Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Zürcher Zuchthaus

Der Weg dorthin

Um so mehr, als es wegen seiner Anlage, seiner Organisation und seiner Erfolge (beinahe keine Rückfälligen!) in der kriminalistischen Welt bekannt,

um so mehr, als der Justizchef der Züricher Regierung gleichzeitig Zeitungswesen an der Universität lehrt, also ein Mann der Öffentlichkeit,

um so mehr, als über diese Landschaft ein freigebiger Himmel gebreitet ist –

um so mehr darf man wohl hoffen, hier weniger von jenem fürchterlichen Grauen befallen zu werden, unter dessen Bann jeder Zuchthausbesucher steht, der daran denkt, was Jahre im menschlichen Leben bedeuten, daß all unser Wissen von den treibenden Kräften gleich Null ist, daß es auch ein Verbrechen am Verbrecher gibt.

Im Eisenbahnzug fahren Touristen, die vom Rigi sprechen und vom Pilatus (vom Berg selbstverständlich, nicht von jenem Richter, der zum Tode verurteilte und seine Hände in Unschuld wusch) und sich freuen, in zwei Stunden in Sankt Gallen zu sein. Man steigt in Regensdorf aus, der große Bau links abseits der Bauernhäuschen ist hell, nur steht unfreundlich in seiner Architektur ein breites Eisentor und über dem Portal die Aufschrift: »Kantonale Strafanstalt«.

 

Ein Verkehrsturm im Zuchthaus

Das Gebäude ist in Kreuzform errichtet, panoptisch, jeder der vier Kreuzflügel vom Mittelpunkt aus genau zu überblicken. Einer dient der Verwaltung, der Kirche und den Bädern, in den drei anderen leben die Sträflinge in Arbeitsräumen, in Tagzellen, wenn sie Einzelhaft haben, und in Nachtzellen. Vier Stockwerke haben die Zellenflügel, und jeden Schritt, den man auf diesen Galerien macht, sieht der Mann in der Mitte. Der ist auf seinen Turm hingestellt wie der Verkehrspolizist auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Eine eiserne Fachwerksäule von achteckiger Grundform, zweieinhalb Meter im Durchmesser, ragt als Postament über die Etagen empor und trägt die Plattform. Von dort lugt der Kontrolleur auf das Gewimmel rechts und links und vorne, er lugt in jede Sekunde der vielen hundert Lebensläufe, die sich hier jahrelang, lebenslänglich begeben. Er ist allein und doch kein einzelner, ein Fingerdruck, und Sukkurs ist da: Auf der Tischplatte vor ihm sind Alarmwerke und Telefone nach den Direktions- und Verwaltungsräumen, nach den Arbeitssälen, den Pförtnern und den Angestelltenwohnungen innerhalb und außerhalb der Anstalt und von abends bis morgens auch die Umschaltestation für den externen Telefonverkehr. Selbst wenn der Sträfling bei Nacht in seiner Zelle liegt, endlich entronnen dem Blick auf dem Semaphor, nur ein Weg bleibt ihm, Hilfe zu suchen, sobald ihn Krampf oder Krankheit packt: er kann die Notglocke ziehen, und die Nummer seines Kerkers springt auf dem Läutewerk des Turmes empor, vor den beiden strengen Augen, die um die Nöte seines Tages wissen und nun auch die Qualen seiner Nacht erfahren.

 

Leben der Gefangenen

Es gab hier schon Bestände von dreihundertfünfzig Sträflingen, und für noch mehr haben die Kreuzgewölbe Platz. Jetzt sind es zweihundertachtzig; die bedingte Verurteilung, die Ausweisung von Ausländern und Kantonsfremden nach abgebüßter Haft und vor allem das Ende des Krieges, der auch in der Schweiz die »Militärverbrecher« überhandnehmen ließ, haben die Frequenz vermindert. In der Züricher Anstalt besteht das irische System, nach welchem der Eingelieferte zuerst in die erste Klasse eingereiht wird, darin etwa ein Drittel seiner Zeit verbleibt: isoliert muß er arbeiten und schlafen, niemanden bekommt er zu Gesicht, außer den Wärter, der die Zelle betritt, oder den Werkmeister. Rückt er in die zweite Klasse auf, arbeitet er in den Gemeinschaftswerkstätten, schläft und ißt aber allein. Alle zwei Monate kann er einen Brief absenden und einen Verwandtenbesuch empfangen – noch trauriger ist der Inhaftat der ersten Stufe daran, der jedes Vierteljahr bloß einmal besucht werden und bloß einen Brief schreiben darf. Bei klagloser Aufführung verbringt er das letzte Drittel in der Probeklasse, die vielfach landwirtschaftliche Arbeit leistet; nun sind ihm allmonatlich ein Besuch und ein Brief erlaubt, und auf dem Acker kann er vielleicht in unbeaufsichtigtem Moment ein Wörtchen mit dem Mitgefangenen wechseln – sonst lastet das Schweigeverbot durch die langen Jahre der Haft auf allen . . . Stummer als die Trappisten, denn nicht einmal deren »Memento mori« darf über die Lippen!, gehen die Sträflinge jahrein, jahraus an Schicksalsgenossen vorüber, wortlos arbeiten sie in der gleichen Werkstätte die gleichen Dinge zehn schwere Stunden des Tages, ohne zu sprechen, wandeln sie miteinander tagtäglich eine halbe Stunde im Spazierhof, und allein lesen oder dösen sie in der Zelle, bis es Viertel neun schlägt, Hosen und Schuhe vor die Tür gehängt und die Pritschen heruntergeklappt werden, das Licht erlöscht und sie schlafen dürfen.

Am Sonntag in der Kirche sitzen sie auf Stühlen, von denen jeder rechts und links durch ein mit Schnappschloß versehenes Türchen versperrt ist, zur Halshöhe reichen die Wände, der Sträfling sieht nur den Pastor auf der Kanzel. Zum Gottesdienst, der evangelisch ist, müssen sonntags alle, seien sie auch Katholiken, Juden oder Mohammedaner. Auf fromme Einkehr legt man Wert: Der Neuankömmling erhält Bibel und Gesangbuch in seine Zelle sowie ein Buch zum Lesen, das nach vierzehn Tagen ausgetauscht wird.

 

Bilder aus den Arbeitsstätten

Achtzehn Gewerbe werden in der Züricher Anstalt ausgeübt, und jeder Arbeitssaal bietet Anlaß zu seltsamen Assoziationen: In der Schneiderei machen struppige, in plumpen Zwillich gekleidete Männer elegante Anzüge nach neuestem Schnitt, an die Wand geklebt sind Bilder der Mode, nach der sie arbeiten und deren Anwendung sie niemals sehen; in der Druckerei stehen sie am Setzkasten, ohne »freie Jünger der Schwarzen Kunst« zu sein, oder sie bedienen die drei Schnellpressen – die Presse ist frei; in der Korbflechterei sitzen Gestalten mit bedrohlichen Blicken, sie schwingen scharfgeschliffene Riesenmesser, um dem Blumenbehälter ornamentale Gleichförmigkeit zu geben, und weben Matten für Damenfüßchen, an Haken hängen Stricke und Seile, lang genug, einen Flüchtling vom Dach der venezianischen Bleikammern zum Canale Grande hinabzulassen; in der Schmiede arbeiten alte Einbrecher an sicheren Schlössern und schmieden und feilen Ketten; in der Bäckerei kneten sie Berge von Teig und bekommen außer dem Tee oder der Suppe mit Kartoffeln und Gemüse bloß fünfhundert Gramm Brot pro Tag; in den Galerien stehen viele, viele Särge, die, in der Schreinerei gearbeitet, nun prunkvoller Adjustierung harren, für reiche Bürger. Hundertzweiundzwanzig Hektar umfaßt der Ackerbaubetrieb, weit weg von den Mauern des Zuchthauses, in das die unfreiwilligen Landarbeiter abends wieder heimkehren. Auf dem Dach der Anstalt wird eine Reparatur ausgeführt, Sträflinge besorgen das; in der Tischlerwerkstatt hat ein mechanisch begabter Häftling das Modell einer Guillotine konstruiert, es wird hier aufbewahrt mitsamt dem Miniaturkarren, der die Aufnahme der Leiche veranschaulicht – nach diesem Muster hat der Kanton Schaffhausen seine Hinrichtungsmaschine herstellen lassen.

 

In der Weiberabteilung,

einem eigenen Gebäude, von der Männeranstalt durch eine hohe Innenmauer getrennt, wird für alle Insassen gekocht und gewaschen, das Hauptgewerbe ist die Wäschenäherei; an einer Nähmaschine sitzt ein schwarzes Mädchen mit kurzgeschnittenem Haar – der einzige Bubikopf, den ich bisher an einer Schweizerin gesehen. Sonst sind es meist grauhaarige, abgehärmte Greisinnen, die an den Kochkesseln und an den Wäschetrögen des Weiberstrafhauses ihr Tagewerk verrichten.

 

Wie die Arbeit bezahlt und ausbezahlt wird

Fünf Prozent vom Arbeitsverdienst erhalten Sträflinge der ersten Klasse, die der zweiten sechs bis zehn Prozent, die der dritten zwölf Prozent; im vorigen Jahre betrug der Arbeitsverdienst vierundzwanzigtausend Franken. Dem Häftling teilt der Werkmeister mit, wie groß sein Anteil ist, der zu vier Prozent verzinst, aber erst bei der Entlassung ausbezahlt wird. Viele verdienen bloß siebenundzwanzig Rappen (zwanzig Pfennig) täglich, manche, zumeist Herrenschneider, kommen auf anderthalb Franken, also etwa eine Mark zwanzig Pfennig pro Arbeitstag. Wer die Anstalt verläßt, kann von seinem Lohn Anzug und Schuhe kaufen, hat er aber zuwenig Geld erarbeitet, so bezahlt die Kleider der Schutzaufsichtsverein; jeder muß mindestens fünfundzwanzig Franken in der Tasche haben, wenn er in die Freiheit geht. Draußen hat er sich zunächst beim Inspektor des Vereins zu melden, der verpflichtet ist, für erste Unterkunft zu sorgen und ihm eine Stellung zu suchen. Stirbt ein Sträfling während der Haft, fällt sein Arbeitsverdienst der allgemeinen Sparkasse zu, aus der Prothesen, Bruchbänder und Brillen für die gekauft werden, die deren bedürfen.

 

Lebenslängliche

Drei Monate sind das geringste Ausmaß, mit dem man hierher eingeliefert wird, die meisten aber haben reichlicher bemessene Strafen abzusitzen. In der Weiberabteilung sind von achtundzwanzig Sträflingen nicht weniger als fünf lebenslängliche – ein erschreckend großer Prozentsatz, um so erschreckender, da im Kanton Zürich für Kindesmord an Neugeborenen nur zwei bis drei Jahre verhängt werden. (Todesstrafe gibt es im Kanton überhaupt nicht.) Zwei dieser Frauen sind Komplizen, sie haben in Gemeinschaft mit einer dritten, die inzwischen verstorben ist, die Gattin des Straßenbahnschaffners Karli in dessen Auftrag im Jahre 1911 vergiftet. Zwei andere haben ihre Gatten gleichfalls durch Gift getötet, die fünfte erschlug ihr erwachsenes Kind.

Von den zweihundertzweiundfünfzig Männern sind acht bis an ihr Lebensende hierher verdammt, für Taten, aus grauenhaft-menschlichen Motiven begangen, von denen sich der Autor der »Züricher Novellen« nichts träumen ließ. Der eine hat einen Mann mit Einverständnis von dessen Frau erstochen, um sie heiraten zu können; zehn Jahre lebte er dann mit ihr in normaler Ehe, bis sie ihn eines Tages, aus Wut über schlechte Behandlung, dem Gericht anzeigte. Er wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt, die Frau wegen Gehilfenschaft zu fünf Jahren – sie ist seit sieben Jahren frei und besucht ihn wieder, den Mann, der um ihretwillen gemordet hat und den sie für immer in den Kerker brachte. – Drei der Lebenslänglichen haben 1921 gemeinsam einen Raubmord an dem Besitzer des Automatencafés in der Züricher Bahnhofstraße verübt. – Zwei sind Einbrecher mit nachfolgendem Totschlag, sie sind bei Diebstählen (Repischthal und Zürcherberg) von dem jeweiligen Hausinhaber überrascht worden und haben diesen getötet. – Ein Vagant namens Jureczek aus der Slowakei ist schon vierzehn Jahre hier, im Horgen am Züricher See hat er einem schlafenden Handwerksburschen das Felleisen zu entwenden versucht, als der erwachte, dem Räuber an die Gurgel sprang, schlug ihn Jureczek mit einem Stock auf den Kopf, und der Junge blieb tot liegen. – Einen Doppelmörder beherbergt die Anstalt: in Hinwyl unter Diebstahlsverdacht festgenommen, erschoß er den Polizisten und dessen Frau.

Jeder Lebenslängliche darf nach zwölf Jahren einwandfreier Führung um seine Begnadigung beim Obersten Rat der Eidgenossenschaft einkommen. Doch nicht einmal nach fünfzehn Jahren pflegt einem solchen Gesuch die Bewilligung zu folgen; sie sind streng, die Schweizer Bürger, und glauben an ihr Recht, zu strafen. Und das Züricher Gefängnis ist ihnen ohnedies zu human. Zu human! Stumm leben, nicht rauchen, kärglich essen und gegen kärglichen Lohn jahrein, jahraus zehn Stunden täglich roboten, monatelang keinen Brief und keinen Besuch sehen, nichts von den so nahen weißen Alpen und den hellblauen Seen – das ist zu human!

 


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