Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Die Geheimnisse des Salons Goldschmied

So weit die Akten reichen, beschäftigen sie sich mit der unerlaubten Liebe, seit eh und je wollte die hohe Obrigkeit strenger sein als Gott, der Adam und Eva ohne priesterlichen Segen und ohne Standesamt zusammen leben ließ, immer war ein hochwohlweiser Magistrat bemüht, die Erbsünde aus der Welt zu schaffen, die Gott geschickt hat. Hunderte der vergilbten Pergamente im Prager Stadtarchiv erzählen vom Kampf gegen die Prostitution, Bewilligungen und Verbote wechseln, Schließung und Öffnung von Freudenhäusern, Bestrafungen und Verwarnungen.

Militius von Kremsier, ein Vorläufer des Johannes Hus und der Heilsarmee, konzentrierte die Prager Dirnen in einem Heim »Jerusalem« auf der Altstadt, sie zu bekehren. 1483, im Stiftungsdokument des Rejczekschen Studentenkonvikts, wird den Kollegiaten mit der Relegation gedroht, wenn sie fürderhin »amasirum vel meretricum« besuchen sollten. Die öffentlichen Häuser trugen einen Hahn als Wappen, und »Hahnpaß«, »Hahnbeiß« oder tschechisch »Hampejs« nannte man sie. Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts wird ihre Sperrung verfügt, in der Polizeiordnung des Jahres 1527 weist man den Zehentmeister an, darauf zu achten, daß kein Gastwirt leichtfertigen Frauenspersonen Unterkunft gebe. Die Prostitution geht auf die Straße, und Historiograph Lomnicky beklagt sich, man könne in Prag die Dirnen von anständigen Frauen nicht unterscheiden, während zum Beispiel in den pfälzischen und schweizerischen Städten Huren, Juden und Henker durch einen gelben Fleck an den Kleidern kenntlich seien.

Überdies gibt es, dem Verbot zum Trotz, ganze Ansiedlungen von Huldinnen, vorerst außerhalb der Stadt, hinter dem Baumgarten, hinter den Koschiřer Weinbergen und in Smichow, oft werden die Mädchen vom Stadtrichter ausgehoben und am Strick nach Prag geführt; die Bürgerfrauen, die zufällig vorübergehen, mustern neugierig, die würdigen Ehemänner mit versteckt lüsternem und ostentativ verächtlichem Blick die angebundenen Arrestantinnen. Der Koschiřer Gemeindeangehörige Johann Pulpit, gegen den die Anzeige vorliegt (Prager Stadtarchiv, fol. 122), daß er 1581 dem Stadtrichter mit dem Schwerte nacheilte, ihm die am Halfter geführte Buhlerin zu entreißen, selbiger Johann Pulpit aus Koschiř ist ein romantischer Held, wenn nicht gar ein Revolutionär. Sympathischer ist er jedenfalls als die Masseuse Susanna des Altstädter Königsbads, die Wenzels IV. Majestät in einem Kahn vor den Aufrührern rettete, wofür die Zunft der Badehuren als ehrlich erklärt ward und einen Eisvogel als Wappen erhielt.

Seit langem waren im Weichbilde Prags gleichfalls verrufene Häuser entstanden, ein Akt des Landtagsarchivs vom Jahre 1518 befaßt sich mit dem unsittlichen Gewinn, um dessentwillen es so weit gekommen sei, daß es in Prag »kaum ein Haus gibt, in dem nicht solche verdächtige Frauenspersonen zu finden seien«. Trotzdem haben die Inwohnerinnen eine öffentliche Mission, Vollstreckerinnen der bürgerlichen Moral zu sein: Sie holen gefallene Mädchen und sündige Witfrauen (falls selbige an ihrer Familie keinen Schutz finden) aus deren Heim ab, stecken ihnen einen Strohzopf an und führen sie – den Verlust der Ehre auf Kupferschüsseln austrommelnd – in das Frauenhaus als neue Kollegin ein; manchmal setzen sich die derart Eskortierten mit Messern zur Wehr und entweichen. Gegen zwei Juden wird 1547 Klage erhoben: die standen vor dem Dobřichovskyschen Hause und lockten Männer zu einem Mädchen namens Anička, das sie durch Wegnahme der Kleider an der Flucht gehindert hatten.

Als schlimmste Kupplerin von Prag wird Anno 1587 eine gewisse Knobloschek genannt: Sie prügelt ihre Dirnen, nimmt ihnen alle Einnahmen weg, läßt ihnen nicht einmal das übliche Viertel des Liebeslohnes und hält sie, indem sie ihnen die Gewänder verschließt, bei sich fest. Halbnackt stürzen die Ärmsten einmal auf die Straße und wehklagen, daß es »in diesem Hause ärger ist als im höllischen Feuer«. Zur Strafe für solche Untaten wird die Hurenmutter (Johannes Hus bezeichnet in seiner »Postille« die Inhaberin dieses Amtes mit dem deutschen Wort »Hoffart«, das Volk nannte sie »Harapanice«) im erwähnten Jahr ertränkt.

Rudolfs II. Prager Hofhaltung und die vielen Fremden bringen die Prostitution zur Blüte, die Buhldirnen werden jetzt auch in den Akten »Damen« genannt, und ein Kaufvertrag ist uns erhalten, laut dem »das hochgeborene Fräulein Magdalena Minkwitzow von Minkwitz« um vier Dukaten von einer Kupplerin an die andere als Dame veräußert wird.

Vom »Mäuseloch« auf dem Frantischek, der Kupplerin Alena gehörig, vom »Teppich«, vom »Königshof« bei der Zeltnergasse und von mehreren Häusern an den Stadtmauern und Stadttoren ist Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Kriminalprotokollen die Rede. An der Stelle, wo heute die Nikolander-Realschule steht, war das Haus des Tobias Nejedly, von dem ein Gerichtszeuge aussagt, »daß es in ganz Prag kein Haus gibt, wohin die Gäste wegen solcher Ungebühr kommen, als wie sie hier beim Nejedly herrscht«; aber nicht deshalb kam Tobias Nejedly vor Gericht, sondern weil er eines Abends den Herren von Wartenberg und Ritter Vinzenz Žampach das Tor nicht öffnen wollte und sie beschimpfte, als sie es mit einem Balken aufzusprengen versuchten. Der Adel war von alters her eine gute Kundschaft der Bäder und Kuppeleihäuser, besonders des Nachtlokals »Zur Kanzlei« in der Gasse »Na Slovanech«, wohin wohlriechende Mädchen in sauberen Mänteln kamen und die welschen Höflinge Rudolfi Secundi, ja sogar ein bayrischer Herzog »Kanzleibesuche« machten. Einige Aristokraten hielten selbst Bordelle; das schöne Laubenhaus, das der Theinkirche auf dem Ring vorgebaut ist, gehörte dem Herrn von Slawata, der es von einer berüchtigten Kupplerin namens Rachatschek verwalten ließ. Die Terzkys erbten dieses Frauenhaus an der Kirche und lösten es auf; als der Stadtrichter Tischler Mathias die Dirne Polyxena von hier wegführte, rief sie von der Straße ihrer Hauswirtin zu: »Elende, du hast so viel Geld für mich eingeheimst, gib mir wenigstens meine Hemden heraus.« Ganz öffentlich vollzog sich der Besuch der Lokale. »Leute kehrten bei hellem lichtem Tage ein, vornehme Herren mit goldenen Ketten, Herrschaften, Beamte, Offiziere.« Die Adeligen ließen ihre Pferde vor dem Tore stehen, Knechte hielten diese, und die Nachbarn beobachteten aus den Fenstern den Betrieb.

Als aus dem Getto hinaus durfte, wer mochte, und da Verbleiben beinahe ein Zeichen von Armut war, zogen die Freudenhäuser in den dunkelsten Stadtteil, in das »fünfte Viertel Prags«. Und mehrten sich. Über den schmalen Eingängen baumelte eine Laterne mit bunten Scheiben, »Salon Nr. . . .« stand darauf, vor den mit schmutzigen Vorhängen bedeckten Fenstern des Erdgeschosses war eine Blechtafel mit der verlockenden Aufschrift »Sodová voda dra Zátky«, hinter den Stores lugten geschminkte Frauen im Nachtgewand hervor, lockten durch Klopfen und Winken die männlichen Passanten oder steckten die Zunge heraus, wenn Frauen oder Schulknaben neugierig guckten. Es war eines der seltsamsten Mysterien des an Mysterien wahrlich überreichen Prager Gettos, daß in den Häusern, in denen die Prostitution so aufdringlich betrieben wurde, Judenfamilien in fanatischer Frömmigkeit und intensivster Zusammengehörigkeit lebten: Die dünnen Wände trennten Welten und Weltanschauungen voneinander. Sogar an Synagogen schmiegten sich Kaschemmen, wie zum Beispiel der Salon Dvořak in der Pinkasgasse.

In den Jahren 1900 bis 1905, als Beil und Spitzhacke der alten Judenstadt ein Ende machten, mußten zweiundsechzig »Salons« hier ihre bunten Glastüren schließen, um sie in anderen Gegenden Prags wieder zu öffnen. Im Seminargäßchen, das längs des Klementinums von der Karlsgasse zum Marienplatz führt, im Břetislawgäßchen oberhalb der Welschen Gasse auf der Kleinseite war fast jedes Haus ein öffentliches; auch der bekannte Kunstsammler und »Dreschflegelaktionär« Neumann hatte hier das Parterrelokal seines Hauses einem Bordell eingeräumt, nur um seine Verwandten zu ärgern und von einem Besuch bei ihm abzuhalten. Das gefürchtete Soldatenbeisel »Zur blauen Nudel« auf dem Kleinseitner Karlsplatz wurde in zahllosen Marschliedern der Achtundzwanziger besungen. Die Besitzerin des »Salons Kisch«, Ziegengasse Cons.-Nr. 826 (später am Zderas), hielt auf Ehre und Reputation und veröffentlichte bei passendem Anlaß in den Zeitungen, sie sei mit dem Schriftsteller E. E. K. weder verwandt noch verschwägert. »Im niedrigsten Bordell Prags« (seine Zimmer waren nur anderthalb Meter hoch) im Borschhofgäßchen wurde am 19. Januar 1918 ein Raubmord verübt. Das im zweiten Stock von Nummer 965 des Kotzengäßchens gelegene »Hamet« (vormals Brückner und Flaschner) ward durch den Tod eines hohen Beamten berühmt. Nur durch einen labyrinthartigen Gang war »Belgien« zu erreichen, Smichower Burschen verdienten ihren Lebensunterhalt, indem sie Neulingen den Weg wiesen. Leonhardiplatz Nr. 109 im Barockgebäude »Zum blauen Löwen« lebte der »Salon Dessort«, wohin Detlev von Liliencron mit Oskar Wiener kam und wo er für seinen »Poggfred« den Vers verfaßte: »Auch saß ich sehr vergnügt im Blauen Löwen – die Wolken flitzten drüber hin, wie Möwen«; der Salon Dessort vegetierte später in der Fischmarktgasse; als die Räume solideren Zwecken dienstbar gemacht werden sollten, stürzte das Gemäuer ein. In dem beängstigend schmalen Gäßchen »U Vokenice« beim Königshof war das Lokal des Herrn Sekač, der eine seltsame Vorliebe für Napoleon Bonaparte hatte und alle Wände mit dessen Bildern schmückte, so daß seine Wirtschaft unter dem Namen »Napoleon« populär wurde. In der Benediktgasse hielt sich der »Salon Schuha« auch noch nach dem Tode seines Gründers, Herr Koutsky (außerdienstlich schrieb er sich Kaucký und war nicht mit sich identisch) hingegen überlebte die Demolierung seiner beiden Häuser im Saazer Gäßchen und in der Plattnergasse noch lange, und als er starb, gaben ihm die Geistlichkeit, Vereine in corpore und das Schützenkorps von der Weinberger Kirche aus ein pompöses letztes Geleit.

Das berühmteste oder, wenn man will, berüchtigteste Etablissement hat den Umsturz nicht lange überdauert: der »Salon Goldschmied« in der Gemsengasse, international unter dem Kosenamen »Gogo« bekannt.

Das »Bürgerliche Haus zum Roten Pfau im Gemsengäßchen, Neuer Nummer 243«, das laut Eintragung in den »Zweiten Band der Prager Stadtbücher vom Altstädter Hauptviertel« von seinem Erbauer Anno 1804 um viertausend Gulden an Andreas Trägner verkauft worden war, erstand im Kriegsjahre 1866 Herr Emanuel Goldschmied. Er begann daselbst, ohne bei den Behörden um die Befugnis eingekommen zu sein, ein offenes Haus zu führen. Die Ämter, durch Kriegsgefahr und Truppenzusammenziehungen in Anspruch genommen, legten dem feuchtfröhlichen Unternehmen – unter anderem wurde dort Wein und Kaffee ausgeschenkt – keine aktenmäßig nachweisbaren Hindernisse in den Weg. Herr Emanuel Goldschmied, früher Trödler, fuhr nun im Zweispänner, Brillantringe bedeckten seine Finger, er erschien in einem Bankgeschäft, um Hundertpfundnoten zu wechseln, und die Prager Bürger munkelten, im Keller des Goldschmiedschen Hauses sei ein reicher Lord erschlagen und beraubt worden. Man hatte nämlich einige Wochen hindurch in der Mittagsstunde einen Engländer mit grauem Zylinder und Backenbart täglich vor dem Goldschmiedschen Haus in einen Fiaker steigen und binnen einer Stunde (wahrscheinlich nach eingenommener Mahlzeit) zurückkehren gesehen, plötzlich aber war er verschwunden, ohne daß die lebhaft interessierte Nachbarschaft von einer Abreise des Fremden etwas bemerkt hatte. Auf Grund der Gerüchte erschien am 7. Juli 1866 eine Polizeikommission, um der Sache nachzugehen. Man untersuchte vom Dachboden bis zum Keller alle Räume und verhörte Besitzer und Personal auf das eingehendste, fand jedoch keine Spur eines verübten Mordes. Der Engländer hatte tatsächlich dort gewohnt und war, nachdem er seine Zeche von elfhundert Gulden österreichischer Währung anstandslos beglichen, nach Monatsfrist abgereist. Zweifel der Behörden mußten verstummen, als »Preciosa, recte Anna Kulhánková«, die Favoritin des Fremden während seines Prager Séjours, einen liebesglühenden Dankbrief vorwies, den er ihr erinnerungsschweigend aus Dresden gesandt hatte und in dem er baldige Rückkehr versprach. Die Polizeiorgane mögen sich bei diesem Besuch wohl überzeugt haben, daß der Betrieb den langwierigen und kostspieligen Aufenthalt eines Engländers und das Versprechen seiner Wiederkehr rechtfertigte, und Herr Goldschmied erhielt zwar wegen unbefugten Verschleißes von Waren und Ausschanks geistiger Getränke eine Geldstrafe von vierhundert Gulden, aber das nicht in feindseliger Absicht, denn bereits am 1. September 1866 wird ihm das Recht zur Ausübung eines freien Handels nach § 38 der Gewerbeordnung verliehen.

Das größte Geschäft brachte dem jungen Unternehmen der Aufmarsch der Truppen zum Kriege, dann aber ihr Zurückfluten und die Besetzung Prags durch die Preußen. Wie früher die sächsischen und österreichischen Offiziere Stammgäste des Nachtlokals im Gemsengäßchen gewesen waren, wurden es nun die preußischen. Und es ist interessant, zu erfahren, welch organisatorischen Einfluß die Preußen auf das keimende Leben dieses Hauses genommen haben: Während bisher die Annahme einer Einladung zum Tête-à-tête von dem Geldbetrag abhängig gemacht war, den der Gast dem Mädchen oder dem Inhaber gesprächsweise zugesagt hatte, verlangten die Preußen nunmehr, daß diese »echt österreichische Schlamperei« abgeschafft und eine Einheitstaxe eingeführt werde. Zunächst wurde ein Betrag von drei Gulden (beziehungsweise ein Taler) festgesetzt. Es war natürlich dem Ermessen des Gastes anheimgestellt, der Dame außerdem ein Geschenk zuzustecken (am Wiener Kaiserhof wurde dies »Strumpfgeld« genannt), jedoch sollen die Preußen von diesem Rechte fast niemals Gebrauch gemacht haben, wenn man der alten Blažena glauben darf, die vom ersten bis zum letzten Tag bei Gogo Köchin gewesen ist, in diesen dreiundfünfzig Jahren viel geschaut und viel erlebt und viel Versuchungen an sich herankommen gesehen hat; denen zum Trotz ist sie auch als Virgo immatriculata eine Virgo immaculata geblieben, und bei ihren ehernen Prinzipien steht zu erwarten, daß sie ihre volle Unschuld draußen bewahrt hat, als sich der Siebzigjährigen die Pforten endlich öffneten, um sich den anderen zu verschließen.

Den Erinnerungen der alten Blažena, Wahrerin der Gogo-Tradition, ist es zu danken, daß der Besuch eines hohen Offiziers im Frauenhaus beim Karolinum nicht in Vergessenheit geriet. So schildert Blažena seinen Eintritt in das Freudenhaus: »Jo, Panečku, er war in Zivil, aber alle haben ihn gleich erkannt – no jo, so ein Kerl, er war so groß wie ein Kandelabr – wissen Sie, die preußischen Offiziere sind aufgesprungen, wie wenn man ihnen die Rockschöße angezündet hätte. Da hat er zu ihnen gesagt – seine Worte hab ich mir gemerkt, jedes Wort und genau den Ton! – ›Setzen S' Ihne nur wieder, meine Herren‹ – das hat er genau so gesagt, ich erinnere mich sehr gut, aber die Herren sind alle stehen geblieben wie . . .« (Hier gebrauchte Jungfer Blažena einen Vergleich, der nicht wiederzugeben ist.) »Und dann hat der General gesagt: ›Ich bin ja auch nicht von Holz‹, und nach einer Weile ist er aufs Zimmer gegangen, mit der Luise zuerst, und dann ist er wieder heruntergekommen und hat mit der Peptscha gesprochen, die war ganz außer sich vor Respekt und hat ihm immerfort ›Herr Oberkommissär‹ gesagt, und dann ist er mit der Peptscha hinaufgegangen und dann mit der Ophelia – sechsmal war er auf dem Zimmer, und die Offiziere haben die Augen aufgerissen, wie er immer wieder hinaufgegangen ist und heruntergekommen – schon vom Treppensteigen hätten einem anderen die Beine weh tun müssen! – wir haben ja so hohe Stufen, aber er ist gestiegen, wie wenn er zwanzig Jahre alt wäre – und die Offiziere haben gesagt: ›Der ist wirklich nicht von Holz, der ist ja von Eisen‹, und alle haben gelacht; am nächsten Tag waren sie wieder bei uns und haben nur vom ›Eisernen‹ gesprochen, und der Name ist ihm geblieben, aber er ist nicht wiedergekommen. Schade, ein so feiner Gast: Sechsmal war er auf dem Zimmer.«

Ein als noch ehrenvoller empfundener Besuch war, ein Menschenalter später, der eines Erzherzogs, der als Oberleutnant bei den Lothringer Dragonern in Brandeis an der Elbe stand und oft nach Prag fuhr. Im Kreise seiner Kameraden im Hotel de Saxe kam er eines Abends um elf Uhr ganz unvermittelt auf die Idee, sich das berühmte Nobelbordell anzusehen; alles beglückwünschte ihn zu diesem Einfall, und man brach auf. Merkwürdigerweise hatte die Polizei jedoch schon um neun Uhr früh davon gewußt, daß um elf Uhr nachts Seine Kaiserliche Hoheit den ausgefallenen Vorschlag machen werde, und außer der ärztlichen Untersuchung, die Chefarzt Professor Pečirka im Doktorzimmer bei Gogo an diesem Tage mit unendlicher Genauigkeit vornahm, wurde noch eine besonders hygienische Reinigung aller Lokalitäten durchgeführt. Zwei Detektive musterten jeden Eintretenden mit Inquisitorblicken daraufhin, ob er wirklich nur ein Bordellgast und nicht etwa ein politisch Unzufriedener sei. Um elf Uhr schloß man die Tür des großen Salons – über die Treppe kam eine Gesellschaft von Kavallerieoffizieren mit aufgeschlagenem Mantelkragen. Von da ab wurde die Hansi von den Stammgästen gefrotzelt, sie könne um den Titel einer Kammerlieferantin ansuchen. Herr Klein aber, im Tanzmeisterschritt den Saal inspizierend, bemerkte, der Titel gebühre ihm, denn er habe ja für den hohen Gast die Kammer beigestellt, den mit blauer Seide ausstaffierten Salon im zweiten Stock, der seither das »Prinzenzimmer« hieß.

Die Zahl der hochgestellten Persönlichkeiten, Mitglieder von Regentenhäusern und von Regierungen, der Heerführer, die inkognito hierher auf die »Gemsenjagd« kamen, ist Legion. Während des Weltkrieges, im Jahre 1917, wurden Journalisten der neutralen Staaten, die von einem vom k. u. k. Kriegspressequartier veranstalteten Besuche in den Skoda-Werken über Prag zurückkehrten, nach einem Souper im Hotel »Blauer Stern« zu Gogo geleitet, wo für diese Nacht die strenge Sperrstunde aufgehoben worden war, und man führte ihnen, um ihre Sympathien für die österreichisch-ungarische Monarchie zu wecken, im türkischen Zimmer (erster Stock, links) lebende Bilder vor.

Die Boheme versammelte sich allnächtlich nach Kaffeehausschluß hier, nicht jeder aber besaß den Betrag, der für die Zeche erforderlich war. Eine Tasse Kaffee wurde nicht serviert, sondern nur eine Portion, ein Tablett, worauf die elegante Silberkanne und fünf Porzellantassen standen. Ob nun eine Gesellschaft von fünf Personen oder ein einzelner kam, war gleichgültig, man mußte eine Portion Kaffee bestellen, die vier Kronen kostete. Deshalb versuchte man immer, vier Partner zu gewinnen, und wartete an der Ecke der Eisengasse und des Gemsengäßchens auf bekannte oder fremde Pilger, mit denen man eine freie Interessengemeinschaft schließen konnte. Die Prager Literaten waren mit den Damen des Hauses sehr befreundet; da diese – die Damen nämlich – viel Geld und Zeit hatten, so ließen sie sich Bücher empfehlen und erlangten bald eine größere Bildung als ihre Lehrer, die ja doch zumeist nur Buchtitel, Autor und Verleger kannten. Angela war direkt literaturwütig, und jeder Schriftsteller, der ins Haus kam, mußte in ihrem Stammbuch verewigt sein. Unter anderen fand sich darin die Unterschrift »Christian Morgenstern« unterhalb eines echt Morgensternischen Gedichtes:

        Palmström bei Gogo

Palmström sucht (gleich anderen vielen)
Wie man, ohne zu verspielen,
Mittels Formel rinden könnte,
Wieviel jeder, wenn er wollte –
Angenommen, daß er könnte –
Wieviel jeder zahlen sollte,
Wieviel jeder, wenn er könnte,
Angenommen: daß er wollte,
Wie wenn sollte, wollte, könnte,
Der Kaffee zu zahlen wäre
Pro Person nach Recht und Ehre,
Wenn der, der aufs Zimmer rennte
Und sich von den andern trennte,
Der nun auszulassen wäre.

Palmström beginnt zu dividieren,
Er versinkt in den Papieren,
Er versinkt in dem Probleme,
Wieviel wohl auf jeden käme,
Wenn – wie oben es notiert.

Während er noch dividiert,
Hat – wohl nur damit er prahlt –
Hat ein anderer bezahlt.
Palmström denkt: es ist genog,
Nimmt sich Hut und Stock und Rock;
Denn nicht an mehr – meint er – käm' es
Auf die Lösung des Problemes.

Eine Spezialität des Lupanars in der Gemsengasse war die ausgezeichnete Musik. Viele Jahre lang spielte Weißmann dort Klavier, der Komponist des populären Walzers »Goldene Jugend« und nachmaliger Freund des Königs von Rumänien. Nach ihm kam Golczewski, der tagsüber in Privathäusern zimperlichen Bürgermädchen Klavierstunden gab, ohne daß der Bruder oder der Vater einer seiner Schülerinnen ihn jemals verraten hätte. Sein Nachfolger war Madl, ein Virtuose.

Der seltsamste aller berühmten Gäste der Maison Goldschmied war entschieden Gustav Mahler. Oft stürmte er um vier Uhr nachts in derangiertem Anzug herein, setzte sich im japanischen Zimmer an das Klavier und begann daselbst, niemals den Eintritt eines Mädchens duldend, bis zum späten Morgen zu phantasieren und zu notieren. Es ist anzunehmen, daß er das Lokal aufsuchte, um daheim durch Spiel und Komposition Familie und Nachbarschaft nicht zu stören. Beim Morgengrauen bezahlte der »Herr Kapellmeister« (so sprach man ihn an, hinter seinem Rücken aber nannte man ihn den »Meschuggenen«), was er nicht getrunken hatte: eine oder zwei Flaschen Sekt oder noch mehr – je nachdem, wie vielen Gästen das Betreten des Séparées mit dem Hinweis, daß es besetzt sei, verwehrt werden mußte.

Dramatisch war die Peripetie, die sich hier, ja hier bei Gogo, im Leben des jungen Bierbrauersohnes Alfred Piccaver aus Albany, Staat New York, vollzog. Mr. Piccaver hatte 1907 eine Europareise unternommen und kam auf der Fahrt zu Frau Jäger-Wltschek in Hallstadt, die während des Engagements ihres Gatten, des Tenors Jäger an der Metropolitan Opera, die Gesangslehrerin Piccavers gewesen war, nach Prag. Sein einziger Prager Bekannter, der Hopfenlieferant von Piccavers Vater, machte ihn mit einem anderen Bierbrauersohn bekannt, und die three men on the bummel gerieten auch in die Goldschmiedewerkstätte der Prager Altstadt. Dem Amerikaner gefiel besonders die Mizzi, und vielleicht um ihr Herz zu erobern, sang er zur Begleitung des Herrn Madl die Matinata von Leoncavallo. Fraglich ist, ob Mizzi ebenso hingerissen war wie ein Gast, der auf den breitschultrigen American zutrat, sich als Opernregisseur Trümmer vom Prager Deutschen Landestheater vorstellte und sehr enttäuscht war, zu erfahren, daß der begabte Sänger ein Industriellensohn sei, den die berüchtigten Gagen Angelo Neumanns schwerlich zur Änderung seines Berufes bewegen würden. Regisseur Trümmer lud ihn ein, ihn am nächsten Vormittag im Theater zu besuchen, und Mr. Piccaver versprach, bestimmt zu kommen; kam aber nicht. Dafür war er abends wieder bei Gogo. Anscheinend hatte die Matinata gestern doch großen Eindruck auf die Mizzi gemacht, denn als ihr Sänger eintrat, stürzte sie auf ihn zu und blieb die ganze Nacht an seiner Seite, wie sehr auch andere Freunde sie herbeizulocken versuchten; sie schmiegte sich an ihn, schwur ihm Liebe, bat ihn, sie nicht zu verlassen, nicht fortzufahren. Piccaver begann wieder zu singen; im selben Augenblick tauchten im Türrahmen zwei Männer auf, die bisher im kleinen Séparée (dem getäfelten, an den Salon angrenzenden Zimmerchen, dem Frisierzimmer gegenüber) gesessen hatten. Der eine war Opernregisseur Trummer, der andere ein Herr in Pelz und Hut, das Taschentuch vors Gesicht gepreßt. Das Lied war kaum zu Ende, als Regisseur Trummer den Sänger ins Séparée bat. Dort wurde Piccaver dem großen Angelo Neumann vorgestellt. Angelo Neumann, der sonst nicht einmal in einem Kaffeehaus erschien, weil er dies unter seiner Würde fand, Angelo Neumann war hierher – in ein Bordell! – gekommen, denn es handelte sich um seine Passion: die Entdeckung von Talenten. Er bot dem verdutzten Sänger vierhundert Kronen Monatsgage – selbstverständlich bloß für den Anfang, es wird bald mehr sein – und garantierte ihm eine glanzvolle Zukunft. »Junger Mann, ich habe auch Richard Wagner eine glanzvolle Zukunft garantiert und habe mein Wort gehalten. Unterzeichnen Sie diesen Kontrakt auf ein Jahr!« Piccaver unterschrieb, hier bei Gogo, blieb in Prag, blieb bei der Mizzi, die ihn doch gebeten hatte, nicht wegzufahren, und dadurch beigetragen, daß er sich so schnell zum Bleiben verpflichtete. Aber die Mizzi war, ein paar Wochen später erzählte es Trummer in Gegenwart Piccavers lachend und belacht bei Gogo, bestochen gewesen, bestochen vom Regisseur im strikten Auftrage Angelo Neumanns, des genialen Managers der deutschen Bühne.

Die Anekdoten der Berühmtesten sind nicht so berühmt geworden wie die der Unberühmten. Zwei Freunde unterhielten sich mit zwei jungen Mädchen und gingen dann mit ihnen in deren Zimmer. Oben trennten sich die Paare, nachdem der eine Herr dem anderen als Memento an den Vorstand der dermatologischen Klinik, Hofrat Philipp Pick, zugerufen hatte: »Bei Philippick sehen wir uns wieder!«

Ein polnischer Jude kam in den Salon. Trank seinen Kaffee und wollte von dannen gehen. Man machte ihn aufmerksam, daß es üblich sei, etwas für die Musik zu bezahlen. »Ich bin nicht musikalisch«, erwiderte er und verschwand. Seither war für Gäste, die nicht die obligate Krone aufs Klavier legten, die Charakteristik gebräuchlich: Der ist auch nicht musikalisch . . .

Von langweiligen Bällen der Gesellschaft entliefen oftmals alle Herren hierher, wo es lustiger war und man den Theatervereinsball parodieren konnte: Das Mahagoniséparée war Komiteezimmer, die Vortanzpaare versammelten sich da, jede Dame nahm einen der Kunstblumensträuße aus den Vasen in die linke Hand, in Saalmitte bildete sich, von einer Schnur umwickelt, die Herreninsel, ordensgeschmückt und würdig erschienen Honoratioren, einzeln mit Namen angekündigt, von Herrn Madl mit Tusch begrüßt, von einem Rattenschwanz von Balljacheln (an Armschleifen als Komitee kenntlich) auf das Sofa hinaufgehoben, die Estrade. Die Klänge der »schönen blauen Donau« ertönten, die Herren in Frack tanzten mit den dekolletierten Vortanzdamen herein, die die kurzen Röcke wie Schleppen hoben und die Nasen emporreckten, als ob ihr Papa Kommerzialrat sei und sie also ein Recht dazu hätten. Die Jünglinge, die sich hier nicht anders gaben, als wie sie immer waren, und die Mädchen, die etwas persiflierten, was sie nie gesehen hatten – es war ein gelungenes Satyrspiel auf den Dünkel der Gesellschaft, diese Theatervereinsbälle bei Gogo.

Die Stammgäste, die sich derart aufspielen konnten, schauten mit Verachtung auf die ungelenk die gewundene Stiege hinaufstapfenden Outsider. Aber diese Fremden, denen Reseks Winterfahrplan aus der Rocktasche guckte, die ihre Kipfeln in den Kaffee tunkten oder gar mitgebrachtes Schwarzbrot in die Silbertassen brockten, diese Bauerngruppen, die man verhöhnte, waren die besten Gäste. Der glattrasierte dicke Mann zum Beispiel, den einige »Vicar of Wakefield by Goldsmith« nannten, kam jeden Samstag um neun Uhr abends, blieb mit dem Koffer in der Hand zehn Minuten im Salon stehen, mit tiefem Blicke jede der Damen musternd, und verschwand dann mit der Glücklichen seiner Wahl, von der er sich erst Montag sieben Uhr morgens verabschiedete.

Ein anderer keuchte schon, bevor er am Fuß der Treppe angelangt war; von dort rief er, so muß wohl das Röhren eines Hirsches klingen, seine Bestellung hinauf: »Jednu tlustou – eine Dicke!«

Es war nicht klug, sich mit den Fremden etwas anzufangen. Eine Gruppe von Kadettoffiziersstellvertretern frotzelte eine Gesellschaft, die sich am Nebentisch allerdings plump genug benahm. Da kommt einer der Verspotteten auf die Knaben zu. »Mein Name ist Lurich. Wünscht einer der Herren etwas?« O nein, bitte, durchaus nicht – wie hätten sie auch etwas wünschen sollen, Lurich war ja, das wußten sie, der stärkste Mann im Ringkämpferensemble, das eben im Théâtre-Varieté gastierte.

Herr Goldschmied, der Gründer, hatte sich bald vom Geschäft zurückgezogen, übersiedelte nach Wien, und kaum jemand, der dort im Kunsthistorischen Museum unter Gemälden eine Tafel mit dem Vermerk »Geschenk des Herrn Emanuel Goldschmied« liest, hat eine Ahnung davon, daß das Geld für die noble Kunstförderung einem Gewerbe zu danken ist, über dem lit. b des § 512 StGB schwebte: ». . . welche Schanddirnen zur Betreibung ihres unerlaubten Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt oder sonst einen Unterschlupf geben . . .« Allerdings war der Faden, an dem das Damoklesschwert hing, nicht allzu dünn und vom Kassationshof gewoben. Dieser stellte sich auf den Standpunkt, daß der Kuppeleiparagraph auf die Bordellbesitzer keine Anwendung finden könne, indem er den Ton auf das Partikelchen »un« legte; er entschied also sozusagen, daß den »Schanddirnen« bloß zur Betreibung ihres erlaubten Gewerbes Aufenthalt gewährt werde – eine Entscheidung, die vollkommen der Absicht dieses aus dem Jahre 1803 stammenden Gesetzes wider-, aber dem Geiste des Rechtes entsprach, denn es ging nicht an, die Wirte für etwas zu bestrafen, was die Behörden tolerierten und kontrollierten. Und ein anderes Gesetz, das sogenannte Landstreichergesetz vom 24. Mai 1885, gestattete die Reglementierung der Prostitution und damit auch ihre Ausübung.

Nach Goldschmieds Abgang waren Johanna Wittler und Eduard Hajek die Eigentümer; den Betrieb führte Herr Leopold Schifferes, der Neffe der Frau Wittler; und am 4. Mai 1896 wird er als Besitzer des Hauses eingetragen. Er hatte ein armes Mädchen aus unmittelbarer Nachbarschaft geheiratet, die Tochter eines im Gallikloster tätigen Schusters. Die Braut war siebzehn Jahre alt und hat nie erfahren, welchen Beruf ihr Mann ausübte. Herr Schifferes verkaufte übrigens bald das Haus und etablierte sich in Berlin als Prager-Schinken-Importeur; da Podbielski Landwirtschaftsminister wurde und die Einfuhr von Schweinen und Schinken verbot, gründete Herr Schifferes in Weißensee eine Prager-Schinken-Fabrik mit echt pommerschen Schweinen.

In der Gemsengasse herrschte jetzt Frau Elisabeth Busch. Sie war bereits Besitzerin eines derartigen Unternehmens, von ihrem ersten Gatten, Julius Friedmann, ererbt und inmitten der baufälligen, schmutzigen Judenstadt gelegen, eines dreistöckigen, massiven Trutzbaus an der Kreuzung der Josef Städter Gasse und Rabbinergasse, Hausnummer 95. Der Roman der erfolglos büßenden »Magdalena« Machars, er beginnt und endet in diesem Hause:

An der Ecke zweier krummer Gassen
Steht ein weißgetünchtes Haus;
Um ein ganzes Stockwerk überragt es
Alle anderen Ziegeldächer. Seine Fenster
Sind mit grünen Jalousien dicht verhangen.

Während in der Nachbarschaft Kleinhandel, Feilschen, Elend, Jammer und Frömmigkeit waren, war hier Verschwendung, Genuß, Radau und Übermut, während sich in all den niedern Kammern der Umgebung vielköpfige Pauperfamilien zusammendrängten, rekelten sich hier Adelige und Offiziere auf Ottomanen und Betten. Friedmann, der Besitzer, war zugleich Konfident, Nachrichtenlieferant des Polizeirates Olič und seines getreuen Famulus Lederer, des Detektivinspektors. Wäscherinnen, Handwerker, Friseurinnen, Modistinnen, Nahrungsmittelhändler, kurz, alle, die hierherkamen, um Geld zu verdienen, erzählten von den Geheimnissen der dunklen Nachbarwohnungen, von verdächtigem Gut, das der Trödler X gekauft, verrieten, daß der Dieb Y seit ein paar Tagen nicht nach Hause gekommen, berichteten, daß die kleine Z zum Tanz in der Schenke »V kornoutč« mit goldenen Ohrringen erschienen sei. Aber Friedmann wußte mehr als die kleinen Diebstähle und Hehlereien seiner Umwelt in der Zigeuner-, der Rabbiner- und der Breiten Gasse! Nicht bloß infolge der Tatsache, daß Verbrecher unmittelbar nach ihrer Tat in Freudenhäuser gehen, um ihren Raub möglichst rasch zu exploitieren, nein, auch Politisches erfuhr er, kamen doch alle Fremden, selbst die polizeilich nicht gemeldeten, in den Salon und sprachen mancherlei. Von dem, was in den verschwiegensten Räumen geflüstert wurde, verlor sich seltener ein Wort als von den Reden, die ein Politiker mit Stentorstimme von der Rostra schrie. Die Polizei revanchierte sich, indem sie ein Auge des Gesetzes zudrückte, wenn etwas nicht in Ordnung war, wenn sich ein Exzeß der Eifersucht, Hysterie oder Trunksucht ereignete oder ein Selbstmord. So ward es zur Sehnsucht aller Spelunkenwirte, durch Kundschaftsdienste gleichfalls dieses Wohlwollen der Obrigkeit zu erringen, und es entstand einerseits das Mißtrauen der Bevölkerung gegen die Behörde, die man mit den Bordellen verbandelt wußte, während andererseits das Bündnis einen subjektiven Sklavenzustand herbeiführte, das Gefühl der Schutzlosigkeit bei den Mädchen der Freudenhäuser, eine moderne Form der alten Schuldknechtschaft. Die kleinbürgerlichen Gewerbsleute der Josefstadt verachteten Herrn Friedmann als Bordellbesitzer, respektierten ihn jedoch als großen Auftraggeber, das Lumpenproletariat haßte ihn als Spitzel und grüßte ihn um so devoter – er war der Mann, der nützen und schaden konnte. Aber das Gerücht, daß auch schon Hausbesitzer gestorben sein sollen, bewahrheitete sich an diesem öffentlichen Hausbesitzer. Seine Frau führte zunächst als Witwe Friedmann, später als Gemahlin des in dieser Branche bestens akkreditierten Dienstmanns Busch (Standplatz: Hotel »Schwarzes Roß«) das Geschäft weiter. Zur Zeit, da man die Pläne zur Assanierung von Prag V zu zeichnen anfing, fühlte sie die Axt an ihrem Stamme, sah sich nach einem neuen Laden um und erwarb de dato 28. September 1898 von Herrn Schifferes die Maison Goldschmied. Weil ihr die Behörden die Haltung zweier tolerierter Häuser nicht toleriert hätten, holte Frau Busch ihren Bruder aus Wysotschan, Herrn Josef Klein, heran, und der erhielt das gewerbeordnungsgemäße Recht »zum Handel mit allen im freien Verkehr gestatteten und rücksichtlich des Verschleißes nicht an eine besondere Bewilligung (Konzession) gebundenen Waren«.

Bevor noch der Friedmannsche Stammsitz niedergerissen worden war, wurde das Haus in der Gemsengasse umgebaut und neu eingerichtet. Der Salon bekam neue Spiegel und Beleuchtung durch Bronzevasen auf Konsolen und verschiedenfarbige Glühlampen, die hinter den Gardinen in Blumenkörben auf dem Fensterbrett standen; die steile Wendeltreppe wurde mit einem Laufteppich belegt, die Nische schmückte man mit einer alabasternen Venus, an deren Stelle zuletzt ein Terrakottanachtwächter trat; das türkische Zimmer erhielt Gobelins, das kleine Séparée täfelte man mit Mahagoni. Das Frisierzimmer im ersten Stock, mit der an den Tisch geschmiedeten Handkassa, diente außerdem als Inspektionsraum für Herrn Klein oder den diensthabenden der beiden Söhne, die auf dem Kanapee schliefen, einen großen Hund zu ihren Füßen. »Sultan« hieß er, wie es sich für einen Harem gehört. In der zweiten Etage waren das gelbe Séparée, das blauseidene Prinzenzimmer, die Doktorstube, wo die sanitätsärztlichen Untersuchungen vorgenommen wurden, und das persische Gemach. Die Séparées waren im Parterre, im dritten Stock, ὀλύμπια δώματ ἔχοντες, lebten die Damen, in acht einfachen Kämmerchen, Arbeits- und Schlafzimmer zugleich, an deren Wänden in Vogelbauern Zeisige, Harzer Roller und Rotkehlchen zwitscherten, gehätschelt und mit Leckerbissen gefüttert. Man empfand es nicht als Störung, wenn die Vögel zu tagschlafender Zeit durcheinandermusizierten und nachts in den Séparées hörbar wurden, sie waren den kitschig-sentimentalen Mädchen Sinnbilder des eigenen Seins »im Käfig« und ein Gruß der Natur in diesem Reich des Überraffinements, wo »feine Sitte« galt und der schwerste Vorwurf in der Frage lag: »San mir im Wald?« Die Vögel waren die einzigen dauernden Insassen des Hauses, kein Mann wohnte ständig da, selbst der Besitzer nicht, und auch die Mädchen veränderten sich.

Maison Goldschmied stand im intimen Geschäfts- und Austauschverkehr mit gleichrangigen Freudenhäusern anderer Städte. Jedes Lokal bedurfte nämlich eines ziemlich feststehenden Ensembles, in dem alle Rollenfächer besetzt werden mußten. Die Gruppen waren nach Statur, Genre, Naturell, Gesichtsfarbe, Haarfarbe, Nationalität und Bildungsgrad eingeteilt. Was man doppelt hatte oder vielfach, das wechselte man eben aus; mit Maison Frida in der Budapester Magyar-Utca, mit Madame Rosa, Salon Killinger und der Hondl in Wien, mit Féhér in Arad, Maria Pohl in Außig, Schicketanz in Nürnberg, Ibsen in Dresden, Reisinger (»Zum blauen Affen«) in Leipzig, Hummel in Teplitz, Kraus in Brünn und Elger (»Weiße Weste«) in Reichenberg.

Zwölf Damen waren der Minimalbestand in der Maison Goldschmied. Die »Tüchtigsten« stiegen in Offiziersrang auf, wurden Wirtschafterinnen und hatten das Anrecht, mit »Sie« angesprochen zu werden; ihnen zahlte man die Zeche. Carmen regierte von 1904 bis 1909 und heiratete dann einen Hotelbesitzer, Valeska, genannt die »Schattenkönigin des Loyola« (1909 bis 1911), bekam eine Stellung als ärztliche Assistentin in Wien, Wilma (1911 bis 1914) wurde während des Krieges von einem Offizier in Triest erschossen, dessen Heiratsanträge sie abgewiesen hatte; Vera (1914 bis 1917) verehelichte sich mit einem Großindustriellen, Fritzi (1917 bis 1919) lebt wieder als unschuldiges Mädchen bei ihrem Vater, der Bürgermeister in Thüringen ist.

Nach Beendigung des Krieges tobte der Betätigungsdrang der Reformatoren, der Moralphantasten, der Sexualneidischen und der Neugierigen auch vor den Mauern des Hauses in der Gemsengasse. Der Sittenwächter Prags, Polizeirat Drašner, mußte auf seinen Razzien hierher die Abgeordnete Frau Zemin mitnehmen und die Heilsarmee. Der Salon Gogo bekam salbungsvolle Predigten und donnernde Versammlungsreden zu hören, ohne daß nur eine einzige Seele aus dem Fegefeuer gerettet oder der nationalsozialistischen Partei zugeführt worden wäre, weil die Agitatorinnen ebensowenig wie fünfhundert Jahre vorher der fromme Militius von Kremsier – ihren Hörerinnen keine sozialen Garantien zu leisten vermochten.

In Prag, wo die Not an Geschäftslokalen und Wohnräumen enorm war, entstanden neue Bars, Weinstuben, Tanzdielen, Kabaretts und andere Wurzlokale in Massen, was man als Zeichen für das Aufblühen der neuen Reichshauptstadt ansah. Überall kostete der Champagner bereits hundertzwanzig Kronen, die Flasche gewöhnlichen Weins vierzig, die Flasche Rheinwein sechzig, nur bei Goldschmied wurden noch die alten Preise eingehoben, für Rheinwein achtundzwanzig, für eine Flasche gewöhnlichen Wein zwanzig Kronen, die »Taxe«, die vor dem Krieg zehn Kronen betragen hatte, war auf vierzig erhöht. Aber die Angriffe verstummten nicht, und es hieß, die Behörden hätten Weisung, das Lokal zu sperren. So entschloß sich Herr Jakob Klein zu einem Angstverkauf: Per 1. Januar 1920 wurden Gebäude und Inventar mit dem Weinkeller, den beiden Klavieren, den Gobelins, Statuen, Gemälden und Teppichen um vierhundertachtzigtausend Kronen an die Wiener Eisenfirma Rudolf Schmidt & Comp. veräußert. Silvester 1919 war die Abschiedsnacht. Die Mädchen packten ihre Sachen und zogen von dannen, Herr Klein ging nach Hause und legte sich nieder, um zu sterben.

Wenn heute jemand nächtlicherweile die Glocke des Hauses Nummer sechs in der Gemsengasse noch so dringend zieht, es wird ihm nicht mehr aufgetan.

 


 


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