Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Wilde Musikantenbörse

Ein Bursch mit kastanienbraunem Teint, starkbuschigen Brauen und dörfischem Anzug hat in der Ansammlung plötzlich seinen Vater erspäht und ist ihm mit einem Aufschrei in die Arme gestürzt, die beiden küssen sich, rumänisch-zigeunerische Worte tauschend, und achten nicht auf die ironischen Zurufe der anderen, »moderato«, »ritardando«, »man nich zu zärtlich«. Diese anderen haben eine andere Gesichtsfarbe, die der ewig durchwachten Nächte, der abgewischten Schminke und des Puders. Mager fast alle, harte Linie der Kinnbacken, hochaufgekämmt halblanges Haar, einige (aus der romantischen Generation stammend) schüttere, melierte, bis zum Hals reichende Locken. Unter dem Paletot sieht man die kühne Lavallière oder die genähte schwarze Masche und eine ansehnliche Fläche der Hemdbrust: Sie tragen ihr Dienstgewand, Smoking oder zumindest Frackweste. Sie warten vor dem Haus der Elsässer Straße, bis es elf Uhr wird, Beginn der Börsenzeit, dann gehen sie, von schwachen Hoffnungen schwach belebt und starke Enttäuschungen stark befürchtend, über den Hof in das Hintergebäude, opfern der Frau, die vor zwei aufeinandergelegten Tellern den Eingang hütet, einen Groschen und dürfen, den Vorhang zurückschlagend, in den großen Wirtshaussaal eintreten. Den füllen sie als ein anarchisches Orchester von unentwirrbarer Kakophonie.

Das ist der »Alte Dessauer«, die »Wilde Musikantenbörse« (nicht zu verwechseln mit der Stellenvermittlung des Vereins Berliner Musiker in der Kaiser-Wilhelm-Straße, wo nur die Organisierten Zutritt haben und wo größtenteils Orchesterpersonal engagiert wird). Hier entspringt der kastalische Quell für die Musiken der kleinen Kinos und Cafés, hier werden Ensemblemusiker geheuert, manchmal auch Solopianisten für Restaurants, für Privatgesellschaften, für Tanzschulen.

Ein weiter Saal, in dem sich – besonders Sonnabend – von elf bis eins diese poweren Börsianer stehend drängen. An der Wand hängt ein Bild Theodor Körners, beziehungslos oder um der Leier willen, die er neben das Schwert placierte. Ein gemalter Pfeil deutet energisch auf das Brett an der Säule: Leset die Warnungen! Es müssen wahrlich schon kriminell schlechte Stellungen sein, von denen diesen arbeitshungrig-hungernden Menschen abgeraten wird. Selten jedoch ruft ein »Cavete« von den angehefteten Zetteln, heute sind es nur Verkaufsangebote, Offerten. Ein Schreiner verfertigt Notenschränke gegen Ratenzahlung. Ein Klavierbauer und ein ‑stimmer werden gesucht. Ein Kaufmann aus der Berliner Antarktis, aus Pankow, zeigt an, er übernehme abgespielte Musikinstrumente, Pistons, Tenorhörner, Geigen, Flöten, Mandolinen, Trommeln, Glockenspiele und dergleichen; vielleicht lockt die Anzeige doch einen Stellungslosen, sein Instrument zu veräußern, sein Einziges und seine Hoffnung. Zwischen solchem Entschluß und dessen Vollzug läßt sich eine Pause einschalten, ein Sospiro sozusagen, indem man sein Instrument am Schwarzen Brett feilbietet und wartet, ob ein Kollege es benötigt, einen günstigeren Preis zahlt; »Geige, sehr alt, wegen Notlage zu verkaufen«, »Verkaufe Beckenmaschine, wie neu, sog. Fleming«. Auf liniertem Blatt eines Schulheftes sind ungelenke Buchstaben staccato hingekritzelt: »Kranker Invalide verkauft wegen unheilbarer Krankheit chromatische Harmonika.« Offene Stellen: Sitzgeigerposten mit siebzig Mark Monatsgage und Abendbrot (Frack Bedingung!), Cellistenstelle für Trio, humoristische und stimmbegabte Herren bevorzugt, Engagement für ersten Posaunisten bei Marschkapelle. Niemand beachtet das, jeder weiß, daß unten an diesen Zetteln mit kleiner Schrift die Buchstaben »a. B.« stehen, und außerhalb Berlins will keiner leben, der innerhalb Berlins stirbt, und der letzte Trommler will lieber als Tonkünstler der Metropole infolge Unverstandes der Massen und infolge Hungerödems sein Finale spielen, bevor er in der Provinz eine Ouvertüre versucht.

Beim Fenster hat eine Frau Kolophonium, Bogenbezüge, Notenhalter, Violin- und Zithersaiten, Kinnstützen, Vogelstimmen und Dämpfer ausgelegt, links auf einem Tisch der Längswand ein Musikalienhändler sein vergilbtes Notenlager von »neuesten« Schlagern, Walzer, Märsche, Lieder aus dem »Vogelhändler« und dem »Obersteiger«; auch »Moderne Tänze« hat er, aber in der Maxixeära blieb er stecken.

Sonst ist kein Möbelstück vorhanden, wer ein Glas Bier, einen Steinhäger oder eine Stulle verzehren will, postiert sich an den Schanktisch, hinter dem der Wirt an einem mit braunroter Majolika umkleideten Bierhahn seines Amtes waltet. Günstig der Platz an der Theke, denn wenn ein telefonisches Stellenangebot kommt, ist man a tempo primo beim Apparat, braucht nicht erst prestissimo die Reihen zu durchdrängen, um dann doch den Einsatz zu verpassen. Durch eindringliche Fragen nach dem Begehr hält der Wirt die fern, die am Schranken nassauern wollen. Der Wirt bedient den Fernsprecher selbst, nimmt den Auftrag entgegen und schwingt dann maestoso eine Glocke, im Rezitativ verkündend: »Harmoniumspieler fürs Café. Zehn Mark.« Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, das heißt, er darf mit dem Besteller durchs Telefon verhandeln und abschließen. Neben dem Hörrohr aber hängt die Einschränkung: »Für die Richtigkeit der telefonischen Musikerbestellungen übernehme ich keine Verantwortung. Der Wirt.«

Wer eintritt und fremd ist, wird mit der Frage nach seinem Bedarf umringt, und man schickt ihm Interessenten zu. Ein Artist findet auf diese Weise einen jungen Mann, der willens und geeignet wäre, ihn auf der Gitarre und auf der südamerikanischen Tournee zu begleiten; er streichelt seinen präsumtiven Sozius während der Unterhandlung, um rechtzeitig zu erfahren, ob dieser gegen liebevolle Behandlung nichts einzuwenden hat. (Drum prüfe, wer sich ewig bindet.) Der Gitarrist läßt sich's gefallen.

Bloß der kleinste Teil der Börsengeschäfte wird an der Bar mittels Ferngesprächs abgewickelt, die meisten Engagementsabschlüsse werden persönlich, zwischen Unternehmern, Kapellmeistern und Musikanten, getätigt, und die mit Energie verfochtenen Ansprüche zweier Partner verklingen mit den Unterhaltungen und Unterhandlungen der übrigen Gruppen zu einer ohrenbetäubenden Diskordanz, die um so heftiger ist, als alle Idiome der Welt in dieser Kapelle vertreten sind. Zwei kaum dem Knabenalter entwachsene Slowakenburschen, ihre Blasinstrumente unverhüllt unter dem Arm, radebrechen mit dem Chef einer Nechanitzer Damenkapelle, der für zwei schwanger und kontraktbrüchig gewordene Harfenistinnen irgendeinen Ersatz sucht; auf einen beleibten Zillertaler, Gemsbart am Lodenhut, Wildzähne und Münzen am grünen Bauch, dringt vivace ein braunblasser, schnauzbärtiger Magyare ein, ihm begreiflich zu machen, daß es sinnlos ist, für eine Schrammelkapelle einen Zitherspieler zu suchen, noch dazu einen, der die Kunst des Jodelns und der Schnadahüpfel beherrscht, während doch in Berlin ein Zymbalschläger für ein Tiroler Ensemble das einzig Mögliche sei. Der Pußtasohn, nicht bloß in der Aussprache, sondern auch in der deutschen Grammatik einen total falschen Anschlag beweisend, wird immer aufgeregter, der Dicke aus dem Zillertal immer gemütlicher, ohne daß Alpen und Alföld zusammenkommen.

Ein Flötenspieler unterhandelt mit einem Fachgenossen, der möge ihn vertreten, da er selbst eine neue Stellung provisorisch annehmen will; sie sprechen leise, das Blasrohr hat ihre Stimme aufgesaugt, man nennt das in Bläserkreisen »Tuba-Kulose«, und nur durch ein Kopfnicken oder ein Aufstoßen mit dem Fuß geben sie hie und da einem Worte Nachdruck, damit es in dem lauten Gezänke furioso der angrenzend gruppierten Stagione von Italienern nicht verlorengehe.

»Ausjeschlossen«, beteuert ein Berliner vom Kietz unaufhörlich seinem Nachbarn, »ausjeschlossen, een' Bratscher, was Baßschlüssel spielen kann, den findste nich.«

Umschwärmt ist ein Herr im Gehrock, Henriquatre auf rundem Kinn. Er stellt für ein neues Lichtspieltheater auf dem Kurfürstendamm ein Ensemble zusammen. Fremd in Berlin, hat er einen Führer mitgenommen, den Hörer der Staatlichen Musikhochschule, der sich – trotz des strengen Verbotes der Schulleitung – seinen Lebensunterhalt durch Spielen in Cafés verdient. Der Konservatorist präsentiert dem Dirigenten einige seiner Nachtkollegen, die übrigen suchen, sich kontrapunktlich anpreisend, in die Duette der Vereinbarungen einzufallen. Ein alter, herabgekommen aussehender Paukenschläger zieht den Mittelsmann beiseite. »Wenn du mir verschaffst, daß ich bei dem da Pauker werde, kriegst du ein Bier und eine Zigarre. Es soll mir nicht darauf ankommen.« Gleichzeitig denunziert ein lächelnder anderer in Moll: »Der will den Pivonka für Oboe engagieren, der hat doch den miserabelsten Ansatz, keine Lippenkraft und Gedächtnis schon gar nicht.« Der Kapellmeister kann sich des Andranges nicht erwehren, er ist kein energischer Herr, unentschlossen streicht er den Bart, der sicherlich ein Grübchen im Kinn verbirgt und wie ein aufgeklebter Pinsel herabhängt. Mit denen, die ihn am hartnäckigsten bestürmen, schließt er ab. Sie zwingen ihn zum Handschlag. Etliche waren jedoch bereits, sie gestehen es auf Befragen, bei dem Konzern beschäftigt, für dessen neues Kino die Musiker bestimmt sind, und dürfen laut strenger Weisung nicht wieder aufgenommen werden, der Handschlag ist nichtig, fortissime schwillt der Protest an, ängstlich duckt sich der Dirigent. In Geigern, Bratschisten und Klavierspielern ist Hausse, und Henri IV. im Gehrock muß Adressen notieren, schriftlichen Bescheid versprechen. Resigniert verläßt die Mehrheit die Börse, manche haben einen Musiker, manche eine Stellung, ein Sohn den Vater gefunden, ein Artist hält den Freund untergefaßt, der ihn in warme Länder begleiten wird, viele, viele haben gesehen, daß ihnen auch heute keine Hoffnung blüht, ein Zymbalspieler paßt nicht in eine Älplertruppe, die Musikalien und Utensilien werden eingepackt, der Wirt wischt die Theke blank, een' Bratscher, was Baßschlüssel spielen kann, den findste nich, verstohlen heftet ein Gelbsüchtiger einen Zettel auf die schwarze Tafel, ein Organist kommt als Ersatz für schwangere Harfenspielerinnen aus Nechanitz gar nicht in Frage, alle sind blasse, enttäuschte, verhärmte Proletarier der Kunst, die nicht einmal das Glück erreichen können, nächtlicherweile zu Gesang, Trunk und Tanz aufzuspielen, um die Zechenden in noch fröhlichere Stimmung zu versetzen.

 


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