Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Die Festung Bouillon

In etwas übertrieben romantischer Pose und Kostümierung, die Knie an die Brust gezogen, sitzt auf dem Kamm des ungeheuren Steinblocks ein Recke in Wehr und Zier. Ihm huldigen, von weit her gekommen, die Wälder der Ardennen, auf deren grüne Flächen der Herbst alles Gelb und Braun seiner Tuben gedrückt hat. Der Fluß schlingt willig, den Schutz zu verstärken, einen geschlossenen Bogen um den Fels, weiß umsäumt ist das Wasser von dichten Schaumknollen, die die Wellen des Semoy am Schilfrand geschlagen haben. Eichen, Farnkraut, Hügel, Sonne. Das ist das Schloß Bouillon. Wohin der Burgherr blickte, von welcher der dreihundert Zinnen, aus welchem der schwebenden Erker, durch welche der tausend Schießscharten, überall sah Herzog Gottfried seinen Namen. Er mußte fromm werden, das wunderbare Fleckchen Erde zu seinen Füßen, im eigenen, so gesicherten Besitz, und überall Gottes Frieden; darum wohl gelobte er dankbarlich, auch anderwärts das Wort des Herrn zur Tat zu machen, das da heißt, es sei den Menschen Friede auf Erden. Ich bin, der ich mit Gottes schönster Gabe begnadet bin, der Berufene.

Oder aber: zweifelt er daran, daß das, was sein Eigentum, auch wirklich das schönste Gefild der Erde ist? Scheint es nur so, weil es mein ist? Vielleicht starrt er auf die Berge, als wollte er sie durchbohren, um zu erfahren, ob weit, weit im biblischen Osten nicht üppigere Länder seien. Lockt es ihn deshalb aus Gottes Frieden in Gottes Krieg? Oft eitert das Glück!

Gottfried von Bouillon und Verdun ist von seinem Kreuzzug nicht zurückgekehrt: Als königlich gekrönter Herzog von Jerusalem liegt er in der Heiligen-Grabes-Kirche bestattet, und das Wort vom Frieden auf Erden hat heute noch keine Geltung – nicht einmal im Umkreis seines eigenen Schlosses. Acht Jahrhunderte nach Gottfrieds Tode qualmen Orte des Herzogtumes, zerschossen und niedergebrannt, und vom Südosten her tönt pausenloser Donner, den kein Turmwächter des Mittelalters deuten könnte. In den Felsen, der die Burg trägt, ist ein Tunnel gebohrt, die »Porte de France«. Die militärische Kleinbahn fährt durch diesen mehr als bombensicheren Korridor von Sedan nach Bouillon, und eine Schildwache patrouilliert vor dem Ausgang. Sie hat den Verkehr zu regeln, nicht etwa dafür zu sorgen, daß sich jemand der Burg bemächtige. Denn die Feste, für die vor zwölfhundert Jahren der Ardennenfürst Turpin einen so uneinnehmbaren Bauplatz gefunden, die seine Nachfolger, die Herzoge von Bouillon, die siebenunddreißig streitbaren Fürstbischöfe von Lüttich, die Grafen von der Mark, die Fürsten de Latour-d'Auvergne und Grafen von Turenne, die Rohan-Monbazon, und schließlich die Holländer, Luxemburger, Franzosen und Belgier nach dem jeweiligen Stand der strategischen, fortifikatorischen und ballistischen »Wissenschaften« ausgebaut hatten, ist heute nicht Drohung mehr. Die glatten, lotrecht aufsteigenden Felsen und ihre genaue Verlängerung, das Gemäuer, beide gleichermaßen verwittert, mit Maueralgen, Erika, Moos und Steingestrüpp bewachsen, mögen sie auch eine noch so unteilbare und untrennbare Einheit sein – ein dienstfrei spazierengehender Artilleriste lächelt überlegen, dieweil seine Augen den schwindlicht hohen Stein aufwärts klettern: ein Jahrtausend hat's nicht vollbracht, was heute ein Mörserschuß vollbrächte. Und die Zitadelle, die vom Anfang des Mittelalters an durch alle Kriegsläufte wegen ihrer Unerreichbarkeit den Feinden trotzte, überdauert um ihrer allzu leichten Erreichbarkeit willen die Jetztzeit.

Bouillon-Stadt und Bouillon-Burg haben auch im letzten Krieg keinen Schuß abbekommen. Zwischen den vollkommen unversehrten, weißen Häuschen der Stadt tummelt sich belgische Jugend auf Stelzen und träumt davon, daß die Stangen ins endlose wachsen und man mit ihnen nach Jerusalem, auf den Nordpol spazieren kann; in den Geschäften verkauft man französische Parfüms, die von Tag zu Tag stärker verschnitten werden, bis nur die Vignette pariserisch sein wird; in den Zigarrenläden kriegt man belgische Zigaretten, an denen tüchtig gezogen werden muß, damit sie nicht verlöschen. Weit und hoch strecken sich Wiesen und Felder.

Droben im »Castell Beulen« lebten die Schloßherren unbedroht, friedlich und glücklich, aber deshalb suchten sie Bedrohung, Unfrieden und Unglück. Selbst ein kleiner pfälzischer Kurprinz, der auf dem Schloß zur Erziehung weilte, hat den längsten Krieg der Weltgeschichte eingeleitet. Dann freilich, in der Not des Feldlagers, mochten sie bitter bereuen, man weiß nicht, was Herzog Gottfried im heiligen Jerusalem dachte, als er elend den Tod fühlte, und der kleine pfälzische Kurprinz, der inzwischen einen Winter lang König gewesen und flüchtig durch ganz Europa geirrt war, starb nicht zufällig gerade dort unten im Walde, von wo er die Burg seiner kühnen Jugendträume sah . . . Und die vielen namenlosen Männer, die im Laufe des letzten Krieges Waffen tragen und Waffen führen mußten, haben sich durchaus nicht kriegerisch gefühlt, nicht einmal innerhalb der wuchtigen Zinnen und krenelierten Mauern. Im Gegenteil, sie träumten, Nachfolger der Minnesänger zu sein: Unter dem bröckelnden Mörtel der Schloßarsenalwände erwachen Palimpseste zum Leben, Liebesgedichte, Herzen und verschlungene Namenszüge, Spuren jener zweitausendsechsundachtzig französischen Soldaten, die im Jahre 1870, nach der Sedanschlacht, um der Gefangennahme zu entgehen, die belgische Grenze überschritten und hier interniert wurden. Deutsche Soldaten kraxelten über die eingerosteten Zugbrücken, verwitterten Steinstufen, rasenbedeckten Höfe und brüchigen Wehrgänge und verewigten sich gleichfalls mit Namen und Versen, manche mit Rang und Regimentszugehörigkeit. Etwa zweihundert haben angesichts des Gemäuers, das in zwölf Jahrhunderten nicht gestürzt ist, angesichts einer zu kriegerischen Zwecken erbauten Burg, die eben wieder Krieg um sich erlebt, die merkwürdige Erkenntnis gewonnen, daß das Alte stürze, die Zeit sich ändere und neues Leben blühe aus den Ruinen, und nur einer (vom Telegrafenbataillon Nr. 1, Berlin) schrieb einfach die Übersetzung hin: »Bouillon ist eine abgestandene Brühe.«

 


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