wahrhafte Christin zu machen. Denken Sie sich nur, neulich hat mir Hedwig gestanden, daß sie das »neue Testament« noch gar nicht gelesen hat, sondern nur einen Auszug davon, und die Offenbarung Johannis versteht sie gar nicht. Sie lachte immer, als ich von dem siebenköpfigen Tiere vorlas und sagte, das sei wohl eine Mißgeburt.«

Zwölf Rufe des Entsetzens ertönten.

»Ich erteile ihr täglich eine Bibelstunde,« fuhr Emmy fort, »und suche sie durch Sanftmut und gutes Beispiel zu einer tugendhaften Christin zu erziehen. Ich glaube, ihre Bekehrung ist nicht mehr fern. So wird es ihr nur von Vorteil sein, wenn sie an unserem Teetisch teilnimmt. Manches gute Samenkörnlein wird in ihr Herz fallen und dort Wurzel schlagen.«

Die Damen bewunderten den Bekehrungseifer ihrer lieben Schwester.

»Hedwig ist ein heidnischer Name,« meinte eine, »er erinnert mich immer an Götteropfer.«

»Ich werde sie umtaufen, sobald sie sich dem Heiland ergibt,« entgegnete Emmy.

»Aber, liebe Emmy,« ergriff ein anderes Mädchen das Wort, »die Gegenwart Hedwigs am Teetisch ist ja ganz vortrefflich, doch wie soll das nachher in der Andachtsstunde werden? Wir können doch unmöglich in unserem Kreise eine unbekehrte Person dulden, unser Gebet würde ja an Kraft verlieren. Könnten wir da vielleicht einen – –«

Emmy unterbrach die Sprecherin

»Auch dafür ist gesorgt. Heute wird ein fremder Gast in unserer Mitte sein.«

»Ein Gast? Wer ist die Dame? Kennen wir sie?« ertönte es überall.

»Es ist keine Dame.«

»Keine Dame? Ein Kind also! O, wie herrlich, ein unschuldiges, frommes Kind.«

»Es ist auch kein Kind.«

»Auch kein Kind? Um Gottes willen, es ist doch nicht etwa ein Mann?«

Es lag ein furchtbares Entsetzen in diesem Ausruf.

»Ich bitte Sie, meine Schwestern, nehmen Sie erst Platz am Tische und stärken Sie sich durch eine Tasse Tee zu unserem kommenden Werke,« sagte Emmy und rückte die Stühle. »Dabei werde ich Ihnen erklären, wer dieser Mann ist, der nicht nur unserer Versammlung beiwohnen, sondern auch vorlesen und vorbeten wird, denn er ist kraft seines Glaubens nicht nur befähigt dazu, sondern ich trete ihm gern die Ehre ab, ich bin nicht würdig, daß ich ihm seine Schuhriemen löse.« Nach dieser demütigen Rede nahmen die Damen Platz, der kommenden Erklärung harrend. Hedwig wurde hereingerufen und mußte sich zwischen Emmy und der Frömmsten der Frommen niedersetzen. Jetzt fand erst eine Stärkung mit Tee, dann die Andachtsstunde und schließlich das eigentliche Teegelage statt, wobei die Hände strickten, stickten oder häkelten, meist warme Sachen für Negerkinder, und wobei sich der Mund rhythmisch zum Klappern der Strickenden bewegte.

Hedwig, das unbekehrte Mädchen mit dem heidnischen Namen, ein in der Entwicklung begriffener Backfisch, zeigte einen wahrhaft unchristlichen Heißhunger. Die eine ihrer roten Hände versenkte sich gewöhnlich in die Zuckerdose, die andere lag auf dem Kuchenteller.

»Nun erklären Sie aber, liebe Emmy, wer jener Mann ist, der heute unserer Andacht beiwohnen wird, und von dem Sie mit solcher Ehrfurcht sprechen,« begann eine Dame die Unterhaltung, mit dem Löffel in der Tasse rührend.

»Es ist doch nicht etwa so ein bezahlter Prediger?« warf eine andere Dame dazwischen. »Und wenn es ein Erzbischof wäre, ich mag mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Schon von weitem riecht man denen die Scheinheiligkeit an. »Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst sollt ihr es wiedergeben« sagt die Bibel, und wer dies nicht tut, steht tief in meiner Achtung.«

»Nein, nein,« wehrte Emmy ab, »jemand anderes ist es. Sie alle werden sein Erscheinen mit großer Freude begrüßen. Kennen Sie Mister Chalmers?«

»Wie, Mister Chalmers, George Chalmers, der Straßenprediger? Der nur für andere lebt, der sein Vermögen den Armen geschenkt hat? Der dem Bischof auf offener Straße die Mütze vom Kopfe geschlagen hat? Ach, das ist ja reizend, das ist entzückend!«

So tönte es durcheinander. Eine allgemeine Begeisterung ergriff die Damen. Sie jauchzten auf, die Teekanne begann plötzlich zu zischen, die Teelöffel klapperten, und der hohe Kuchenaufbau stürzte mit einem Male in sich zusammen – weil die unbekehrte Hedwig das größte Stück unten entdeckt und es rücksichtslos herausgezogen hatte.

Emmy hatte in dem Briefe an Hope Chalmers erwähnt. Sie nannte ihn damals das Ehrenmitglied zahlreicher pietistischer Gesellschaften, einen von Gott begnadeten Ausleger der heiligen Schrift, dessen Geist, losgelöst von der Erde, sich nur mit dem Himmel beschäftige und so weiter, während Hope ihm, das heißt, nur in Gedanken, den wenig ästhetischen Namen »altes Teegesicht« beigelegt hatte.

Nun, dieser Mann war seitdem noch bedeutend in der Gnade gewachsen.

»Wann kommt er denn?« fragte ein Mädchen, nachdem die Begeisterung ein wenig nachgelassen.

»Pünktlich um vier Uhr,« entgegnete Emmy, »wenn unsere Andachtsstunde beginnt. Er hat es mir fest zugesagt.«

»Kennen Sie ihn denn persönlich? Davon haben Sie uns ja noch gar nichts gesagt.«

»Gewiß kenne ich ihn schon lange,« entgegnete Emmy mit vor Begeisterung glühenden Wangen. »Er verkehrte früher, als er noch in besseren Verhältnissen lebte, viel auf den Besitzungen meines Vaters, dort lernte ich ihn kennen. Er war schon damals ein guter Bibelvorleser. Meine Mama lud ihn oft zu sich ein, wenn sie Freundinnen bei sich hatte, und sie einer Erbauung bedürftig waren. Seit dem Verluste seines Vermögens hat er sich vollkommen Gott hingegeben.«

»Er hat sein Vermögen nicht verloren,« versicherte eine Dame eifrig. »Er ist gegen Arme so furchtbar freigebig gewesen, ich weiß es ganz genau, daß er sich bankerott gemacht hat. Stehen doch im Hospital allein drei Freibetten, die seinen Namen tragen.«

»Aber er bezahlt sie nicht mehr, wie mir der Arzt jüngst sagte,« warf eine Dame ein, welcher von Chalmers einmal auf der Straße das Beten verweigert worden war, weil es schon zu spät gewesen.

»Das macht nichts, der Wille war da, und das ist die Hauptsache.«

»Aber er hatte doch ein ganz beträchtliches Vermögen, und da muß er den Armen sehr viel geschenkt haben. Es ist ja wahr, er wird oft von den Armenvätern erwähnt, aber immerhin, so eine Million Dollar verschwindet doch nicht spurlos.«

»Ich weiß, wohin sein Vermögen gekommen ist,« sagte ein Mädchen geheimnisvoll. »Er hat einen Bruder, der in Europa lebt, sein Geld verloren und eine große Familie zu ernähren hat. Dem hat der edle Chalmers sein Vermögen vermacht.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ganz, ganz bestimmt. Sein eigener Rechtsanwalt hat es mir erzählt.«

»Dann bitte ich um Entschuldigung,« sagte die Dame, welche auf Chalmers nicht gut zu sprechen war.

»Ach, er ist wirklich ein entzückender Mensch,« seufzte eine schwärmerische Schwester. »Mir geht es durch und durch, wenn er auf der Straße steht, umgeben von einer nach Hunderten zählenden Menge, die nach Gottes Wort lechzt, wie der Hirsch nach frischem Wasser; wenn er so die Hände emporhebt, die Augen zum Himmel aufschlägt und mit mächtigen Worten den Ungläubigen, die sich nicht im Blute des Lammes gewaschen haben, die Folgen ihrer Sünden vorhält, die Qualen der Hölle herzählt, wie sie mit feurigen Zangen gezwickt und mit flüssigem Schwefel übergossen werden. Ich denke manchmal, der Himmel muß sich öffnen und Schwefel herabregnen lassen. Neulich ertappte ich mich dabei, wie ich bei ganz heiterem Himmel den Regenschirm aufspannte, so war ich hingerissen worden.«

»Ja, und wenn er dann wieder die Freuden des Paradieses beschreibt,« warf eine andere ein, »wie wir Schafe auf den himmlischen Fluren werden und die Böcke uns hilfesuchend anblöken. Ich weine dann immer vor Entzücken.«

»Er ist wirklich ein von Gott begnadeter Mensch,« meinte eine dritte.

»Ein mächtiges Werkzeug in der Hand Gottes,« rief eine vierte.

»Wie haben Sie es eigentlich gemacht, liebe Emmy, daß Mister Chalmers unsere Andachtsstunde besuchen will?« wandte sich eine der Damen an Emmy. »Seine Zeit ist doch sonst sehr in Anspruch genommen.«

»Ich traf ihn neulich auf der Straße,« antwortete Emmy. »Wir begrüßten uns als Jugendfreunde, und das Gespräch kam auf Hope, welche wir beide kannten. Er fragte mich, ob ich mich mit ihr schriebe, und als ich dies bejaht hatte, kam ich darauf zu sprechen, daß unser Andachtsklub überhaupt viel mit den Vestalinnen korrespondiere. Er war Feuer und Flamme, als er von unseren Zusammenkünften erfuhr. Er forschte über alles nach, wie wir die Stunde abhielten, welche Lieder wir sängen, und so bat ich ihn, ob er nicht einmal einer solchen mit beiwohnen wolle. Mit Freuden sagte er sofort zu. Aber auch für den Andachtsklub interessierte er sich. Er fragte, ob wir viele Krankenbesuche abstatteten, und riet mir hauptsächlich, durch Briefe auf die Seele Hopes zu wirken. Ferner, als ich ihm die Damen der ›Vesta‹ nannte, mit denen Sie korrespondieren, sagte er, er würde selbst –«

»Mister Chalmers wartet im Vorzimmer,« unterbrach die eintretende Kammerzofe die Sprecherin.

Die Teetassen wurden klirrend hingesetzt, Stühle genickt, und alles begab sich nach dem Zimmer, wo die Andachtsstunde abgehalten werden sollte. Nur Hedwig blieb zurück, langte sich erst noch von jenem Teller zu, welcher ihr wegen des besonders teuren und seinen Gebäcks nicht gereicht worden war, und entfernte sich dann durch die andere Tür nach ihrem Schlafzimmer, damit die Samenkörnlein, welche während dieser Stunde in ihr Herz gefallen waren, in Ruhe Wurzeln schlagen konnten.

In dem dunkel gehaltenen Vorzimmer mit brauner Tapete und Vorhängen wurde Mister George Chalmers von den versammelten Damen empfangen und nach flüchtiger Vorstellung durch Händeschütteln begrüßt.

Mister Chalmers war eine hohe, magere Gestalt mit bleichem, eingefallenen und bartlosen Gesicht, weißen Händen, schlanken Fingern und kurzgeschorenem Haar. Er mochte erst fünfundzwanzig Jahre zählen, doch machte sein Gesicht, wenn er die Lider über die Augen fallen ließ, was er fortwährend tat, den Eindruck eines Totenschädels. Er trug einen schwarzen Anzug und eine weiße Halsbinde und machte somit einen sehr salbungsvollen Eindruck, wie er sich überhaupt sehr bedachtsam und wohlüberlegt benahm.

Er war keine unangenehme Erscheinung, wenn sein bleiches Gesicht nur nicht einen so müden Ausdruck gehabt hätte. Für dieses Aussehen hatte man eigens eine Erklärung gefunden. Die für ihn schwärmenden Damen sagten, er habe sich »überbetet«.

Ohne weitere Umstände wurde die Andacht begonnen. Nach einigem Nötigen übernahm Mister Chalmers das Amt Emmys. Er sprach das Eröffnungsgebet, schlug das zu singende Lied vor, las den Text und erklärte ihn.

Wirklich, Emmy war gegen ihn ein Schulkind, wußte sie ihre Zuhörerinnen nur zu Tränen zu rühren so konnte Mister Chalmers nach Belieben unerschöpfliche Tränenströme hervorzaubern, sie wieder eintrocknen lassen und die Augen der Damen vor Freude über die Verheißungen aufleuchten lassen.

»Was für ein Mann!« flüsterte Emmy ihrer Nachbarin zu. »Und der hat als Kind alles gestohlen, was er liegen sah, erzählte mir meine Mama. Was vermag die Bekehrung alles aus dem Menschen zu machen!«

Das Schlußgebet war gesprochen, die Damen empfingen den Segen, die ausgespreizten Krallenfinger schwebten segnend über den Häuptern, dann erhob man sich und begab sich nach dem Teetisch zurück, an welchem Hedwig diesmal nicht zu erscheinen brauchte. Die Zahl vierzehn war voll.

Mister Chalmers war nicht nur ein frommer Mann, er war auch ein gewandter Weltmann; er wußte die Unterhaltung geschickt zu führen, ohne dadurch den Heiligenschein, der um sein Haupt schwebte, zu verletzen. So zum Beispiel verflocht er, als er aufgefordert wurde, von seinen Missionsarbeiten auf der Straße zu erzählen, diese Schilderungen immer mit interessanten Anekdoten über seine frommen Zuhörer, die Straßenpassanten, ohne jedoch im geringsten anstößig zu werden. Im Gegenteil, alles sah er nur von dem Gesichtspunkt aus, daß der unbekehrte Mensch schon hier auf der Erde verloren, der bekehrte Mensch das Kind Gottes sei, dem alles zum besten diene.

Hierauf schilderte er, wie er jüngst einen Kampf mit dem leibhaftigen Gottseibeiuns, der ihn in seiner Schlafstube besucht, siegreich ausgefochten habe, wie der böse Geist in Gestalt eines schwarzen Katers mit glühenden Augen zum Fenster hinausgeflüchtet sei, und lenkte dann das Gespräch auf den Briefwechsel der frommen Schwestern mit den Vestalinnen.

Hier kam er auf eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.

Alle Briefe wurden ihm vorgelesen – die Damen trugen stets den ganzen Vorrat bei sich. – Chalmers teilte heilsame Lehren daran, ließ sich die Schreiben zeigen, gab sie zurück, empfing neue, forderte die alten nochmals, um zu beweisen, daß die Vestalinnen von Woche zu Woche sich immer mehr den Pforten der Hölle näherten; er gab weise Ratschläge, wie man ihnen den Weg des Heils zeigen könne, und schließlich waren sich alle Damen darüber einig, daß die ›Vesta‹ unbedingt nächstens mit ihrer gottlosen Besatzung ins Meer versinken müsse, und mit ihr zugleich der ›Amor‹, damit die Herren und die Mädchen bis zum jüngsten Gericht in ihrer verwerflichen Gemeinschaft leben müßten, wenn nicht beide Schiffe mit vollen Segeln direkt in die Hölle führen.

Stunde auf Stunde verstrich, die Nacht kam, die Kutscher knallten unten ungeduldig mit der Peitsche, und noch immer erklärte Mister Chalmers aus den ihm gereichten Briefen die Sündhaftigkeit der Vestalinnen sowie der englischen Herren und prophezeite ihren baldigen Untergang.

Schließlich aber erklärte der heilige Mann, er müsse gehen, denn er habe noch in einer Straße, wo der Teufel ganz besonders zu hausen scheine, Traktätchen zu verteilen. Das ließ sich natürlich nicht verschieben. Die Damen verabschiedeten sich von Mister Chalmers, ihn bittend, recht oft, womöglich immer, der Andachtsstunde beizuwohnen, und fuhren dann in ihren Equipagen davon.»

Mister Chalmers nahm einen Mietswagen und fuhr nach jener Straße, in welcher, wie er sagte, der Teufel sein Quartier aufgeschlagen habe.

Darin hatte er recht, denn so einfach und solid diese Straße auch aussah, so war von ihr doch bekannt, daß gerade in ihr sich einige Häuser befanden, in welchen die jungen, leichtsinnigen Söhne der Geldaristokratie zusammenkamen und dem verbotenen Vergnügen des Hazardspieles huldigten.

Chalmers stieg am Anfang der Straße aus dem Wagen und schritt zu Fuß weiter. An einem sehr ehrbar aussehenden Hause blieb er stehen, klingelte und betrat durch die sich öffnende Tür das Innere.

Hier also wollte er sein Missionswerk, das Austeilen der Traktätchen beginnen. Wahrlich, den Bewohnern und Besuchern dieses Hauses tat es sehr not, Gottes Wort zu hören.

Er stieg eine Treppe empor. Niemand schien in dem Hause zu sein, aber aus einem Zimmer in der ersten Etage drang dem frommen Manne ein dumpfes Stimmengewirr entgegen.

Lauschend blieb er an der Tür stehen.

»Rot hat gewonnen,« hörte er eine Stimme drinnen ausrufen, »zehn, zwanzig, hundert Dollar. Richtig, meine Herren? Gut, setzen Sie weiter!«

Der Lauscher hörte ein seltsames Knistern – es war das Springen der Elfenbeinkugel in der Roulette. Drinnen wurde Hazard gespielt. Ha, wie wollte der, Mann Gottes diese Sünder andonnern, wie wollte er das Gold vom Tische werfen, den Roulettetisch umstürzen und diesen elenden, vom Teufel besessenen Menschen das Wort Gottes unter die Augen halten, daß sie erbleichten und in wilder Flucht die Spielhölle verließen! Aber er wollte sie nicht entkommen lassen, er wollte ihnen nach eilen und nicht ruhen, als bis sie erkannt, wohin ihre Seelen einst fahren würden, wenn sie nicht das Wort Gottes und den Heiland annähmen.

»Le jeu est fait, das Spiel ist gemacht,« hörte er wieder drinnen die Stimme rufen.

Klänge, als würden Goldstücke gezählt, wurde hörbar.

»Halt, das geht nicht, Spurgeon!« rief jemand, »Sie dürfen nicht mehr setzen.«

»Oho, warum nicht, Chalmers hat gestern auch noch tausend Dollar gesetzt.«

»Und sie verloren,« lachte ein anderer.

Da wurde die Tür geöffnet, der Mann Gottes trat herein.

»Chalmers!« riefen ihm alle entgegen. »Endlich. Wir haben mit Schmerzen auf Sie gewartet.«

Das Spiel ist die mächtigste Leidenschaft, aber so mächtig sie auch sein mag, sie war nicht stark genug, um diese Gesellschaft zu halten, als Chalmers eintrat.

Das Geld wurde vom Roulettetisch zusammengerafft und man umringte den Neuangekommenen.

Es waren sechs Herren, alle jung, aber in ihr Zügen stand geschrieben, daß sie die Kraft ihrer Jugend schon vergeudet hatten. Daß sie alle den feinsten Kreisen der Gesellschaft angehörten, verriet weniger die elegante Kleidung – die kann jeder anlegen – als vielmehr die nachlässig sicheren Bewegungen, die wohlgepflegten, goldfunkelnden Hände und die Sprache, wenn diese sich auch nicht immer in den gewähltesten Ausdrücken bewegte.

»Haben Sie Erfolge von Ihrer Andachtsstunde gehabt?« fragte einer der Herren Chalmers hastig.

»Natürlich,« antwortete dieser, ging an einen Nebentisch, füllte sich ein Glas mit Wein und stürzte es hinter. »Pfui Teufel, mir ist ganz weichlich geworden von all diesem Plärren, Singen und Beten! Der Teufel soll diese Betschwestern holen, auf der Straße zu sprechen ist mir tausendmal lieber. Doch ja, ich habe Erfolge gehabt. Hier, Kirkholm,« er zog zwei Briefe aus der Tasche, »sind zwei neue Handschriften, die eine davon ist sehr kraus, ich glaube, sie ist von der Murray. Werden Sie sie nachmachen können?«

»Ich danke,« lachte der Angeredete, der die Briefe prüfte, »ich habe schon andere Schriften als diese geschrieben. Sind das die einzigen, die Sie haben?«

»Ja, die anderen besitzen wir schon. Ich habe aber die Mädchen ermahnt, auch den anderen Vestalinnen zu schreiben, damit deren Seelen gerettet werden, und so kann ich Ihnen bald mehr Handschriften verschaffen.«

»Sonst noch etwas gehört, was die Vestalinnen machen?« fragte einer.

»Nichts Neues, was wir nicht auch schon wüßten,« antwortete Chalmers, »wir sind besser orientiert als die Damen.«

»Was nutzt uns das alles, so lange wir die Mädchen selbst nicht fest haben,« sagte ein Herr, »wir arbeiten und bereiten vor, und ich sehe schon, am Ende kommen sie doch wieder nach Hause, und wir stehen mit langer Nase da.«

»Das glaube ich nicht,« ließ sich da eine sonore Stimme vernehmen, »Wetten, wir, Spurgeon, daß die Mädchen innerhalb eines Monats verschwunden sind?« »Flexon!« riefen die Herren und umringten den hochgewachsenen Mann, der eben in das Zimmer getreten war und den Mantel abwarf.


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