Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Die Giftschränke der deutschen Bücherei

Benachbart jenem Saal der bibliophilen Kostbarkeiten, in dem die Deutsche Bücherei ihre pflichtgemäße Sammeltätigkeit zu ästhetischer Wertung steigert, sich vom Stapelplatz bedruckten Papiers zu einer Walhalla des Buchgewerbes erhebend, benachbart jener Schaustellung der schönen Bücher ist das Versteck der häßlichen Bücher, ist die verfemte Literatur gesichtet und verzeichnet: Kartothek der verbotenen Druckschriften.

Denn auch die Beschaffung und Aufbewahrung der nach § 41 StGB unbrauchbar zu machenden Presseerzeugnisse, der durch die Militärbehörden beschlagnahmten, aus dem Handel zurückgezogenen oder auf Wunsch der Verfasser und Verleger geheimzuhaltenden Werke gehört zu den vielen Obliegenheiten der Deutschen Bücherei in Leipzig. Sie wendet sich mit der Bitte um Überlassung derartig abgetriebener, totgeborener oder umgebrachter Exemplare an alle Regierungen, und diese willfahren im allgemeinen dem Wunsch, sei es aus eigenem Verständnis für den Wert eines solchen anatomisch-pathologischen Museums der Literatur, sei es auf Grund der Unterstützung, die die sächsische Staatsregierung dem Gesuch auf diplomatischem Wege angedeihen läßt, sei es, weil die deutsche Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate in Berlin (Telegrammadresse: »Polunbi«) und ihre Filialen froh sind, etwas von ihren Beständen loszuwerden.

Übrigens ist nicht alles lebensgefährlich, was die Giftkammer beherbergt, so zum Beispiel die vertraulichen Mitteilungen diverser Organisationen, Betriebsnachrichten, studentische Zeitschriften privater Natur (»Intime S. C.-Nachrichten«, Kneipzeitungen und »Kommersblätter«) und ähnliche Manuskriptdrucke, deren Deponierungszweck sozusagen im Futurum praeteritum liegt: Es wird nach Jahren wertvoll sein, sie beizeiten angesammelt zu haben, da auf diesen Tummelplätzen kleiner Zirkel erfahrungsgemäß die künftigen Größen ihre ersten Gehversuche machten. Der brave Wilhelm Raabe muß sich gar mit seinen Gesammelten Werken in der Zelle der Verfemten sehen! Daß er nichts dafür kann, ist eben der Grund dieser Verdammung: Die Ausgabe erschien ohne seine und seines rechtmäßigen Verlegers Einwilligung, und alle unbefugten Nachdrucke werden urheberrechtlich verfolgt, die Exemplare aus dem Buchhandel gezogen, vernichtet und nur eines – zu ewigem Gedächtnis – der Deutschen Bücherei überantwortet.

»Nicht verleihbar!« steht auf jedem Zettel, deren Gesamtheit den deutschen Index seit 1913 bildet, und fast immer auch Namen von Autor und Drucker, obwohl diese nur selten im Exemplar angegeben sind – staatsanwaltschaftliche Recherchen haben es an den Tag gebracht und der Deutschen Bücherei gemeldet. Zwei Hauptgebiete lassen sich in dieser klandestinen Bibliothek unterscheiden: Politik und Erotik, und innerhalb jeder der beiden Gruppen zwei Kategorien: Schundliteratur und wissenschaftliche Forschung.

Die politischen Schriften hängen naturgemäß zumeist mit dem Weltkrieg und der Revolution zusammen. Aus dem Krieg sind pazifistische Vorschläge vorhanden, die als streng geheime Privatdrucke von politischen Persönlichkeiten an den Kaiser, die Regierung und die Oberste Heeresleitung abgingen und schon 1914 oder 1915 dartun sollten, daß ein Friedensschluß notwendig sei, da Deutschland einen Krieg gegen die ganze Welt aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen verlieren müsse. Ihnen stehen annexionistische Immediatanträge gegenüber, darunter der einer schlesischen Adelsgruppe vom Herbst 1918, Deutschland möge nicht bloß von Belgien, sondern auch von einigen anderen Staaten definitiven Besitz ergreifen. Ungeheuer ist die Menge der illegalen spartakistischen Flugschriften, besonders aus den Tagen der Novemberrevolution und der Märzaktion von 1921. Selbst nie erschienene Bücher, beispielsweise die aus dem Druck zurückgezogenen Kriegsmemoiren des Generalstabschefs Moltke, wußte die Deutsche Bücherei zu erlangen.

Die Flut der erotischen Buchproduktion hat die Giftschränke der Deutschen Bücherei überschwemmt und Rückstände hinterlassen. Neben Kunstwerken, wie den beschlagnahmten Mappen des kühnen Malers George Grosz, den sechzehn Radierungen zur Erbsünde – einer erotischen Schöpfungsgeschichte von Walter Klemm –, neben Blättern von Rembrandt, Peter Fendi, Nepomuk Geiger, Beardsley, Klimt und Kainer, neben deutschen Übersetzungen von Verlaine, Gautier, Musset, Huysmans und Baudelaire, neben den Zeitschriften »Die Opale« und »Der Amethyst«, neben Franz Blei und Franz Blei, neben gelehrten Untersuchungen, wie den »Anthropophiteia«-Bänden von Professor S. Krauss, oder kulturhistorischen Originaldenkmälern, wie dem indischen Liebeslehrbuch »Kamasutram«, gibt es spekulative und pornographische Zustutzungen des Aretino und des Boccaccio, des Casanova und des Faublas, des Marquis de Sade und des Herrn von Sacher-Masoch, illustrierte Privatdrucke von Goethes »Tagebuch«-Ballade und Schillers erotischen Hymnen, lithographierte Hefte mit nahezu tausend Strophen zum »Wirtshaus an der Lahn« (es ist erstaunlich, was Frau Wirtin alles hat!), die apokryphen Selbstbiographien von Sängerinnen, Tänzerinnen, Masseusen, Klavierlehrerinnen, Kammerzofen (die Octave Mirbeausche mußte sich vielerlei Bearbeitungen gefallen lassen) und Kontrollmädchen, von denen »Josefine Mutzenbacher« aus Wien die am häufigsten aufgelegte ist, ganze Serien »Salonbibliothek«, »Schlafzimmergeheimnisse«, »Bücher der Leidenschaft«, »Bibliothek moderner Erotik«, uralte saudumme Cochonnerien, welche dennoch (oder deshalb) immer wieder ihren Spekulanten finden, »Indiskretionen eines Hotelbettes«, »Aufzeichnungen der Witwe Nimmersatt«, »Lesbische Pensionate«, »Mysterien der Insel Lesbos«, »Flagellantinnen im Kloster«, »Der strenge Rektor der Mädchenschule«, »Mit Stock und Peitsche« und ähnliche Hilfsmittel impotenter Phantasie, Komplizen der geistigen Vergewaltigung.

Allzu tief ist die Hölle nicht, die das letzte Jahrdutzend geschaufelt hat, lange nicht so tief wie jene Hölle der Bibliothèque nationale, deren Abgründe Guillaume Apollinaire kartographierte. Und dabei sind diese deutschen Bücher und Büchlein des Leipziger Orkus nicht einmal alle in Deutschland gedruckt, viele kommen aus der Schweiz, aus Budapest, aus Amerika, und man ersieht, daß das verbotene Buch dort am üppigsten wuchert, wo die strengste Zensur den Dünger liefert.

 


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