Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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16.

Die Wasserhose

Das Glück zürnte der ›Vesta‹. Ellen hatte gesagt, es sei ihnen bis jetzt immer günstig gewesen, und so stünde zu erwarten, daß es auch bei einer langen Reise den Vestalinnen treu bliebe. Diese Worte hatte Fortuna, die launische Göttin, übelgenommen; sie wollte den übermütigen Mädchen die alte Wahrheit beweisen, daß derjenige, der das Glück erwartet, vergebens darauf hofft. Fortuna sprach mit Aeolus, dem Gott der Winde, und der war ihr willfährig.

Sein Machtgebot erscholl; gehorsam hörte der Nordwind auf zu wehen, mit dem die ›Vesta‹ unter schwellenden Segeln den Hafen von Wellington verlassen hatte; der Ostwind löste ihn ab, und die Folge davon war, daß die Mädchen fortwährend kreuzen mußten und doch nur sehr langsam von der Stelle kamen.

Am dritten Tage mußte dieser Wind seine Kraft erschöpft haben, er wurde immer schwächer und hörte schließlich ganz auf. Bewegungslos lag die ›Vesta‹ auf der spiegelglatten Wasserfläche; nicht einen Zoll kam sie von der Stelle, ebenso der ›Amor‹, in einer Entfernung von einigen hundert Metern, so daß man die Personen auf ihm mit einem guten Fernrohr erkennen konnte. Der gleichzeitig abgefahrene Blitz war außer Sicht gekommen.

Lord Harrlington hatte sich erboten, die ›Vesta‹ von dem ›Amor‹ schleppen zu lassen, aber eine abschlägige Antwort erhalten. Die Vestalinnen wollten einmal die wohltätige Ruhe einer Windstille erleben.

Es war auch wirklich schön: das Meer so glatt, der Himmel so blau und die Sonne warm, aber nicht drückend. Kein Lüftchen bewegte sich; eine Flaumfeder schwebte senkrecht auf das Deck nieder.

Vier Tage dauerte die Windstille, innerhalb einer Woche konnte die ›Vesta‹ also fast gar keine Reiseroute aufweisen, die paar tausend zurückgelegter Meter waren nicht zu rechnen.

Die Damen beschäftigten sich fast den ganzen Tag nach ihrem Belieben. Zu tun war nichts, denn die ›Vesta‹ war ja frisch gemalt und mit neuer Takelage aus dem Dock hervorgegangen. Man las, musizierte, angelte, arrangierte Spiele und unterhielt sich; Langeweile konnte unter den jungen Mädchen nicht aufkommen, und wenn die Windstille noch so lange gedauert hätte.

Die befreundeten Mädchen saßen im Schatten eines Sonnensegels an Deck und unterhielten sich über die schrecklichen Zustände, welche eine langanhaltende Windstille unter der Besatzung eines Segelschiffes bewirken kann. Miß Nikkerson hatte eben in einem Seeroman eine Windstille geschildert gefunden und erzählte ihren Freundinnen das Gelesene.

Einem Segelschiff drohte der mitgenommene Vorrat an Trinkwasser auszugehen, schon war die Mannschaft auf halbe Rationen gesetzt worden, alle Speisen, welche mit Wasser gekocht werden mußten, wurden vermieden, an Waschen in Süßwasser war nicht zu denken – in Salzwasser kann man nicht mit Seife waschen – und die Stunden und Minuten wurden ausgerechnet, nach denen man bei dem schwachen Winde den nächsten Hafen zu erreichen hoffen könnte. Da hörte auch dieser auf, eine vollkommene Windstille trat ein.

Die halben Rationen wurden in Viertel verwandelt, sie reichten schon nicht mehr aus, den Durst der von der Sonne fast gebratenen Matrosen zu stillen, sie murrten gegen den Kapitän, denn sie wußten wohl, daß die beiden Fässer am Eingange zu seiner Kajüte noch mit Trinkwasser gefüllt waren. Aber der Kapitän wollte diese noch nicht angreifen lassen, er und seine ihm treu ergebenen, wie auch vernünftigen Offiziere hüteten sie, wie einen Schatz und ließen sie Tag und Nacht nicht aus den Augen, denn schon hatte man von den Matrosen Andeutungen gehört, daß sie nicht neben einem vollen Wasserfaß verschmachten wollten.

Schließlich waren die Mannschaftsfässer leer, die Windstille währte fort, und der Kapitän mußte die beiden letzten Fässer dem Gebrauch übergeben. Er war ein gerechter Mann, aber er mußte sich den Matrosen gegenüber grausam zeigen, will er ihr Leben und das seinige retten – das Wasser wird in noch kleineren Quantitäten ausgegeben; kaum genügt es noch, den trockenen Gaumen zu erfrischen.

Mit bleiernen Gliedern, glanzlosen Augen und furchtbar aufgesprungenen Lippen liegen die Matrosen an Deck herum, nicht mehr energisch genug, den glühenden Strahlen der Sonne aus dem Wege zu gehen. Ihr einziger Blick gilt den beiden Wasserfässern dort hinten, und ihr einziger Gedanke ist, trinken, trinken und trinken! Davon träumen sie Tag und Nacht, im Schlafe vermeinen sie, sie badeten sich in frischem Wasser, und in vollen Zügen könnten sie das köstliche Naß hinunterschlürfen; erwachen sie dann, so verzehrt sie ein brennender Durst. Die Schwächeren bekamen schon Anfälle von Delirium.

Und dort hinten stehen die Fässer, genug Wasser enthaltend, um noch einmal völlig den Durst löschen zu können. Was kümmern sich die Verschmachtenden darum, was später erfolgt, jetzt, gerade jetzt wollen sie Wasser haben!

Die Matrosen bedenken nicht, daß der Kapitän und seine Offiziere ebenso leiden, wie sie selbst; sie sehen in ihnen nur Tyrannen, welche ihnen das Wasser vorenthalten, mit eiserner Entschlossenheit, unerschüttert durch eigenen Durst. Demjenigen, der mit wildem Blick an sie herantritt und mit frechen Worten mehr Wasser fordert, wird kaltblütig der Revolver entgegengehalten.

»Greif die Pumpe an, und du bist eine Leiche!«

Diese Worte erklingen stündlich aus dem Munde des Kapitäns; nur denen, welche wirklich vor Wassermangel dem Tode nahe sind, gestattet er eine größere Ration; er kann sogar freigebig damit umgehen, gilt es, ein Leben zu retten.

Unter den Matrosen entsteht ein leises Flüstern, mit geballten Fäusten und rotunterlaufenen Augen hocken sie in Gruppen zusammen.

»Wenn der Kapitän mit dem ersten Offizier in die Kajüte geht, um die Lage zu berechnen, und der zweite Steuermann die Fässer allein bewacht, dann ist es Zeit. Gebt acht auf den Pfiff,« so geht es von Mund zu Mund, und die Zunge leckt schon gierig über die Lippen, welche sich bald mit frischem Wasser benetzen sollen.

Der Kapitän nimmt mit dem ersten Steuermann die Sonne auf und geht dann in die Kajüte, um auszurechnen, ob das Schiff nicht von einem günstigen Strom erfaßt worden ist, der es dem Lande zuführt. Der zweite Steuermann, die Hand in der Tasche, in welcher der Revolver steckt, sitzt auf einem der Wasserfässer.

Da wird er plötzlich von hinten mit der Kraft der Verzweiflung umschlungen, er liegt überwältigt an Deck, und gleichzeitig springen die Meuterer nach der Kajütentreppe, um die beiden Offiziere ebenfalls unschädlich zu machen.

Aber diese haben bereits durch das heftige Laufen und Stampfen an Deck gemerkt, daß nicht alles richtig ist; ahnungsvoll eilen sie nach oben und treffen, aus der Tür kommend, mit den Meuterern zusammen.

Sie können keinen Gebrauch mehr von Revolvern machen, wenn sie auch wollten; nach heftigem Ringen liegen sie gebunden an Deck.

Die Matrosen sind die Tyrannen los, wie eine Meute entfesselter, wilder Tiere stürzen sie jetzt nach den Fässern, ergreifen die Pumpen und wollen sich den köstlichen Inhalt gleich in den Mund fließen lassen, aber in ihrer Gier geht es ihnen so, wie den Haifischen, welche sich um eine Beute streiten.

Der Stärkere glaubt sich durch Kraft berechtigt, seinen Durst zuerst löschen zu können, schonungslos stößt er den Schwächeren von der Pumpe, aber auch er kommt nicht zum Trinken, denn zwei Schwache ziehen ihn, der schon den Mund unterhält, zurück, und das Wasser fließt nutzlos an Deck – es ist im verkleinerten Maßstabe ein Bild von der Gesellschaft, welche ohne jedes Oberhaupt leben zu können glaubt.

Ueber eine Stunde währt dieser Kampf um die Wasserfässer, dann sind sie leer. Aber die wenigsten haben etwas getrunken, die meisten gar nichts. Gesättigt ist niemand, und die ausgetrockneten Planken saugen begierig das ausgeflossene Wasser auf, welches die gierig lechzenden Jungen nicht mehr aufnehmen konnten.

Niemand hat darauf geachtet, daß die Sonne sich plötzlich verdunkelt hat, als zürne sie dem Treiben dieser Menschen, welche durch rohe Gewalt und nicht zu bändigende Leidenschaft die Vorsicht und Vernunft besiegt haben.

Erst ein greller Blitz, ein gewaltiger Donner und der durch die Takelage sausende Windstoß lassen die Matrosen die Augen aufheben, und jetzt erkennen die Unglücklichen, daß sie nur noch eine Stunde zu warten gehabt hätten, um nicht als Meuterer, sondern als freie und ehrliche Menschen weitersegeln zu können.

Der ganze Himmel ist mit einer schwarzen Wolke bedeckt, er öffnet seine Schleusen und sendet das ersehnte Naß in Gestalt von Regen herab – die Mannschaft ist vom Tode des Verschmachtens errettet.

Aber auch noch etwas anderes erblicken die Matrosen, was ihre Herzen mit Schrecken erfüllt. Dort segelt ein Kriegsschiff ihrer Nation heran, und dort liegen die mit Blut bedeckten Offiziere, von ihren eigenen Leuten gebunden. Sie durchschneiden die Banden der Gefesselten, werfen sich vor ihnen auf die Kniee und flehen um Gnade, bitten um Verzeihung, ja, halten selbst die Hände hin, um als Meuterer jenem Kriegsschiff dort ausgeliefert zu werden.

Der Kapitän gibt keinen Befehl, das Kriegsschiff heranzurufen, aber er ordnet an, über das ganze Deck große Segel auszuspannen und so den Regen aufzufangen, der bald alle Wasserfässer gefüllt hat.

Vergeben und Vergessen! Die Matrosen des Schiffes waren immer treue und brave Burschen gewesen, auf die sich der Kapitän in Gefahr verlassen konnte. Aber was ist jede andere Gefahr gegen das drohende Gespenst des Verschmachtungstodes? Ruhig segelt das Kriegsschiff vorbei, und mit strahlenden Augen und freudigem Herzen folgen die Matrosen den Befehlen des menschlichen Kapitäns, setzen die Segel und richten das Ruder des Schiffes, das sie bald dem nahen Hafen zuführen wird. –

»Schrecklich,« sagte Miß Thomson, als ihre Freundin die Erzählung geschlossen hatte. »Dieser Fall spielte in früheren Zeiten. Was meinen Sie, Miß Petersen, können solche Fälle auch jetzt noch vorkommen?«

»Warum nicht?« antwortete die Gefragte. »Die jetzigen Segelschiffe führen auch nicht mehr Trinkwasser mit sich als früher, und auch jetzt kann es noch vorkommen, daß ein Schiff wochen-, ja monatelang segelt, ohne einem anderen zu begegnen. Von der Größe des Meeres können wir uns eben keine Vorstellung machen. Jetzt liegen wir zum Beispiel schon drei Tage an dieser Stelle, welche noch eine ziemlich besuchte ist, und doch haben wir, außer dem ›Amor‹ noch kein einziges Schiff zu sehen bekommen.«

»Nun, bei uns kann ein solcher Fall, Gott sei Dank, nicht eintreten,« meinte ein anderes Mädchen, »die ›Vesta‹ ist ja auf ein Vierteljahr reichlich mit Trinkwasser versehen, und bis dahin würden wir doch ein Schiff erblicken, oder es würde einmal regnen.«

»Fordern Sie das Schicksal nicht heraus!« sagte Ellen ernst. »Auf dem Meere kann man keine derartigen Rechnungen mit Bestimmtheit anstellen; der Wind, das Wetter und das Meer sind unberechenbar. Auch die Segelschiffe früherer Zeit waren immer reichlich mit Trinkwasser versehen. Daß damals solcher Wassermangel öfters eintrat, lag daran, daß sämtliche Wasserfässer an Deck angebunden lagen und es oft geschah, daß sie über Bord gespült wurden. Jetzt liegen die eisernen Tanks, in denen das Wasser aufbewahrt wird, im Zwischendeck, und die Gefahr ist somit verringert worden. Aber dennoch kommt es häufig vor, daß Besatzungen von Schiffen aus Mangel an Wasser zu Grunde gehen.«

Ellen hatte recht; Meer, Wind und Wetter sind unberechenbar, es können Ereignisse eintreten, welche man nicht für möglich hält, so unglaublich klingen sie. So kam im Jahre 1889 eine deutsche Barke mit fast schon verhungerter Mannschaft in Hamburg an, und doch war sie nur von Schottland nach Deutschland gesegelt. Zu dieser an sich kleinen Fahrt hatte sie nicht weniger als zwei Monate gebraucht, sie konnte kreuzen, wie sie wollte, stets drehte sich der Wind gegen das Schiff, es begegnete keinem anderen, das den ausgegangenen Vorrat an Lebensmitteln ersetzen konnte. Und wenn so etwas in der kleinen Nordsee passiert, wie leicht dann erst auf dem unendlichen Ozean!

»So lange der ›Amor‹ bei uns liegt, haben wir derartiges nicht zu fürchten,« ließ sich ein Mädchen vernehmen, »die Herren können mittels der Kessel Salzwasser destillieren und sich somit jede Quantität Trinkwasser verschaffen.«

»Da fällt mir eine andere Geschichte ein, welche der von Miß Nikkerson erzählten ähnelt,« nahm Ellen wieder das Wort. »Ein Steuermann, welcher selbst mit dabei war, hat sie mir erzählt. Die Geschichte ist eigentlich auch entsetzlich, aber sie hat einen humoristischen Ausgang, und diesen letzteren will ich besonders schildern, den ersten Teil hingegen nur flüchtig erwähnen.

»Ein englisches Segelschiff befand sich auf der Reise nach Rio, an der Ostküste von Südamerika. Das Wasser drohte ihnen auch auszugehen, aber sie befanden sich nicht mehr weit ab von ihrem Ziele und hofften, es bald zu erreichen. Da tritt jedoch Windstille ein, und die Leiden der Mannschaft beginnen, indem sofort nur halbe Wasserrationen vom Kapitän verabreicht werden. So, wie unsere Freundin eben geschildert hat, war es auch hier. Entsetzlich, ringsum von Wasser eingeschlossen zu sein, mit starrem Auge das Spiel der Fluten verfolgen zu können und doch zu wissen, daß es nicht trinkbar ist. Die Qualen des Durstes begannen sich schon zu zeigen, als in der Ferne zur unaussprechlichen Freude aller ein Dampfer auftauchte. Er fuhr dicht an dem Segelschiff vorüber, so nahe, daß eine Verständigung auch ohne Sprachrohr möglich war.

»Die Unglücklichen baten um Wasser, und was war die Folge dieses Wunsches? Kapitän und Mannschaft des brasilianischen Dampfers brachen in ein lautes Lachen aus.

»Nur ein einziges Faß mit Wasser«, flehten die englischen Matrosen, welche jene Brasilianer für grausame Menschen hielten, die für fremdes Elend kein Erbarmen hatten.

»Schöpft einen Eimer Wasser aus dem Meere, und trinkt euch satt,« rief der brasilianische Kapitän immer noch lachend.

»Eine solche Unmenschlichkeit konnten die Engländer nicht fassen, sie glaubten, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Tut nur so,« wiederholte der Kapitän des sich entfernenden Dampfers, »Ihr schwimmt auf süßem Wasser.«

»Ein englischer Matrose folgte endlich diesem Rate, ließ einen Eimer über Bord, füllte ihn mit Wasser und kostete – es war völlig trinkbar.

»Das Segelschiff befand sich nicht weit von der Mündung des Amazonenstromes,« schloß Ellen ihre Erzählung, »des mächtigsten Stromes der Erde. Er schickt seine Fluten meilenweit hinaus ins Meer, und so kommt es, daß, noch ehe das Land zu sehen ist, das Meerwasser nicht mehr salzig, sondern wirklich trinkbar ist. So wäre die Besatzung des Schiffes beinahe vor Durst verschmachtet, obgleich sie überall von trinkbarem Wasser umgeben war.«

Es wurden noch mehr ähnliche Fälle von Windstillen und damit verbundenen Gefahren erzählt, von denen die nicht die geringste ist, daß jeder Windstille gewöhnlich ein heftiger Sturm folgt.

»Sehen Sie dort,« rief Ellen und deutete nach Westen, »wie merkwürdig gelb sich der Himmel mit einem Male färbt! Wir bekommen einen ordentlichen Wind, vielleicht sogar Sturm; aber was schadet der, wenn er aus einer günstigen Richtung weht! Wir wollen dann die versäumte Zeit bald wieder eingeholt haben.«

»Aber dort im Osten sieht es ebenso schwefelgelb aus,« bemerkte Miß Nikkerson.

»Wirklich,« rief Ellen überrascht, »darauf hatte ich nicht geachtet.«

»Dann bekommen wir schließlich von beiden Seiten Wind,« meinte Hope Staunton.

»Der Fall kann auch einmal eintreten,« entgegnete Ellen, »aber wir wollen es nicht hoffen, denn dann treten immer heftige Wirbelwinde auf, welche den Schiffen sehr gefährlich werden können.«

»Wie ist das nur möglich, daß der Wind von zwei Seiten zugleich kommen kann?« fragte ein Mädchen.

»Sehr einfach,« entgegnete Ellen, welche in solchen Sachen bewandert war. »Wenn auf eine windstille Gegend die Sonne lange gebrannt hat, so erhebt sich die heiße Luft infolge des physikalischen Gesetzes, daß die warme Luft leichter ist, als die kältere, es entsteht also ein Raum, in welchem Luft fehlt, und von den Seiten strömt kalte Luft hinzu. Sind nun zum Beispiel alle vier Seiten – man muß hier allerdings mit Entfernungen von Tausenden von Meilen rechnen – gleich kalt, so weht der Wind eben von allen vier Seiten zugleich, sonst aber strömt die Luft nur aus den kälteren Teilen zu. Im Mittelmeer zum Beispiel kann man sogar häufig beobachten, daß auf einer Seite Westwind, auf der anderen Ostwind weht, daß also zwei Schiffe mit vollen Segeln, beide mit dem Winde, aneinander vorüberfahren, und das oft in ganz geringem Abstande voneinander. Doch wir müssen Vorbereitungen treffen,« unterbrach Ellen ihre Erklärung und erhob sich von dem bequemen, mit Segeltuch überspannten Liegestuhl, »allem Anscheine nach bekommen wir bald Wind, vielleicht sogar sehr heftigen, und den wollen wir nach besten Kräften ausnutzen. Hoffen wir, daß es ein Westwind ist!«

Noch regte sich nicht das geringste Lüftchen, und doch zogen fern am westlichen Horizont schwere Wolken auf, und zwar mit einer Schnelligkeit, welche darauf schließen ließ, daß dort schon heftiger Wind wehte.

Alle hätten diese Erscheinung mit größter Freude begrüßt, versprach sie doch günstigen Wind, wenn nicht am östlichen Himmel dasselbe auch zu sehen gewesen wäre. Auch dort erschienen Wolken, leichte, aber desto mehr, und daher kam es vielleicht auch, daß sie noch schneller herauschwebten.

Eine aufregende Stimmung bemächtigte sich der Mädchen. Es war unheimlich, sich so zwischen zwei Winden, vielleicht sogar zwischen zwei Stürmen zu wissen, gegen welche alle Segelmanöver und Ruderwendungen nichts halfen. Leicht konnte es geschehen, daß dann das Schiff wie ein Spielball hin- und hergeschleudert wurde.

Auch die Temperatur hatte sich geändert. Es herrschte nicht mehr Hitze, sondern eine drückende Schwüle.

Ein Sturm selbst wäre den Vestalinnen lieber gewesen, als hier mitten zwischen zwei Stürmen, bewegungslos zu liegen – es war ein ganz unbeschreiblich beengendes Gefühl.

»Was geschieht dann, wenn beide Winde aus verschiedenen Richtungen zu wehen beginnen?« fragte Hope die Kapitänin. »Sie können doch nicht beide gleichzeitig bestehen bleiben.«

»Nein, das können sie nicht,« entgegnete Ellen, »es ist wie überall in der Natur, selbst wie bei uns Menschen, der Schwächere muß dem Stärkeren weichen. Es wird ein förmlicher Kampf um die Herrschaft stattfinden, und wir wollen nur hoffen, daß der Kampfplatz nicht gerade hier gewählt wird, sonst kann es uns schlimm ergehen. Schön dagegen wäre es, wenn wir dem Ringen der beiden Winde um die Herrschaft aus sicherer Ferne zusehen könnten, es muß dies sehr interessant sein.«

Die Besatzung des ›Amor‹ hatte die Erscheinungen am Himmel ebenfalls bemerkt. Kapitän Harrlington ließ die Kessel heizen, und bald dampfte die Brigg an die ›Vesta‹ heran, welche noch immer bewegungslos dalag.

»Miß Petersen,« rief Harrlington hinüber, »wir bekommen Gegenwinde, welche stets von heftigen Wirbeln begleitet sind und sehr gefährlich werden können.«

»Ich weiß es,« entgegnete Ellen gelassen.

»Sollen wir in der Nähe der ›Vesta‹ bleiben?«

»Das können Sie tun, aber in gehöriger Entfernung, damit nicht eine Kollision zwischen den Schiffen erfolgt. Das wäre das Allergefährlichste.«

Harrlington dirigierte den ›Amor‹ wieder zurück und blieb in weiter Entfernung wieder still liegen; wie der dem Schornsteine entsteigende Qualm verriet, lieh er die Kessel weiterfeuern, um jeden Augenblick manöverierfähig zu sein.

Noch immer herrschte vollkommene Windstille, doch die Wolken kamen schnell näher, und jeden Augenblick war zu erwarten, daß ein heftiger Windstoß durch die Takelage pfiff, nicht allmählich, sondern plötzlich, der Vorbote des zu erwartenden Sturmes. Nun kam es darauf an, aus welcher Richtung er wehte.

Ellen ließ keine Segel setzen. Was hätten diese jetzt schon genutzt, da man nicht wußte, mit welchem Winde man es zu tun haben würde? Aber sie ließ alles vorbereiten, um die Raaen sofort zu richten und die Segel entfalten zu können.

Die Mädchen brauchten nicht mehr lange zu warten, die Entscheidung kam bald.

In der Ferne, vom Westen her, rollte mit riesiger Schnelligkeit eine Woge daher, nicht hoch, aber dafür so breit, als das Auge reichte.

»Hol' an die Backbordbrassen!« kommandierte Ellen, »Ruder hart Steuerbord, wir haben Gegenwind!«

Es war so, wie Ellen sagte. Noch ehe die Welle das Schiff hob und wieder senkte, hatte ein leichter Windstoß die von den Mädchen schnell entfalteten Segel erreicht, die ›Vesta‹ drehte gehorsam den Bug dem Norden zu und nahm die Fahrt auf. Der ersten Woge folgten unzählige andere, und mit ihnen setzte ein Windstoß nach dem anderen ein, aber sie kamen aus der Richtung, wohin die ›Vesta‹ wollte, aus Osten, und blieb der Wind so, dann hatte die ›Vesta‹ wieder unablässig zu kreuzen, kam also nur sehr langsam von der Stelle.

»Noch kann es sich ändern,« rief Ellen. »Der Ostwind trifft noch mit dem Westwind zusammen; glücklicherweise ist der Zusammenstoß nicht hier erfolgt, sonst waren wir in den Wirbel gekommen. Seien Sie auf der Hut, noch ist die Gefahr nicht vorüber!«

Da plötzlich, wunderbar, hörte der eben noch so starke Wind wieder auf; wie durch einen Zauberschlag glättete sich das Meer; aber die Ruhe war eine unnatürliche, die Mädchen fühlten, was für ein gewaltiger Druck in der Atmosphäre herrschte, er benahm ihnen völlig den Atem.

Aber diese Stille war nur um sie herum; weit, weit in der Ferne, im Westen, war sie nicht vorhanden. Mit bloßen Augen konnten die Mädchen erkennen, wie die beiden entgegengesetzten Winde, wie Giganten, um die Herrschaft rangen.

Dort war das Meer keine ruhige Fläche mehr, es schäumte, kochte und brodelte überall, wie in einem Höllenschlund, der Gischt schlug bis zum Himmel empor, für das menschliche Auge gar nicht mehr erreichbar, und in diesem Wasserschaum ließ die Nachmittagssonne Regenbogenfarben schillern.

Es war ein schönes Schauspiel für den, der die Gefahr nicht kannte, welche es in sich barg.

»Die Wirbel,« schrie Ellen, »sie nähern sich!«

Auf ihr Kommando stiegen die Mädchen wieder in die Takelage, die Brassen wurden gewendet, das Ruder gedreht und alles bereitgemacht, die entgegengesetzte Richtung einschlagen zu können, denn daraus, daß dieser Wasserstrudel sich ihnen langsam näherte, schloß Ellen, der Westwind habe die Herrschaft über seinen Nebenbuhler erhalten.

Wirklich, ein schwacher Windstoß kam schon aus Westen, und er genügte, der ›Vesta‹ die neue Richtung zu geben.

»Noch mehr solchen Wind,« rief Ellen freudig, »und die ›Vesta‹ fliegt wie eine Möwe davon. Dann mögen die Wirbel kommen, sie können uns nicht mehr erreichen.«

Ihre Freude war eine voreilige.

Wohl setzte jetzt ein gleichmäßiger, wenn auch schwacher Westwind ein, der die ›Vesta‹ vor sich hertrieb, aber der inzwischen näher gekommene Wasserbrodel zeigte sich noch immer, ein Zeichen, daß der Kampf der beiden Winde noch immer nicht ausgefochten war.

Der Ostwind setzte alle seine Kräfte daran, den Nebenbuhler zu verdrängen, aber sichtlich mußte er diesem weichen.

Da plötzlich ballte sich jener gleich Wasserdämpfen anzusehende Gischt zu einer kompakten Masse zusammen, der ganze Brodel konzentrierte sich auf einen Punkt; alles drehte und kreiste wie ein Strudel, und mit einem Male entstand eine Säule, aus Wasser zusammengesetzt, sie wuchs und wuchs immer höher und höher, bis sie in den Wolken zu verschwinden schien – die Wirbelwinde hatten eine Wasserhose erzeugt, jenes rätselhafte Gebilde, welches sich wie eine Säule über der Meeresfläche halten kann.

Aber die Wasserhose blieb nicht stehen.

Der Westwind hatte gesiegt; er behielt das Feld; der Ostwind war zurückgedrängt und hatte plötzlich aufgehört.

Mit furchtbarer Gewalt kam jetzt der Westwind einhergebraust, und vor sich her trieb er die Wasserhose, die sich mit entsetzlicher Schnelligkeit gerade auf die ›Vesta‹ zu bewegte. Wohl zehn Meter unten im Durchmesser, nach oben zu sich verjüngend, die in den Wolken befindliche Spitze weit vornübergeneigt, aber vom Druck des Windes doch noch gehalten, so durchrollte sie die 1000 Meter Entfernung, welche sie noch von der ›Vesta‹ trennte.

Wohl jagte das Schiff, wie von Furien gepeitscht mit bis zum Bersten geschwellten Segel dahin, aber es war doch unfähig, dem Ungetüme zu entgehen, das es mit dem Untergang bedrohte.

Das Meer zeigte wohl hohe Wellen, aber im Gegensatz zu der Wasserhose erschienen sie klein.

»Die Geschütze nach hinten,« schrie Ellen.

Eiligst kamen die Mädchen der Aufforderung nach; auf der schwankenden ›Vesta‹ wurden die Revolverkanonen nach hinten geschafft und schon unterwegs geladen.

Es ist ein altes Mittel, mit dem sich die Seeleute gegen eine sie bedrohende Wasserhose wehren, indem sie mit Kanonenkugeln auf die Säule schießen; es gibt nichts anderes, um sie zu zerstören. Es gelingt zwar nicht immer, sie durch die Lufterschütterung zum Zusammenstürzen in sich selbst zu bringen – aber Ellen wollte es doch versuchen, obgleich die kleinen Granaten wenig Erfolg versprachen. Höchstens, daß mit vollen Kugeln die selbe Wirkung erzielt wurde.

Noch waren die Revolverkanonen nicht aufgestellt worden, als schon von dem gleichfalls unter vollen Segeln fahrenden ›Amor‹ Schüsse fielen.

Noch zeigte sich keine Wirkung, näher und näher kam das unheimliche Wassergebilde, die ›Vesta‹ mit sicherem Untergange bedrohend, da aber knallten auf beiden Schiffen mehrere Kanonen gleichzeitig, die Spitze der Wasserhose senkte sich, sie fiel herab, und im nächsten Augenblicke stürzte die Säule zusammen.

Wohl wallte das Meer ungeheuer auf, die ›Vesta‹ wurde erst auf einen Berg von Wogen gehoben und dann wieder in ein Tal geschleudert, aber die Gefahr war vorüber.

Mit der Wasserhose zugleich war ein noch stärkerer Wind herangekommen, der die Säule vor sich hergetrieben hatte – aber er war doch kein Sturm zu nennen – der günstigste Wind, den sich die Vestalinnen hätten wünschen können, denn er gestattete, mit allen Segeln zu fahren, und kam direkt von hinten.

Ellen war außer sich vor Freude.

Jeder Lappen Leinwand wurde beigesetzt, die Masten und Raaen ächzten unter der schweren Last; das Schiff flog wie eine Seemöwe über die schäumenden Wogen, oft schien es förmlich aus dem Wasser herauszuspringen.

»Wir fahren schneller, als der ›Amor‹,« rief Ellen, »er kann uns selbst mit Hilfe der Maschine nicht folgen. Seht, wie er sich anstrengt!«

Auch der ›Amor‹ fuhr mit allen Segeln, und dem dicken Rauche sah man an, wie sehr die Heizer unten die Kessel feuern mußten, aber er war an Fahrgeschwindigkeit doch nicht diesem schlanken Vollschiff gewachsen, das in seiner ganzen Bauart nur auf Schnelligkeit berechnet war, wenigstens nicht unter diesen Verhältnissen.

Wie es manchem Kapitän ärgert, wenn er seinen Dampfer von einem Segler überholt sieht, so auch hier. Unwillig sahen die Herren, wie die ›Vesta‹ gleich einem Pfeil an ihnen vorüberflog, und sie konnten doch nichts tun, die Schnelligkeit des ›Amor‹ zu vergrößern.


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