Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Eilige Balkanfahrt

Mai 1913

Hinter Szalaria, nahe der Serpentine Cattaro-Cetinje, wo die Schuppen der Schmiede und der Fuhrleute (ihr Eselstall ist immerhin schöner als ihr Wohnraum) und der Häusler stehen, spielen schmierige Kinder mit Aloeblüten, mit Pyramidenglockenblumen und mit wilden Rosen. Man fragt eines der kleinen Mädchen, möchtest du mir die Blumen geben, und ohne weiteres erhält man den Strauß, aber den Kreuzer, den man der Kleinen dafür reicht, will sie nicht nehmen, schaut scheu die Münze an, dann den Spender, dann die Spielgefährten, dann läuft sie schnell und freudig mit dem Geldstück davon. Kommt man nach einer halben Stunde desselben Weges zurück, lauern etwa dreißig Kinder, strecken Blumen entgegen, betteln und sind nicht abzuschütteln. Man hat sie mit dem Kreuzer verdorben – ein Miniaturbild der Politik, die die Großmächte auf dem Balkan betreiben.

Mützenkunde ist hier eine Wissenschaft. Türken sind ohne den roten Fez mit schwarzer Quaste nicht denkbar; die Kopfbedeckung der Kroaten ist der Pomigl'oro, ein flaches rotes Mützchen; Bosniaken sind am übermäßig hohen, quastenlosen Fez kenntlich; die Czernogorzen schmückt ein schwarzes flachzylindrisches Käppi mit rotem Deckel, auf dem goldgestickt die Initialen des Königs sind; der Fez der Herzegowiner ist von tief dunkelroter Färbung, und darunter, auf dem Scheitelpunkt, sitzt ein winziger »Tonsurdeckel« aus kahlem Lammfell; die Malissoren und die Miriditen krönt ein weißer Leinenfez. Verheiratete Montenegrinerinnen tragen ein schmuckes schwarzes Tuch, das aus ihrem Haarschopf über den Rücken rollt. Die Mädchen ziert ein schwarzrotes Mützchen mit Silberstickerei, und man sieht Greisinnen, die das Kopftuch nicht erworben haben, mit der koketten »Kapica« der Jungfrauen.

Zu den Märkten der dalmatinischen Städte kommen montenegrinische Frauen und Mädchen mit Eiern, Grünzeug, lebenden Lämmern, Reisigbesen und Holzbündeln. Sie stricken auf dem Weg über den Küstenkarst, sie stricken vor ihren Körben und setzen die Nadeln auch während des Feilschens und Verkaufens nicht außer Betrieb. Ein Arzt des Roten Kreuzes erzählt von einer Frau, die einen Abgrund hinuntergestürzt war und sich den Oberschenkel gebrochen hatte; trotz ihrer Schmerzen strickte sie bis zur Ankunft des Krankenwagens, strickte während der Fahrt ins Spital bis zum Beginn der Narkose.

Steigen auf den Hängen des Karstmassivs Nebelschwaden und über den Gipfeln wuchtige Wolken auf, dann wirkt die Bocche nicht mehr wie eine kitschige Ansichtskarte, die Adria nicht mehr wie ein süßlich-blaues Wässerchen, und es ist die beste Zeit zu einer Bootsfahrt. Durch Nebelrisse blitzen die Schneefelder des Pestingrad, die man von der Stadt aus nicht zu sehen vermag, zwischen Fjorden liegt schwarz und schwer das Wasser. Immerfort stößt des Schiffchens Kiel auf Scoglien, Felseninseln, daß die Planken zittern. Die wolkig verschwimmenden Bäume und Sträucher mit rauchenden Ranken und Zweigen verdecken die Küstenhäuser; wenn ein Lustschloß verfällt, wächst der Park um so wilder empor – die Häuser am Rande der See, die hier ein See ist, sehen alle wie solche morbide Sommerresidenzen aus. Fährt man hart am Ufer, wird dieser Eindruck bekräftigt durch prunkvolle Steinbalkone und Renaissanceplastiken auf brüchigen Fassaden. Die Festung mit ihrem putzigen Kampanile stammt gleichfalls aus der Venezianerära, einer Zeit, in der das Epitheton »gebieterisch« das ästhetische Moment mit dem strategischen vereinte. Einer Gondelpartie im Canale Grande gleicht dieser Teil der Meerfahrt. Aber nur Castelnuovo und Cattaro zeigen Spuren aristokratischer Vergangenheit, und die verschwinden an den Ortsgrenzen – der geflügelte Löwe und die marmornen Veduten verbergen sich unter simplen Firmenschildern der Krämer oder hinter der ausgehängten Wäsche armer Fischerfamilien. Elender sind die Bauten der modernen Zeit. Wo die Berge der Krivošije direkt in die Adria abfallen, stehen Dörfer auf steilem Bergrand und am Meeresrand zugleich. Morsche Bretterbuden. Als öffentliches Gebäude ist eine gebrechliche Hütte gekennzeichnet, die Tabaktrafik; außerdem ist sie »Prodeja pica i jediva«, Schnapsflaschen mit Gläschen sind auf dem Pult gruppiert, von den Balken der Decke hängen Tücher, Bürsten, Stricke und Besen und verdecken den Wirt, Kaufmann und Trafikanten. Rechts in der Ecke ein Tisch, an dem ein paar Soldaten sitzen – die Grenzgebirge stecken voll k. u. k. Truppen, hierhergeschickt, ihr Leben zu opfern, wenn Montenegro Skutari nicht herausgibt, wodurch das ausgezeichnet bewährte europäische Gleichgewicht das Gleichgewicht verlieren würde. Darüber sind sich alle Regierungen dieses so glücklich ausbalancierten Kontinents einig, die Soldaten jedoch von der hehren Mission durchaus nicht begeistert. Die hier in den neuen feldgrauen Monturen sitzen, an den papageigrünen Aufschlägen als Einundneunziger kenntlich, sprechen tschechisch. Befragt, wehklagen sie. So fern von Wrschowitz und der Kultur müssen sie ihr Dasein verbringen. Kein Kino, kein Bier, kein Mädel, fünf Tage nicht aus den Kleidern gekommen, sie schlafen in Zelten zwischen Dorfstraße und Meer, und die Wellen pinkeln manchmal nächtlings auf die Felsenmatratzen. Einer ist schon sieben Wochen von daheim fort, von Weib und Kind, Sorge plagt ihn und Eifersucht. »Jung ist sie und hübsch.« Maulesel suchen starrköpfig im kahlen Kalkboden nach Gras. Durch Fahnenschwingen telegrafiert ein Gefreiter, vom Grat signalisiert man die Antwort. Ein Infanterist hat den Kopf verbunden. »Bin in ein Drahthindernis gefallen. Ein Millimeter tiefer, und das Auge war weg gewesen.« – »Dabei geht's uns noch gut. Sechs Stunden von hier, oben auf dem Kamm, sind Bataillonskameraden.«

Die Leute langweilen sich, sie lassen einen Besucher nicht gern fort. Will man wieder die Barke besteigen, so hört man Soldatenstiefel laufen, ein Offizier, ein Feldwebel und ein paar Infanteristen, Gewehr in der Balance, nahen, zwei Soldaten queren strategisch von der Landstraße ab, rennen diagonal auf das Boot zu und packen das Landungsseil. Einige Augenblicke später sind auch die anderen da. »Bitte, sich zu legitimieren.« Bitte, man legitimiert sich. »Woher kommen die Herren?« – Aus Cattaro. – »Und was haben Sie hier gemacht?« – Eine Spazierfahrt in der Bocche. – »Soso! In Zeiten der Kriegsgefahr macht man eine Spazierfahrt in der Bocche?« – Ja, man ist eben wegen der Kriegsgefahr da, Herr Hauptmann, man ist Journalist, wie aus der Legitimation hervorgeht. – »Pah, eine Legitimation kann man sich leicht verschaffen. Außerdem ist mir gemeldet worden, daß Sie sich auffallend benommen haben und Notizen gemacht.« – Gewiß, Herr Hauptmann, aber ein Spion wird sich doch nicht auffallend benehmen, am allerwenigsten Notizen machen. – »Davon habe ich andere Auffassungen. Sie werden mir ins Kommando folgen.«

Man ist gefangen, der Hauptmann ist froh, eine Abwechslung gefunden zu haben, und wenn's gut geht, das heißt, wenn der Häftling als Spion entlarvt wird, kriegt der Herr Hauptmann sicher einen Orden. Zum Unglück gibt es eine Feldtelefonverbindung mit Cattaro, das Militärkommando ist informiert, aus ist es mit der Gesellschaft, der Füsilierung und dem Militärverdienstkreuz.

Im Autobus, der von Cattaro nach Cetinje fährt, sitzt unter anderen ein siebzehnjähriger Junge, Serbokroat, Oktavaner eines dalmatinischen Staatsgymnasiums und Sohn eines k. k. Landesgerichtsrates i. R. Bei Ausbruch des Balkanbrandes ist er auf und davon, um im Krieg gegen die Türken – sein verkrüppelter Fuß erlaubte ihm nicht, als Soldat einzutreten – auf slawischer Seite im Roten Kreuz tätig zu sein. Er zieht eine Nummer der in Belgrad erscheinenden »Ratna Kronika« aus der Tasche, die seine Photographie mit der Aufschrift »Peter, Fürst Gucetiæ, ein slawischer Balkankämpfer aus Österreich« zeigt. Fürst? Ja, er entstamme dem Fürstengeschlecht aus der Zeit der Ragusaner Republik, über die von Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts an bis zum Frieden von Campoformio ein venezianischer Comes herrschte. Die Slawen nannten diese Grafen »knez«, »Fürst«, in Österreich haben die Deszendenten nur das Recht zur Führung des Prädikats »Edler«. So besitze er alle Adelsgrade. »In Österreich darf ich freilich nicht mehr maturieren. Ich mache in Serbien das Abiturium, und nächstes Jahr studiere ich in Wien oder in Prag an der Universität weiter.« Das Automobil nimmt Benzin. »Ob es nur reichen wird«, besorgt der Chauffeur. Obwohl auf der Marina an hundert Benzinfässer liegen, darf er nicht mehr als vierunddreißig Liter mitnehmen, das Normalquantum für eine Bergfahrt. Österreich will in gespannten Tagen Montenegro nicht mit Benzin beliefern.

Die Fahrt geht über den Gorazdaberg, die dalmatinische Vegetation hört hinter Skaljari auf, und an ihre Stelle tritt wirres Steingetrümm, formlos und in mannigfaltigen Phantasiegebilden. Bald streckt ein Elefant seinen Rüssel aus, bald glotzt ein ungeheures Gesicht, bald kauert ein Embryo zwischen zwei Blöcken, bald scheint die Straße von Tierköpfen eingerahmt, bald spreizt ein überdimensionaler Adler auf einer Felsspitze seine Fittiche. Auf der Paßsperre St. Trinità, zweihunderteinundachtzig Meter hoch, flankieren aufgepflanzte Bajonette der k. k. Finanzer und Gendarmen das Auto, Revision, das ist aber nicht die Grenze, immer noch begegnet man österreichischen Patrouillen. Vom dunkelgrünen Hang des Vermatsch geteilt, liegt schräg unten die Cattariner Bucht mit ihren rotgedeckten Häusern und die Theodobai, in der drei Kriegsschiffe nebeneinander ankern, flottendemonstrativ. Der Kirchhof von Skaljari ist von Zypressen umsäumt, die winzigen Kukuruzfelder am Ufer von plump aufgeschichteten Steinmauern – Schutz gegen das Wegschwemmen des Ackerbodens. Weinlaub klimmt auf Stöcken empor, bald wird Malvasier und Muskat geerntet, in Zisternen nach Frankreich gehen und von dort, auf Flaschen gezogen und mit »Bordeaux« vignettiert, in die ganze Welt. Zwiebelfelder und Olivenkulturen sind wie bunt angelegte Trapeze, Parallelogramme und Rechtecke.

Die vierundzwanzig Pferdekräfte rattern an kahlem, verwachsenem, durchrissenem, wildem Karst vorbei, die Steinflanken rechts gehören zum Lovčen. Sechshundert Meter hoch, an scharfer Biegung, ist das letzte österreichische Gebäude, »C. k. cestarska kuča«, das Wegeinräumerhäuschen, doch ist auch Mokka zu haben in winzigen Täßchen, die zur Hälfte von Kaffeesatz erfüllt sind, der Herd in Zimmermitte wird mit grünem Reisig geheizt, so daß dicker Rauch in der Stube lagert.

Kürzer werden die Windungen der Serpentine. Hinten, zwischen dunklen Karsttürmen, sieht man die bisherige Strecke wie einen Seidenfaden, in den Knoten geschlungen sind. Man befürchtet, daß das Auto ins Schlingern geraten könnte, worauf es unfehlbar in die hundert Meter tiefen Abgründe stürzen müßte. An besonders schroffen Kurven sind etwa vier Meter lange, niedrige Mauern errichtet, zwischen ihnen Prellböcke eingerammt. Hinab schauen wir auf den Vermatsch, in dessen Schutz sich die Garnison und die Schiffe bei Cattaro so sicher fühlten, dessen Forts uns am Anfang der Fahrt so imponierend hoch erschienen, tief unten liegt der Gorazda, von dem österreichische Steilgeschütze nach Cetinje zielen, und, mit freiem Auge nicht erkennbar, die Festungen San Giovanni di Cattaro und Spagnuala di Castelnuovo. Zu unseren Häupten aber leuchtet ein Gletscher des Lovčenkammes. (Der Lovčen ist 1759 Meter hoch, der Vermatsch 789 Meter.)

Im Defilé zwischen Mrajanik und Lovčen verliert man das Meer aus dem Gesichtsfeld, an der Tafel, die in einer Höhe von 904 Metern die Grenze bezeichnet, jagt der Autobus ungehindert vorbei, kahles Land. Halt. Njegusch, die erste montenegrinische Stadt. Eine Stunde später sind wir in Cetinje.

Die Blockade hat Benzinmangel mit sich gebracht, und der Autoverkehr mit Rijeka ist eingestellt. Man wüßte nicht, was mit dem Vormittag anzufangen, die Sehenswürdigkeiten von Cetinje sind bald besichtigt, protzige Gesandtschaftspaläste – Wettrüsten der Architekten –, fensterlose, ebenerdige Häuser, der runde Klosterturm auf einem Felsen – wie gesagt, man wüßte nicht, wie man den Vormittag verbringen sollte, könnte man nicht den König besuchen. Links im Hochparterre des Konaks ist die Antichambre mit drei Ölgemälden, Leute warten, ein Adjutant sitzt beim Tisch, vor ihm liegt ein Bogen, in den Namen und Begehr jedes Audienzbewerbers eingetragen wird. Da man Journalist ist, muß man zuerst ins Ministerium des Äußeren. Das ist drüben im Regierungspalais – dem einzigen montenegrinischen Gebäude in Cetinje außer dem Königsschloß, das ein Stockwerk hat. Einige Zimmer sind als Lazarett eingerichtet, vor denen Verletzte und Angehörige der Patienten stehen. Eine Tür mit den Aufschriften »Kr. C. Ministarstvo unutrašnich diela« – »Ministère royal des affaires étrangères« öffnend, sieht man einen jungen Mann in roter Duschanka. Nein, er sei nicht der Minister, nur der Diener, aber er werde den Herrn Minister gleich holen. Was nicht wörtlich zu nehmen ist: Er bringt bloß den Ministerialsekretär Milo Ramadanovich, der vor allem dahin informiert, ein Interview mit dem König müsse noch am selben Tag der Kabinettszensur vorgelegt und im adressierten Kuvert dem Ministerium zur Expedition überlassen werden. (Das Land ist klein, und ohne diese Vorsichtsmaßregeln könnte ein Journalist europäische Verwicklungen hervorrufen, indem er das Königswort deutelt und verdreht. [Könnte er das nicht trotz der Zensur verüben, wenn er nach Österreich hinüberfährt und dort schreibt oder telegrafiert, wozu er Lust hat?]) Der Herr Ministerialsekretär begleitet zu Seiner Majestät. König Nikita geht im Audienzsaal, einem gebohnerten Salon mit Riesenvasen, auf und ab, ein mit grauem Bart auf Wange und Hals geschmückter dicker Herr, der in hellblauen Hosen, hellrotem, goldgesticktem Rock und roter Schärpe noch dicker wirkt, die Röllchen rund und von majestätischer Größe. Er ist trotz seiner siebzig und trotz der Korpulenz von großer Beweglichkeit. Während des Gesprächs zieht er eine silberne Dose aus der Bauchbinde, in welchem Augenblick der an der Wand stehende Adjutant mit einem Feuerzeug herbeispringt. Kaum daß der Ministergehilfe den »Novinar iz Praga« präsentiert und dieser seinen Wunsch, »d'accepter un recueil authentique de la situation . . .«, vorgebracht hat, beginnt der König in lautem Ton und mit lebhaften Handbewegungen zu erklären, Montenegro könne Skutari unmöglich herausgeben, niemals, der Zugang zum Meer sei die einzige Existenzmöglichkeit des Staates, der Bojanafluß sein Lebensnerv, und der gelähmt, bliebe das Ostufer albanisch. Die Bojana und der Skutarisee seien für Montenegro und den ganzen Welthandel absolut wertlos, wenn sie nicht in der Hand einer zivilisierten, christlichen Nation wären, sondern in der der wilden Albaner. Dadurch würden die Balkanwirren nur eternisiert, denn man vermag die montenegrinischen Wünsche nach Erfüllung dieses lebenswichtigen Anspruches niemals zu unterbinden. »Die Mächte sprechen von Prestige, aber niemand bedenkt, daß das Königreich Montenegro auch ein Prestige zu wahren hat. Wir haben in unserem Kriege gegen die Türken die Stadt unter furchtbaren Opfern erobert und können sie trotz Demarche der Großmächte, trotz Flottendemonstration und Blockade nicht herausgeben, um keinen Preis der Welt.« Der Interviewer wagt zu fragen, ob nicht eine Rekompens möglich sei, aber Se. Majestät erwidert, energisch im Ton, diplomatisch im Wortlaut: »Montenegro hat alle Versuche, sich durch eine Entschädigung abfinden zu lassen, weit zurückgewiesen. Es gibt keinen Ersatz für Skutari.« Das ist Nikitas letztes königliches Wort, er wendet sich um, er will dem Interviewer nun einmal Skutari nicht abtreten. Der geht zum Ausgang, Se. Majestät besinnt sich, ruft ihm »Na zdar!« zu und lacht glücklich, weil ihm der tschechische Gruß eingefallen ist. Am Nachmittag erhält man die Einladung zur Hoftafel, am Abend wohnt man ihr bei, aber sie verläuft schmerzlos. Birnensuppe, Hammelbraten mit Sauce tatare, Torte, Eis und Mokka, der König bleibt nur eine halbe Stunde, es sind noch zwei Ministerialbeamten beigezogen, zwei Konsuln, die vor der Belagerung Skutaris geflüchtet waren und nun zurückkehren, und ein höherer türkischer Funktionär, der bei der Eroberung Skutaris gefangengenommen und jetzt freigelassen wurde.

Am nächsten Morgen liefert man das Interview dem Ministerialsekretär ab, der es ins Nebenzimmer trägt – wahrscheinlich zum Referenten für österreichische Angelegenheiten. Nur einige formale Korrekturen sind zu machen, zum Beispiel die Ichform des Königs in »der montenegrinische Staat« zu ändern und der Name »Skutari« durch »Skadar« zu ersetzen. Doch ist das Manuskript erkennbar kopiert, und man hat den Durchschlag vorzulegen, damit auch dieser richtiggestellt werde. (Als ob man nicht jenseits der Grenze jeden Zensurstrich öffnen könnte!)

Der Autoverkehr ist noch immer eingestellt, ein Wagen nicht aufzutreiben, und man muß zu Fuß nach Rijeka, an die Ostseite Montenegros. Nach kaum dreiviertelstündigem Marsche ist man auf dem Belvedere, einem Hügel, von dem aus sich ein weiter Prospekt ostwärts erschließt. Schilfumstanden und mit Wasserpflanzen übersät liegt der Skutarisee da wie ein ungeheurer Sumpf, die Firne der albanesischen Berge dahinter brennen in Weißglut, ihrem Namen Ehre machend, das ist nicht mehr die düstere graugrüngraue Höllenwirkung des Karstes, das ist Alpenlandschaft. Noch vier Stunden dauert es, bevor man, nach kurzer Einkehr in die grottenartige Behausung einer weinkredenzenden Hexe, im Abenddämmer in Rijeka ankommt, begleitet von Schüssen, die aus unmittelbarer Nähe abgefeuert werden und von den Felsen zehnfach widerhallen; montenegrinische Burschen machen mit Militärgewehren und ‑patronen Jagd auf »uklevy«, kleine Fische.

Die Umgebung Rijekas ist beinahe tropisch. Maulbeer, Quitte, Granatäpfel und Feigen betäuben geradezu durch ihr Parfüm, weit ausladend ist das Gerank. Aber die Stadt! Albanesisch, schmutzig, schief gebaut, gebrechlich. Wenn Skutari Skadar wird, muß dieses Nest aufblühen, denn es liegt in der Mitte des Weges zwischen Cetinje, der Metropole, und Skutari, der größten Stadt, ist der Umschlagsplatz zwischen Skutarisee und dem Landweg nach Europa. Um so trister ist Rijekas Gegenwart, und eines der ärgsten Häuser ist das Hotel, sein Äußeres straft das Innere nicht Lügen. Dort übernachtet man.

Jäh verschwindet jeder Gedanke an individuelle Beschwer vor dem kumulativen Jammer jenseits des Sees, vor dem Elend der Stadt, die belagert war und nun erobert ist, über die der Hunger herrschte und noch immer herrscht, trotz aller Fruchtbarkeit des Wilajets. Vierhundert Erwachsene und zweihundert Kinder starben während der Zernierung an Hungerödem. Jetzt dürfen Maulesel aus Buschati wieder Kukuruz heranschleppen, Schiffe bringen in geflochtenen Käfigen Ferkel aus Altmontenegro, ohne Kanonenschüsse vom Tarabosch fürchten zu müssen. Doch noch immer bettelt kreidebleich, zu Gebein abgemagert, schlotternd, wankend, lallend, groß und klein um einen Bissen Brot. Werden ihnen ein paar Para zuteil, dann galvanisieren sich die Knochen und tappen zum Fenster, wo Brot zu haben ist, für einen Piaster ein Stück aus schwarzem Mehl und so klein, daß man es mit zwei Fingern umspannen kann. Wehe dem Philanthropen – ein Totentanz umwirbelt ihn, jeder, jeder hat Anrecht, das entschiedenste »Hadasch« genügt nicht zur Abwehr, die Makabren berühren den Wohltäter mit ihren Fingerknochen, starren aus gläsernen Augen, weichen nicht von seiner Seite.

Es gibt Mehl und Schafkäse, doch das montenegrinische Militär, das sich in immer stärkeren Massen zusammenzieht, ißt es auf und treibt die Preise in die Höhe, die Soldaten haben lange nichts anderes als die Ration bekommen, ein Kilogramm Brot, zweihundertfünfzig Gramm Reis und Bohnen. Zigaretten sind billig.

Am bejammernswertesten sehen die Hunde aus, die hier, wie in den meisten Städten des Orients, herrenlos vor den Türen lungern. Sie mögen auch früher nicht wohlgepflegt gewesen sein, aber nun durchdringen ihre Rippen das räudige Fell, lethargisch, unempfindlich gegen Tritte liegen sie auf dem Bürgersteig, suchen im Straßenschmutz Nahrung, und begegnen einander dort Hund und Hündin, so beschnuppern sie sich nicht einmal . . . Oft sitzt ein Mensch zwischen den Hunden, den Rücken an eine Häuserwand gelehnt, kraftlos.

Die Kabinette aller Großmächte verhandeln wegen Skutari, marschieren und demarchieren, blockieren und mobilisieren, demonstrieren und konferieren, statt mit hundert Waggons Mehl die Stadt der Hungersnot zu entreißen, die einzig mögliche europäische Politik zu machen! Geringschätzig schaut man auf den Balkan von jenem furchtbareren Balkan, der Europa heißt.

Der Häuserbau in Albanien steht auf niedriger Stufe – eine einzige Granate genügt zum Einsturz zweier Häuser. Fast neuntausend Artilleriegeschosse wurden in die Stadt gefeuert. Manche Straßen erinnern an Pompeji. Nur die untersten Mauerreste sind geblieben und sagen, hier stand ein Gebäude, hier wohnten Menschen, nun irren sie obdachlos und hungernd und ohne Habe umher und gehen abends im steinigen Inundationsgebiet des Kir zur Ruhe. Die Häuser, die an die zusammengeschossenen grenzen, zeigen dermaßen bedrohliche Risse, daß man sich unwillkürlich auf die andere Seite der Straße drückt. Die große katholische Kirche liegt halb in Schutt und Trümmern, von den Lufterschütterungen des Bombardements zersplitterten alle Fensterscheiben und bunten Glasmosaiken über den Torsegmenten.

Mäntel von Schrapnellen und Granaten sind beliebtes Kinderspielzeug. Den Tisch, an dem man sein Abendbrot, Eier und Schafkäse, verzehrt, »schmücken« braune Geschoßmäntel als Vasen, Schwertlilien stecken darin.

Diplomaten kommen an, man diskutiert die Balkankrise, von Tag zu Tag verdichtet sich das Gerücht von der Neutralisierung Skutaris, bald wird auch bekannt, daß der König bereits in die Abtretung gewilligt habe und daß die Übergabe der Stadt an ein internationales Detachement noch in diesem Monat vollzogen wird.

Am 25. Januar griechischen Kalenders, das ist am 10. Februar dieses Jahres, hatten die Czernogorzen auf dem Bardanjol, der Hügelkette nördlich von Skutari, nach dreitägigem Kampfe zwei Positionen der Türken eingenommen, die Montenegriner geben zweitausendfünfhundert Tote und Verwundete an, von den Truppen Hassan Rizas fielen viertausend. Seither sind drei Monate verstrichen. Auf den eroberten Flächen haben die Sieger Zelte aufgestellt, Abteilungen, Wachen und Patrouillen hüten den Berg.

Die Straße Domus-Bazar entlang vor die Stadt, am katholischen Kirchhof vorbei. Bis hierher hat sich Skutari nicht ausgedehnt, denn dieses Terrain setzt der See alljährlich unter Wasser. Flache, glatte Steine und Sand markieren das unendliche Inundationsgebiet. Der schmale Schienenstrang der Rollbahn ist ein sicherer Wegweiser. Am Horizont übergeht der Sand in glitzerndes Silber, später erkennt man den Fluß, der die kahle Landschaft durchströmt. Eine Holzbrücke führt über den Kir, vor dem weißen Schilderhäuschen ist eine Wache postiert. Soldaten waschen mit nacktem Oberkörper ihr Hemd und breiten es zum Trocknen aus. Hinter Gehölz, dessen Boden mit gigantischem Farnkraut überwuchert ist, ein kahles Plätzchen: die erste Spur des Kriegslagers, verkohlte Holzscheite, ein kreisrunder Abdruck im Boden, vom Kessel einer Feldküche stammend. Wenige Schritte weiter der Schützengraben. »Graben« ist nicht das richtige Wort, »Schützenschlucht« sollte es heißen; in die braunroten Felsen haben Hacken einen Riß gekerbt, hoch genug für einen aufrecht stehenden Mann. Mit dem geförderten Steinmaterial wurde die Deckung maskiert. Zwei, drei Kilometer lang ist die künstliche Böschung, Steinsäcke zum Auflegen der Gewehre, tausend an der Zahl, sind von Schüssen versengt. Von zwanzig zu zwanzig Meter ist in den Schützenverhau eine Hütte gegraben. Unterstand für die aus der Schwarmlinie abgelösten Türken. Diese Festung überkletternd, erklimmt man die Hänge des Bardanjol. Überall die verfitzten Stacheldrahtrechtecke, die man entlanglaufen muß. Zur nächsten Position. Welch furchtbares Feuer hat hier gewütet! Der Fuß stapft in einem Meer von Kartons, Emballagen der Patronenmagazine. Bei jedem Schritt klirren Metallhülsen, mattglänzende, an der Spitze platt gedrückte Bleikörperchen liegen auf der Erde, die Gewehrgeschosse von drüben.

Zerfetzte Monturstücke, zerbrochene Hufeisen, durchlöcherte Brotsäcke, eine Spitzhacke, ein Tornisterfell, eine abgebrochene Bajonettspitze, schmutzige Tücher, Patronentaschen, Papiere, Stiefelsohlen, Stiefel und immer wieder Patronenhülsen und Patronenverschläge. Das Erdreich ist halbkugelförmig aufgewühlt, die Sträucher und Gräser und Farnkräuter verbrannt: Aufschlagstelle einer Granate. In den Gräben lagert noch Schweißgeruch der Soldaten. Vergeblich wirbelt man in krampfhaften Zügen Zigarettenrauch empor, Bremsen, Fliegen und Hummeln durchschwirren ihn, als wäre er blauer Äther. Pferdekadaver strecken gebleichte Knochen von sich, die braunen Fellfetzen bewegt der Windhauch, der, selten genug, vom See zum Bardanjol streicht.

Ein Posten, barfuß, tritt aus dem Schilderhaus, sein Hemd gelb von Alter und Schmutz, die Kleider zerrissen, das Gesicht mit Tüchern umwickelt. Von früh bis abends steht er Wache, wohnt hier, ein besonders armer Schlucker von Soldat, den man nur zu solchem Dienst verwendet. Vielleicht hat er den Posten für andere bezogen, die ihm einige Para bezahlen. »Du bist verwundet?« fragt man ihn wegen seines bandagierten Kopfes. – »Nein, das schützt mich bloß vor den Mücken.« – »Und was bewachst du?« – »Die Mitrailleuse da.«

Aus gehackter Grube lugt die Mündung einer alten Gewehrkanone, ein zweiter Unterstand, mit Wellblech gedeckt, diente als Munitionsdepot und Aufenthaltsort für den feuerleitenden Offizier und die Bedienungsmannschaft; hoch aufgeschichtet noch volle Geschoßverschläge. Links die letzte Artilleriestellung der Türken, vier moderne Kanonen, Lafetten und Rohre, hinter Verkleidungen aus Rasen und Erdwerk geborgen. Wattestücke liegen umher, die sich die Artilleristen bei dem mörderischen Krachen in die Ohren gestopft hatten.

An dem Felsen lehnt mit gebrochenen Holmen eine Tragbahre aus rotem Tuch. Aus rotem Tuch? Näher tretend sieht man, daß die Imprägnierung unregelmäßig ist, es ist geronnenes Blut. Krähen und anderes Gevögel kreist bodennahe. Eine halbverfallene Kuča hat tausend schwarze Punkte im Mörtel – Löcher der Gewehrprojektile.

Der Dunst ist nicht auszuhalten. Nur schnell vorwärts. Man stößt auf einen menschlichen Körper. Sein braungrüner Fez ist aus der Stirn gerückt, leere Augenhöhlen eines Kopfskeletts, über das sich wirre Haare schatten, starren ins Nichts. Da noch einer, auf dem Rücken liegend, die Knochen der Arme emporgereckt. Und dort wieder einer mit verkrampften Händen, und wieder einer, und wieder einer. Dann ein totes Pferd, daneben zwei tote Menschen.

In die Sträucher blinzelt ein Wässerchen. Ein toter Türke staut die Strömung; die Wellen spielen mit den losen Knochen, deren viele schon fortgeschwemmt sind.

Der Wachposten zeigt ein Massengrab seiner Waffenbrüder, von einer Steinplatte gedeckt. Ein niedriges Grabmal nennt in kyrillischen Lettern einige Namen. Der Pestgeruch, der herausdringt, ist stärker als der um die Unbestatteten.

»Warum begrabt ihr nicht auch die Türken?« – »Was kümmern uns die? Haben sie unsere Toten begraben?«

Czernogorzen aus dem Zeltlager füllen ihre Feldflaschen und trinken vom Wasser des Bächleins, das oben an der Türkenleiche zerrt.

 


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