Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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35.

Die Gesetzte der ›Vesta‹.

Nur selten kommt es vor, daß ein Dampfer, wenn er zum Dampfen fähig ist, die Fahrt unterbricht, auf offenem Meere still liegt, und noch seltener geschieht es, daß ein Segelschiff, dessen Takelage und Ruder in Ordnung sind, und welches auch nicht leckt, mit aufgerolltem Segel und festgebundenem Ruder auf dem Wasser schaukelt, ohne den günstigen Wind zu benutzen.

Dann muß gerade eine Arbeit vorliegen, bei der alle Kräfte der Mannschaft heranzuziehen sind, so daß kein Matrose mehr übrig ist, um das Schiff zu beaufsichtigen, wie gesagt, man trifft nur selten einmal auf ein solches stilliegendes Schiff.

Das Fahrzeug aber, welches mit eingezogenen Segeln und festgebundenem Ruder träge von dem frischen Winde getrieben wurde, hatte keine derartige Arbeit zu besorgen. Alles war in Ordnung. Niemand stand an Deck, um Beobachtungen der Wasserfläche oder des Meeresgrundes zu machen, keine Pumpen wurden gedreht, sondern alle die in Matrosenkostümen gekleideten Mädchen standen um den Hauptmast herum und hörten der Erzählung der Kapitänin zu.

Je länger sie sprach, desto unwilliger wurden die Mienen der Umstehenden. Laute der Entrüstung wurden hörbar, und nur sehr, sehr wenige gab es unter ihnen, welche an der Wahrheit der Rede ihrer Kapitänin zweifelten, sie kämpften noch mit sich selbst, ob sie deren Worten Glauben schenken sollten oder nicht.

Jedenfalls, sagten sich die wenigen, wollen wir nicht urteilen, ehe wir sie nicht selbst gesehen und ihre Verteidigung gehört haben, und wenn sie irgend einen genügenden Entschuldigungsgrund vorbringen könnte, so wollten sie, ihre Freundinnen, für sie mit aller Kraft eintreten.

»Führen Sie jetzt Miß Lind, wie sie sich nennt, vor,« sagte die Kapitänin zu einer Dame.

Diese ging und kam gleich darauf mit Johanna zurück.

Glaubten die Vestalinnen, eine schuldbewußte Person mit ängstlichem Gesicht und niedergeschlagenen Augen vor sich geführt zu bekommen, so hatten sie sich getäuscht. Noch nie trug Johanna den Kopf so hoch, die strahlten ihre Klugen in solch freudigem Glanze, wie jetzt, da sie sich wegen des an der ›Vesta‹ geübten Verrates verantworten sollte. Kein Zucken in ihrem Gesicht zeigte, daß sie irgendwelche Angst fühle vor Strafe; ruhig trat sie in die Mitte der einstigen Freundinnen, denen sie ansah, daß sie dieselben nicht mehr als solche betrachten dürfe. Nur auf wenigen Gesichtern konnte sie noch eine Spur von Teilnahme erblicken, alle übrigen sahen die Verräterin mit Haß oder Verachtung oder mit Abscheu an. Mit ernster Miene und Stimme begann die Kapitänin das Verhör, Teilnahme kannte sie nicht mehr.

»Haben Sie diese Nacht dem ›Amor‹ den Namens des Hafens zusignalisiert, welchen wir kurz vorher unter uns als unser nächstes Ziel ausgemacht hatten?« fragte sie Johanna.

»Ich habe es getan,« war die ruhige Antwort.

Ein Murmeln ging durch die Reihen der umstehenden, Johanna hatte ihr Vergehen gestanden, eine Entschuldigung war nicht mehr möglich.

»Warum?«

Johanna blieb die Antwort schuldig. Sie schien weder diese nochmals wiederholte Frage Ellens zu Hörens noch die Umstehenden zu bemerken, ihr braunes Auge war in die Ferne gerichtet, auf das blaue unendliche Meer, als sehne sie sich dorthin oder erwarte von dort Rettung.

»Wollen Sie meine Frage beantworten?« sagte Ellen, als sie nochmals vergeblich das »Warum« wiederholt hatte.

»Nein, es hat doch keinen Zweck,« entgegnete Johanna, die Augen wieder nach Ellen wendend. »Bestrafen Sie mich so, wie es die Gesetze der ›Vesta‹ für meinen Fall vorschreiben. Ich habe die Straft verdient und werde sie ohne Murren ertragen.«

Erstaunt hörten die Vestalinnen diese demütigen Worte; in den Herzen einiger stieg Mitleid wieder auf.

»So schnell geht das nicht,« sagte aber Ellen, »wir bestrafen Sie nicht, ehe wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Sie kennen doch übrigens den Paragraphen, nach dem wir Sie bestrafen müssen, wollen wir nicht selbst unser Wort brechen, und Sie kennen auch die Strafe, welche Ihrer harrt? Ich frage Sie deshalb, weil Sie die Sache sehr leicht zu nehmen scheinen.

»Ich weiß, was für eine Strafe ich zu gewärtigen haben.« antwortete Johanna ruhig.

Ellen ließ sich von einer Nebenstehenden ein Ledermappe reichen, nahm daraus einen Bogen Papier und las vor:

»Paragraph acht: Wer ein schon bestimmtes Reiseziel verrät, so daß es bekannt wird, oder überhaupt Mitteilungen über etwas macht, was zwischen Vestalinnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit ausgemacht wird, wird an den Mast gebunden, erhält so viele Geißelhiebe, als die Vestalinnen für gut befinden, und wird im nächsten Hafen an Land gesetzt.«

»Ist dies Ihre Unterschrift?« fuhr Ellen fort, Johanna das Papier hinhaltend und auf eine Stelle deutend.

»Es ist die meinige.«

Immer erstaunter wurden die Vestalinnen über das rätselhafte Benehmen Johannas, welche mit solcher Ruhe, ja Freudigkeit alles zugab.

»Einen Augenblick, Miß Petersen,« rief da Miß Thomson und trat vor Johanna, »gestatten Sie mir, einige Fragen zu stellen.«

»Johanna,« redete sie das Mädchen an, das Papier nehmend, »Sie haben sich hier mit Johanna Lind unterzeichnet. Ist dies auch Ihr wirklicher Name?«

Alle verstanden sofort, was Miß Thomson vorhatte. So schwach der Plan auch war, nach welchem Betty die Verteidigung der Angeklagten führen wollte, die Mädchen waren unter sich und nicht von einer höheren Gerichtsbarkeit abhängig. Doch war es möglich, daß Betty, welche unter den Mädchen das meiste Ansehen genoß, dadurch die Strafe Johannas lindern konnte. Sie wußte, daß einige, zum Beispiel Miß Murray und Nikkerson, auf ihrer Seite standen.

Aber Johanna war es selbst, welche diese keck aufgegriffene Verteidigung zu nichte machte.

»Ich habe mich Johanna Lind unterzeichnet,« entgegnete sie, »und dieses ist mein Name. Geben Sie sich keine Mühe, Miß Thomson, meine Strafe zu lindern. Ich habe sie verdient.« Bestürzt ließ Miß Thomson das Papier zu Boden fallen und blickte lange in die braunen Augen der vor ihr Stehenden..

»Johanna,« sagte sie dann leise, »warum wollen Sie sich denn durchaus ins Unglück stürzen? Merken Sie denn nicht, wie ich bemüht bin, Sie zu retten? Seien Sie doch nicht so trotzig! Ihre Lage ist wirklich! eine sehr ernste.«

Johanna ließ ihre Augen lange auf den Zügen der einstmaligen Freundin ruhen, die sie jetzt noch zu retten suchte. Ihr früherer Glanz erlosch plötzlich; tiefe Wehmut umschleierte sie, und dann füllten sie sich mit Tränen.

Aber kaum benetzten diese ihre Wangen, so schüttelte sie unwillig den Kopf, daß die Tropfen abgeschleudert wurden, und mit fester Stimme sagte sie:

»Ich will nicht gerettet sein, ich will bestraft werden, damit ich die ›Vesta‹ verlassen kann.«

Ihr Benehmen, ihre Worte waren den Vestalinnen unbegreiflich. Entweder hatten sie es hier mit jemanden zu tun, dessen Geist nicht ganz richtig war, oder ein Geheimnis lag vor.

Achselzuckend trat Miß Thomson zurück, ihren Freundinnen einen bedeutsamen Blick zuwerfend. Diejenigen, welche gehofft hatten, Johanna zu retten, gaben dies jetzt auf. Höchstens konnten sie die Strafe noch lindern.

»Wie ich schon sagte,« nahm Ellen wieder das Wort, »ich will erst wissen, ehe Sie bestraft werden, warum Sie den Namen des Hafens verraten, ob Sie dieses schon früher manchmal getan haben, und mit wem wir es eigentlich zu tun, wen wir so lange auf der ›Vesta‹ als Gefährtin beherbergt und als Freundin behandelt haben.«

»Bestrafen Sie mich!« sagte Johanna einfach. Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen auf derartige Fragen Antwort zu geben. Mein sehnlichster Wunsch ist nur, aus Ihrer Nähe entfernt zu werden und zwar sobald als möglich.«

Ellens Augenbrauen zogen sich finster zusammen.

»Gut,« sagte sie, »ich werde Sie nicht mehr fragen, sondern die Antwort auf eine andere Weise mir zu verschaffen suchen. Wer von den Damen damit einverstanden ist, die Papiere dieser Person zu untersuchen, welche uns verraten hat,« wandte sie sich an die Umstehenden, »bitte ich, die Hand zu erheben. Es steht zu erwarten, daß Miß Lind, wie sie sich nennt, nicht diesen einzigen Verrat ausgeübt hat, ja, daß sie sogar ganz andere Pläne verfolgte, als sie sich an Bord der ›Vesta‹ aufnehmen ließ.«

Die meisten Hände flogen in die Höhe; es war nicht nur Neugier, welche die Mädchen zu dem Wunsche veranlaßte, die Effekten Johannas zu untersuchen. War sie wirklich eine Detektivin, dann mußten sich interessante Tatsachen ergeben, dann war Johanna wahrscheinlich eine ganz gefährliche Intrigantin.

»Ein Zählen der Hände ist nicht nötig,« sagte Ellen, »nur wenige haben sie nicht aufgehoben. Bitte, holen Sie die Koffer von Miß Lind, welche deren Papiere enthalten!«

In kurzer Zeit kamen die fortgeschickten Mädchen wieder mit den Koffern Johannas, zu denen sich Ellen gestern abend von der Eigentümerin die Schlüssel hatte geben lassen. Diese selbst war nicht mehr in ihrer Kabine geblieben, sondern mißte gleich nach der Entdeckung in ein besonderes Gemach gehen, wo sie bis zum folgenden Morgen streng bewacht worden war.

Unter den abgesandten Mädchen befand sich auch Miß Morgan; diese trug eine kleine Stahlkassette.

Teilnahmlos sah Johanna zu, wie ein Koffer nach dem anderen durchsucht wurde, ohne daß man etwas anderes darin fand, als Kleidungsstücke und Andenken an die Reise.

»Die Papiere werden wohl in dieser Kassette sein,« meinte Miß Morgan und gab Ellen das stählerne Kästchen mit dem sorgfältig gearbeiteten Schloß.

Sie beobachtete dabei Johanna scharf, ebenso taten dies auch die anderen Vestalinnen, doch die Verdächtige zeigte keine Unruhe. Träumerisch blickte sie hinaus auf das blaue Meer.

Ellen suchte an dem Schlüsselbund und hatte bald den richtigen Schlüssel gefunden. Der Deckel sprang auf und den Blicken der Damen zeigte sich eine Menge zusammengefalteter Schriftstücke.

»Diese werden uns Auskunft über das geben,« sagte sie dabei, »was uns Miß Lind nicht sagen will.«

Sie setzte die Kassette auf ein Faß und begann, ein Schreiben nach dem anderen herauszunehmen, zu entfalten und durchzulesen.

»Ist dies Ihr Geburtsschein, welcher auf den Namen Johanna Lind lautet?« fragte sie dann.

»Ja.«

»Sie heißt also wirklich Johanna Lind und nicht Sharp,« flüsterten die Umstehenden.

»Nicht so schnell, meine Damen,« entgegnete Ellen, »hier ist ein Papier, welches von der Kriminalpolizei der Vereinigten Staaten für eine Miß Johanna Sharp ausgestellt ist und die Besitzerin dieses Papieres berechtigt, bei einem Sittlichkeitsverbrechen als Detektivin vorzugehen und bei den Behörden Hilfe zu requiriere». Sind Sie diese Miß Johanna Sharp?« wandte sie sich mit unheilverkündender Stimme an Johanna. »Sie haben mir zwar schon einmal gesagt, Sie heißen nicht Sharp, aber jetzt, da ich dieses Papier bei Ihnen gefunden habe, will ich dieselbe Frage noch einmal stellen.«

»Ich heiße auch Johanna Sharp,« entgegnete das Mädchen ruhig, »es ist ein angenommener Name.«

Rufe der Entrüstung wurden laut. So hatte Johanna also alle belogen, ihre besten Freundinnen getäuscht. Selbst diese konnten jetzt ihren Unwillen nicht unterdrücken. »Und Sie gestehen jetzt, daß Sie Detektivin sind?« fuhr Ellen fort.

»Ja, ich bin Detektivin von Beruf,« antwortete Johanna gleichgültig, ohne eine Spur von Aufregung zu zeigen.

Unter den Damen änderte sich das Urteil schnell. Die man eben noch für ein bescheidenes Mädchen gehalten, beschuldigte man jetzt als eine freche Person, ohne jedes Gefühl von Ehre.

»Und Sie befinden sich auf der ›Vesta‹ im Amte einer Detektivin?« fragte Ellen gespannt.

Johanna antwortete nicht mehr, ihre Augen waren wieder starr auf den blauen Ozean gerichtet.

»Nun, diese Papiere werden uns ja darüber aufklären,« sagte Ellen und fuhr mit dem Durchsehen der Schriftstücke fort. »Ein Papier ist für Miß Johanna Sharp, das andere für Miß Jan Sharp ausgestellt, alle aber zu dem Zwecke, daß sie als Detektivin jemanden beobachten soll. Hier ein anderes: Miß Johanna Lind, genannt Sharp, soll sich als Kammerzofe von einer vermeintlichen russischen Gräfin mieten lassen, behufs Beobachtung ihres Umganges. Aha, meine Damen, ich glaube, Sie haben Mister Anderson bitter unrecht getan, als Sie ihn mitten in der Wildnis dieser Person wegen fortjagen.«

»Wer konnte das ahnen?« riefen die Vestalinnen, deren Unwille von Minute zu Minute wuchs.

»Haben Sie die Kühnheit, jetzt noch zu leugnen, daß Sie die Schwester des berüchtigten Detektiven Nicoles Sharp sind?« wandte sich Ellen an Johanna.

»Ich hätte Ihnen nicht geantwortet, wenn Ihre Ausdrucksweise nicht eine ganz unziemliche wäre,« entgegnete Johanna. »Ich bin allerdings die Schwester des Detektiven Nikolas Sharp, aber mein Bruder ist unter diesem Namen nicht berüchtigt, sondern bekannt, und zwar ist er mit Männern befreundet, welche an Ansehen noch weit über Miß Petersen stehen.« »Genug,« sagte die Gereizte und wühlte mit zitternden Händen in der Kassette, »wir werden sehen, inwieweit sich Ihr Geschäft einer Detektivin mit der Ehre der ›Vesta‹ verträgt. Hier, was ist das?« rief sie plötzlich und betrachtete ein kleines Stückchen Papier. »Meine Damen, mir ahnt, daß wir auf etwas stoßen, was wir alle nicht vermutet haben. Hier steht zuerst mein Name, meine Adresse, die des Bankiers, der mein Vermögen verwaltet, und dahinter die Summe, wie hoch mich Miß Lind finanziell taxiert. Und ich bin wirklich erstaunt, wie weit es eine Detektivin bringen kann, denn die Zahl stimmt ganz genau. Aber nicht nur ich bin auf diesem Zettel vermerkt, der Name keiner einzigen Vestalin fehlt. Alle stehen darauf, ihre Adressen, Bankiers, Rechtsanwälte und so weiter, und hinter jeder steht ebenfalls eine Zahl, wahrscheinlich auch die Summe von Dollars angebend, über welche die betreffende Person zu verfügen hat. Hm, meine Damen, was meinen Sie dazu?«

»Fragen Sie die Angeklagte, was das zu bedeuten hat!« rief ein Mädchen aus der Menge.

»Wir wollen erst sehen, ob sich noch mehr Interessantes vorfindet,« antwortete Ellen und fuhr im Durchstöbern der Papiere fort.

Johanna beachtete weder die Entdeckungen Ellens, noch den in den Worten liegenden Hohn, noch die entrüsteten Ausrufe. Mit müdem Ausdruck starrte sie auf das Meer hinaus, wie ein Verbrecher, der seinem Richter überliefert ist, aber noch eine lange Rede anzuhören hat, dabei aber nichts sehnlicher wünschend, als daß diese beendet ist, und daß sich die schwere Kerkertür hinter ihm schließt.

Plötzlich erbleichte Ellen; ihre Hände zitterten noch heftiger als zuvor. Sie hielt einen Brief, dessen Adresse aus Lord Harrlingtons Feder stammte. Mit fest zusammengepreßten Lippen durchflog sie den Inhalt. Immer starrer hefteten sich die Augen auf dieses Papier, und dann warf sie Johanna einen Blick zu, in dem Zorn und Abscheu zugleich lagen.

»Also mit solchen Geschäften geben Sie sich auch ab,« bebte es von ihren Lippen – sie steckte den zusammengeballten Brief in ihre eigene Tasche, »eine Kupplerin haben wir zur Freundin gehabt. Pfui Teufel,« brauste sie plötzlich auf, »ich finde keinen Ausdruck, um diese Gemeinheit zu bezeichnen.«

»Ich weiß nicht, wodurch ich solchen Schimpf verdient hätte,« sagte Johanna, welche Ellen während des Lesens beobachtet hatte.

»Wie, Sie finden auch noch Entschuldigungen, um diese Gemeinheit bemänteln zu wollen?«

»Ich wüßte nicht, welcher Gemeinheit ich mich schuldig gemacht hätte,« war die ruhige Antwort. »Wie bezeichnen Sie das Geschäft einer Kupplerin?« fragte Ellen.

»Als gemein. Aber ich habe mich nicht mit Kuppele abgegeben.«

»Leugnen Sie nur!« lachte Ellen bitter. »Wir sind Ihre Lügen schon gewöhnt.«

»Verschonen Sie mich wenigstens mit solchen unbegründeten Vorwürfen,« sagte Johanna tonlos. »Sie müssen eingesehen haben, daß ich mich nicht entschuldigen will. Legen Sie mir die Strafe auf, welche ich verdient habe, und lassen Sie mich sonst in Ruhe. Unsere Wege werden sich nicht wieder kreuzen. Noch weiß ich einen Ort, wo es mehr Gerechtigkeit gibt, als auf der ›Vesta‹, und noch weiß ich eine Person zu finden, welche besser von mir denkt, als diese Damen, und insbesondere Sie, Miß Petersen.« –

»Das wird jedenfalls ein Detektiv sein, das glaube ich. Erst aber wollen wir weitergehen, was sich hier vorfindet. Nach diesem einen Beweise Ihrer Tätigkeit an Bord der ›Vesta‹ vermute ich, daß ich noch mehr finden werde. Ja, gewiß, hier sind sie schon.«

Ellen brachte ein ganzes Paket Briefe zum Vorschein, alle mit der Adresse Johannas versehen, aber alle in verschiedenen Handschriften geschrieben. Sie entnahm den Umschlägen die Briefe, und je mehr sie las, desto entrüsteter wurde sie, bis sie zuletzt einen unsagbaren Ausdruck von Zorn, Abscheu und Ekel zeigte.

»Meine Damen,« rief sie, ohne Johanna anzusehen, »ich wage kaum, Sie mit dem Inhalte dieser Briefe bekannt zu machen. Aber ich muß es tun, um Sie über den Charakter dieser nichtswürdigen Person aufzuklären. Es ist geradezu empörend, was Miß Lind unter der Maske der Freundschaft getrieben hat. Denken Sie sich nur, sie spielte zwischen Ihnen und den Herren des ›Amor‹ die Kupplerin, nicht nur zwischen mir und Lord Harrlington, sondern zwischen fast jeder von Ihnen und einem der Herren. Dadurch können Sie sich gleich einen schönen Begriff von diesen Herren machen. Dieselben tragen hier Miß Lind förmlich und höflich auf, jeder einzeln, ihn bei der betreffenden Dame, die er zu lieben vorgibt, in ein möglichst gutes Licht zu bringen, und bitten Miß Lind zugleich, ihnen mitzuteilen, ob Miß so und so günstig über ihn denkt. Kurz und gut, sie spielt die Rolle einer Kupplerin. Nun kann – –«

»Das ist nicht wahr!« schrie Johanna plötzlich dazwischen, und fast schien es, als wolle sie sich auf Ellen stürzen. »Nie habe ich derartige Briefe empfangen. Meine einzige Korrespondenz führte ich mit Lord Harrlington.«

Unter Ausrufen der namenlosesten Entrüstung sprangen einige Mädchen Johanna entgegen und hinderten sie, Ellen die Briefe zu entreißen. Ihre Glaubwürdigkeit war vollständig dahin.

»Schweigen Sie!« fuhr Ellen sie an. »Fügen Sie Ihren früheren Lügen keine neuen hinzu. Hier sind die Beweise,« sie hielt ihr die Briefe hin, »daß Sie mit fast allen Herren in Verbindung gestanden haben.«

»Diese Briefe sind gefälscht und mir untergeschoben worden,« entgegnete Johanna, die ihre Ruhe schon wiedergefunden hatte, fest.

»Haben Sie diesen Zettel geschrieben, der unsere Namen, Adressen und Vermögensverhältnisse enthält?«

»Ich habe ihn geschrieben, nicht aber jene Briefe empfangen, die Sie da halten.«

»Es ist gut. Kupplerinnen pflegen sich gewöhnlich gewissenhaft über die Vermögensverhältnisse derjenigen zu orientieren, welche sie an den Mann bringen wollen. Außerdem fragt Sie Lord Harrlington noch öfters in Briefen, wohin die ›Vesta‹ segelt, und es ist anzunehmen – –«

»Es ist nichts anzunehmen, sondern ich habe ihm wirklich stets mitgeteilt, welches unser nächster Hafen war,« unterbrach sie Johanna, »denn ich bin von Lord Harrlington engagiert und bezahlt worden, ebenso wie mein Bruder, bekannt als Nikolas Sharp, über Sie nach Kräften zu wachen. Machen Sie es kurz, Miß Petersen, fällen Sie Ihr Urteil, meine Damen, ich habe nur einen Wunsch, möglichst schnell bestraft zu werden, damit ich das Schiff verlassen kann, auf dem ich mit Ihnen, Miß Petersen, zusammenleben muß.«

Die Damen waren empört, nicht eine schien mehr gewillt zu sein, für Johanna Partei zu ergreifen.

»Es soll kurz gemacht werden, verlassen Sie sich darauf,« entgegnete Ellen. »Die Planken der ›Vesta‹ sollen nicht lange mehr von Ihren Füßen geschändet werden. Beantworten Sie zuvor nur noch einmal meine Fragen, damit alles in rechtmäßiger Form vor sich geht! Gestehen Sie, von Lord Harrlington dazu angeworben zu sein, immer den nächsten Hafen zu verraten, brieflich oder durch Signal, damit der ›Amor‹ der ›Vesta‹ folgen kann?«

»Gestehen Sie, überhaupt den Herren, oder ich will sagen, Lord Harrlington alles verraten zu haben, was zwischen uns gesprochen wurde?«

»Nein, sondern nur das, was ich ihm zur Sicherheit Ihrer Person zu sagen für nötig hielt.«

»Gut, es ist dasselbe. Ich will mich nicht länger damit aufhalten, da Sie die Sache ja so schnell als möglich erledigt haben wollen. Glauben Sie, daß eine dieser Damen ein persönliches Vorurteil gegen Sie hegt? In diesem Falle müßten wir erfahren, warum Sie dies glauben, die betreffende Dame könnte eventuell als Richterin ausgeschlossen werden.«

Einen Augenblick zögerte Johanna. Ihr Blick streifte Miß Morgan, deren Augen den ihren begegneten, aber sofort gesenkt wurden.

»Nein,« sagte Johanna, »ich bin mit allen Damen als Richterinnen einverstanden.« »Meine Damen,« wandte sich Ellen an die Vestalinnen, »die Strafe der Miß Lind besteht darin, daß sie an den Mast gebunden, gegeißelt und im nächsten Hafen an Land gesetzt wird. Nun kommt es darauf an, zu entscheiden, wieviel Peitschenhiebe sie empfangen soll.«

»Halt!« rief Johanna. »Gewähren Sie mir eine Bitte!«

»Sprechen Sie,« sagte Ellen, hoffend, daß Johanna um Gnade bitten würde, da sie sich über den Gleichmut der zu Verurteilenden schon immer geärgert hatte. Sie fühlte plötzlich einen wahren Haß gegen Johanna.

»Geißeln Sie mich, so lange es Ihnen beliebt,« war die kalte Antwort, »meinetwegen bis zum Tode, aber verlangen Sie nicht, daß ich auch nur eine Minute länger an Bord dieses Schiffes bleibe, welches Sie befehligen. Geißeln Sie mich, und geben Sie mir dann ein Boot, in dem ich mich von der »Vesta»entfernen kann, oder ich schwöre es Ihnen, ich springe über Bord.«

»Tun Sie das,« hätte Ellen fast erwidert, aber sie unterdrückte diese Bemerkung und sah sich fragend im Kreise der Damen um.

»Nein, das können wir nicht erlauben,« sagte Miß Nikkerson, energisch eintretend. »Wir sind Hunderte von Meilen von Land entfernt, ein Aussetzen gliche einem Morde, Johanna – Miß Lind hat diese Strafe nicht verdient, und ich gebe meine Stimme nicht dazu her.«

Die Mädchen traten außer Hörweite Johannas zusammen und berieten sich, es ging heftig dabei zu, eine Gegenpartei entstand, aber sie unterlag.

»Geißelung und Aussetzung im nächsten Hafen,« teilte Ellen der Schuldigen nach Schluß der Beratung mit.

»Sie wollen mich also nicht sofort aussetzen?« rief Johanna verzweifelt. »Gut denn, so erkläre ich Ihnen hiermit öffentlich, ich habe auch das Gelübde der Keuschheit gebrochen.« Wie erstarrt vernahmen die Vestalinnen diese Worte, dann aber machten sie ihrer Entrüstung Luft in Schmähungen über die Ehrlose.

Da stürzte Miß Thomson auf Johanna zu.

»Sind Sie denn wahnsinnig, Johanna?« rief sie unter Tränen, »Sehen Sie denn nicht, wie ich und einige Freundinnen uns bemühen, Sie vor dem schrecklichen Schicksale zu bewahren, das Sie bedroht? Und, Vestalinnen,« sie wandte sich zu den Damen um, mit einem Gesicht, daß die ihr zunächst Stehenden entsetzt zurückwichen, so schrecklich blitzten ihre Augen, »bei Gottes Tod, allen Gesetzen der ›Vesta‹ zum Trotz, erkläre ich hiermit, daß niemand auch nur eine Hand heben wird, um Johanna zu schlagen.«

»Sie haben die Gesetze unterschrieben,« unterbrach Ellen sie zornig, mit purpurrotem Gesicht.

»Wohl habe ich es getan, aber ich werde mein Wort nicht halten, und sollte auch ich fernerhin für eine ehrlose Person gelten, Johanna war nicht nur meine Freundin, sie hat sich auch wie eine solche betragen, und nimmer werde ich dulden, daß man sie schlägt, weil sie etwas getan hat, was mit ihrem Pflichtbewußtsein nicht im Einklang stand. Niemals, sage ich, und wer es wagt, Johanna zu nahe zu treten, bekommt es mit mir zu tun.«

»Und mit mir,« erklang es noch von vier Stimmen, und Miß Murray, Miß Nikkerson und zwei andere Mädchen stellten sich schützend vor die Bedrohte.

»Nun, wer will Johanna an den Mast binden? Der Weg zu ihr geht über uns.«

Ellen ward aschfahl, aber sofort gewann sie ihre Fassung wieder.

»Meine Damen, ich lege das Kommando als Kapitänin der ›Vesta‹ nieder. Da.« sie zerriß das Papier, welches die Gesetze der ›Vesta‹ enthielt, »die ›Vesta‹ hat aufgehört, zu existieren.« Da war es wieder Johanna, die in die wie gebannt dastehende Masse, welche, etwas Entsetzliches fürchtend, kaum zu atmen wagte, Leben brachte.

Ihre Kraft war gebrochen, weinend stürzte sie Miß Thomson zu Füßen und umklammerte deren Kniee.

»Betty,« schluchzte sie, »haben Sie wenigstens Erbarmen mit mir! Begreifen Sie denn nicht, daß ich nur von hier fort will, nur fort, fort von diesem Schiffe, auf dem ich ein fluchwürdiges Dasein gelebt habe. Geben Sie mir ein Boot, nur ein Boot, ohne Segel, ohne Kompaß, ohne Ruder, ohne Proviant, ohne Wasser, nur ein Boot, in dem ich die ›Vesta‹ verlassen kann. Haben Sie Erbarmen mit mir, Betty!«

Sie sprang auf und stürzte nach einem kleinen Boote, riß die Taue ab und ließ es ins Wasser.

»Halten Sie ein!« rief Betty und sprang zu ihr. »Sie sind nicht bei Sinnen!«

»Ich bin's, ich weiß nur das eine, daß ich von hier fort muß! Helfen Sie mir, ich bitte, ich beschwöre Sie, bei unserer Freundschaft, helfen Sie mir, daß ich ins Boot komme. Ich werde den Weg an Land finden, und finde ich ihn nicht, so soll es mir auch gleich sein, aber helfen Sie mir, ins Boot zu kommen!«

Es lag so eine tiefe Verzweiflung in dem Tone des Mädchens, daß Betty ihr unwillkürlich gehorchte. Sie loste das Tau und ließ mit Hilfe einer anderen Dame das Boot ins Wasser, während die übrigen drei, welche zu Johanna gehalten, schon Segel, Riemen, Kompaß und Proviant getragen brachten.

Auch sie mußten dem Verzweiflungsrufe gehorchen; wie ein Zwang lag es auf ihnen allen, die Bitte der Unglücklichen zu erfüllen.

»Ich danke Ihnen,« sagte Johanna und wollte sich schon über die Bordwand schwingen, um ins Boot zu steigen, als Miß Thomson sie noch einmal zurückhielt.

»Sprechen Sie,« drang Betty in sie. »Sie sind nicht so schuldig, wie Sie scheinen und scheinen wollen. Sie haben eine Feindin, welche Sie verleumdet. Sprechen Sie, noch ist es Zeit, alles wieder gut zu machen. Zahlen Sie auf mich. Haben Sie eine Feindin unter uns, die Sie vernichten will?«

Johanna ließ die Augen im Kreise herumwandern, bis sie denen von Miß Morgan begegneten.

»Haben Sie eine Feindin?«

Johanna wollte etwas sprechen, aber tonlos bewegten sich nur die Lippen, kein Wort ward hörbar.

»Johanna,« drängte Betty, »so sprechen Sie doch nur!«

»Nein, ich habe keine Feindin,« sagte sie endlich.

»Aber Sie sind unschuldig, Sie sind keine Detektivin?«

»Ich bin Detektivin,« entgegnete Johanna und richtete sich, auf der Bordwand stehend, hoch auf, »aber ich bin unschuldig, und so gewiß, wie ein Gott über uns wohnt, werden Sie meine Unschuld noch erfahren, später oder schon hier auf Erden!«

Wie schwörend hob sie die Hand zum Himmel empor. Atemlos lauschten ihr die Vestalinnen, es war ihnen allen, als hörten sie eine Prophetin sprechen.

»Und auch Sie, Miß Petersen,« fuhr Johanna fort, »werden einst noch einsehen, was für Unrecht Sie mir zugefügt haben, mir, der treuesten Freundin, die Sie je gehabt haben. Auch Sie werden einst noch erkennen, welches Unrecht Sie Lord Harrlingtou getan haben, diesem edlen Menschen, der Tag und Nacht für Sie sorgt, der: mich beschworen hat, Sie wie meinen Augapfel zu behüten, dem ich in die Hand geschworen habe, nicht von Ihnen zu weichen, und wenn es meinen Tod herbeiführen solle. Wohl bin ich Detektivin und als solche, Ihrer kleinlichen Meinung nach, eine verwerfliche Person, aber denken Sie daran, was ich Ihnen sage: einst werden Sie es bitter bereuen, mir solche Schmach zugefügt zu haben, und wünschen, alles ungeschehen zu machen. Und dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich edler denke, als Sie, ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie eingesehen haben, daß ich ganz ausschließlich nur Ihretwegen mich zur Spionin erniedrigt habe, weil ich Mitleid mit Lord Harrlington fühlte. Schon längst hätte ich meinen Posten mit einer Lage vertauschen können, in der ich die Glücklichste aller Sterblichen gewesen wäre, aber ich habe sie ausgeschlagen, weil ich Lord Harrlington helfen wollte, seinen Schatz zu behüten, doch nun kann ich nicht mehr, meine Kraft ist zu Ende, ich gehe vom Nord der ›Vesta‹ als eine Ausgestoßene, doch die Zeit wird vielleicht bald kommen, da Sie, Miß Petersen, mich mit Freuden wieder bewillkommen werden.«

Johanna richtete sich noch höher auf, sie streckte die Arme, und ihre Stimme klang feierlich.

»Ich sehe in die Zukunft; meine Ahnung trügt mich nie. Um Ihretwillen, Miß Petersen, müssen alle diese Mädchen noch viel Ungemach erdulden, und nicht eher werden Sie befreit werden, als bis Sie Ihr Unrecht eingesehen haben und geläutert wurden. Bis dahin hoffen Sie nicht, Glück auf Ihrer Reise zu haben, mit mir verläßt dasselbe die ›Vesta‹. Nicht ein Fluch soll es sein, mit dem ich scheide, ich will Sie nur auf die Zukunft vorbereiten.«

Sie winkte noch einmal freundlich Miß Thomson zu und sprang dann ins Boot.


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