Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Il Equilibrista

Sonntag vormittag sitzen wir an einem der leeren Tische hinten an der Galeriebrüstung des Zuschauerraumes, Rastelli trägt einen braunen Anzug, wie ein Bürger, nicht das rohseidene Knabenkleid mit den Pumphosen, das am Abend zur spielerischen Art seiner Kunststücke paßt. Auf der Bühne proben Parterreakrobaten, Sachsen. Ich frage ihn aus, er lacht italienisch, kauderwelscht deutsch, spricht englisch, wie es sich für einen in Rußland geborenen Artisten schickt, der eben aus Spanien kommt, nach Rumänien fährt und dessen Frau eine Dänin ist. Auf welche Weise er seine Kunst entdeckt hat, möchte ich vor allem wissen und erwarte vielleicht zu hören, daß er einmal als Kind unbedachtsamerweise ein Tischtuch herabgezerrt hatte und nun aus Angst alles, was fiel, mit seinen Händchen und Ärmchen auffing, Teller und Tassen, Vase und Lampe, Torte und Zuckerdose, zum Staunen der knapp vorher so erschrockenen Familie. Doch Enrico Rastelli:

»Oh, ick aben müssen lernen schon als bambino, als ein ganz kleiner Kind, you understand? Wir sein die alte Familie von Artisti in Italia, beaucoup des génerations de jongleurs. Sangue di artisti – Sie verstehen? Hunderttwenty Jahre wir schon arbeiten in die ganze Welt, grande tradizione! Meine bisnonno, meine Vorgroßvater ist geheißen Francesco Rastelli und gehabt große Successen, er aben gewesen in Saxonia, in die quartiere di guerra von Napoleone, bei Leipzig in Saxonia, aben er vor ihm gearbeiten, ma Napoleone è stato vinto, ist gewerdet besiegt und in the same week my Vorgroßvater aben gearbeiten vor drei andere Imperatore, Frederico Guillelmo di Prussia, Francesco di Austria e Alessandro di Russia – eine große Successen, n'est-ce pas? Grande tradizione, nevvero?«

Die Akrobaten auf dem Podium proben fluchend und schwitzend eine Pyramide, immerfort fällt oder springt einer ab, so daß Rastelli und sein Ausfrager sich nur schwer verständigen.

Können Sie mir noch etwas aus Ihrer Familiengeschichte erzählen?

»O no, I don't know nothing more – si, meine Großvater aben gehabt die Namen Raimondo Rastelli, aben gewesen 1848 – la revoluzione, Sie wissen? – in Budapest, Hungaria und aben müssen jonglieren die Tricolore nazionale di Hungaria auf die Nase, o la la, und dann aben gekommen die Austriaci und aben portato in prigione, einsperren meine Großvater Raimondo. Meine Vater, Alberto Rastelli, sein auch eine Jongleur – man sagen richtig: eine Jongleur?«

Ein Jongleur, Signore Rastelli.

»Si, si. Und meine Mutter sein auch ein Jongleur, Julia Bedini, aber Mama arbeiten nicht mehr. Meine Vater aben gewesen fünfundvierzig Jahre bei Zirkus Pirantoni und gespielen for a fortnight jeden Abend Soloprodüczion in Costantinopoli für Sultano Abdul Amid. Meine Vater gemachen alleine die Invenzionen von meine Trücs, tutto neue Systemen, alles original, differenti Systemen wie die andere Jongleuren, par exemple la famille Schäffer – ou Kara ou Cinquevalli – aben Sie gekennen Cinquevalli? – oh, eine große equilibrista!« – Haben Sie Geschwister, Herr Rastelli? – »Non, ick bin der einen Sohn.« – Sind Sie verheiratet? – »Ja, ja. Die Signora, was assistieren zu mir auf die Bühne, that's my wife, sie sein aus Denmark.« – Sie haben Kinder? – »Yes, I've two children – girls. Die sein bei ihre Großpapa in Bergamo.« – Also sind Sie der letzte Rastelli? – »O no, zwei Cousins, Adolfo und Oreste Rastelli, was arbeiten in eine Quartetto ›Rastelli e compagnia‹, ick hören, eine sehr gute troupe.« – Sie haben es bloß gehört? Haben Sie sie denn nie gesehen? – »Mai – mai, niemals. Wir sein ja immer in Engagement, sie sein jetzt in Südamerika. Einmal aben wir gearbeiten ganz nahe von sich: meine Cousins aben sein engagé in London und ick in Wien – aber ick nicht Zeit gehaben, zu machen die kleine Excürsion zu sie.«

Oben auf der Bühne haben eben die Parterregymnasten eine Pyramide gemacht, die zusammenstürzt. Zwei der Athleten fallen aufs Kreuz, die beiden Untermänner drehen sich nicht nach ihnen um, sondern richten die Armgelenksriemen.

Wann sind Sie geboren, Herr Rastelli, und wie lange sind Sie schon beim Geschäft?

»In Samara, in Rußland, bin ick gebort, in 1896. Wie ick waren vier Jahr alt, ick aben müssen cominciare a lavorare, zu arbeite, mit zwei piccolo, piccolo Kugel, wie die children spielen auf die strada, und dann mit drei Kirschen, und mit elf Jahre aben ick schon gearbeiten solo für Gage.«

Aber es hat Ihnen Freude gemacht?

»Pas du tout! In contrario! Ick nicht gerne gelernen. Erst wie ick sein größer gewerdet, aben ick bekommen Freude, zu machen neue Invenzionen, zu lernen neue Trücs, ick können jetzt zweihundert Trücen und trainieren ein ganz neuer Sache . . .«

Er will nicht verraten, was es ist – damit es ihm niemand vorwegnehme. – Ein anderer kann Ihnen doch nicht zuvorkommen, wende ich ein, es doch nicht schneller erlernen als Sie, der Meister. Aber Enrico belehrt mich, daß eine Idee durch schlechte Ausführung noch eher kompromittiert wird, und er hat recht. Wir sprechen von seiner Kunst, auf die ich drei Abende vom bezahlten Sitz fassungslos gestarrt hatte, von seiner Kunst, die die Überwindung der Schwerkraft durch Leichtigkeit, das dynamische Dementi der Statik und die Aufhebung der Physik durch die Physis, der mechanischen Gesetze durch menschliche Geschicklichkeit darstellt, und ich frage ihn, welches das schwierigste seiner Stückchen ist. Das Balancieren der sechs Teller, während der Gummiball auf seinem Nacken schaukelt, hat ihn ein Jahr Arbeit gekostet, acht Stunden täglich, das Emporwirbeln der acht Teller (von denen er vorher zwei in einem Bauchladen, einen im Mund und fünf in den Händen hält) beinahe anderthalb Jahre. Lange hat es auch gedauert, bevor er gelernt hat, kopfstehend, mit dem linken Fuß einen schweren Stern rotieren zu lassen, auf dem rechten Fuß einen leichten Reifen zu wirbeln, mit den Händen dabei drei Billardkugeln zu jonglieren und sich im Kreis zu drehen. Aber er vermag heute nicht mehr anzugeben, welches sein Clou ist. Was er kann, macht ihm keine Mühe mehr. Das Geheimnis der Gummibälle? Welcherart sind sie mit Klebstoff bestrichen, daß sie springen wie gewöhnliche Spielbälle und auf dem Rist des Fußes, nein sogar auf der Fußspitze abgestoppt werden können, um in scharfem Wurf auf seinem Kopf oder Nacken anzukommen, und doch nicht abprallen, sondern liegenbleiben, allen Gesetzen vom Stoß elastischer Kugeln und allen meinen Erfahrungen als Fußballer, der fast fünfzehnmal zweiundfünfzig Sonntage zwischen den Toren verbracht hat, strikte zuwider?

Enrico ist beleidigt, weil ich seine Instrumente für präpariert halte. »Andrea«, schreit er über die Bühne (auf der wieder eine Pyramide krachend zusammenstürzt und einer der Akrobaten sich schmerzverzerrt sein blutendes Knie reibt) in die Kulisse, »Andrea, portami tre palle, la verde, la gialla e quella a fiori, e due bastoni, ma presto!« Schon kommt Andrea herbeigerannt, mit einem grünen, einem gelben und einem geblümten Ballon und zwei weißlackierten Rundhölzern, so wie es der Maestro bestellt hat, und Rastelli reicht sie mir; ich sehe, daß sie wirklich nicht gummiert oder sonstwie präpariert sind – natürlich, er hat doch ausdrücklich bestimmt, welche der Assistent bringen sollte. Aber siehe da, sitzen bleibend wirft der Jongleur einen Ball schräg auf seinen Kopf, selbiger normale Ball tänzelt ein wenig und legt sich reglos hin, Enrico neigt das Haupt, und der Ball rollt über den Hinterkopf auf den Hals, dessen Peripherie entlang und setzt sich gehorsam auf den Nacken, wo er weiterer Befehle harrt. »Big practice, sentiment and feeling«, sagt Rastelli, »ick machen niemals keine Camouflage, Leute das merken, in Amerika kommen die Publikum sulla scena, toccare i miei Instrumenten und stehen bei mir, quando ick machen mein Experimenten.«

So erklärt er seine Kunst: »Big practice, sentiment and feeling« – große Erfahrung, Gefühl und . . . ja, wie übertrage ich »feeling« ins Deutsche, wenn ich schon »sentiment« mit »Gefühl« übersetzt habe? »Einfühlung?« Kann man sich in etwas Seelenloses, in Gegenstände einfühlen? Vielleicht liegt darin die Zauberei des großen Gauklers, daß seine Instrumente ihm keine leblosen Dinge sind, sondern Geschöpfe mit Gefühlswelt, die man erforschen muß, gleich der Welt der Kinder oder der Tiere, ehe man es vermag, mit ihnen richtig zu spielen, sie zu erziehen oder sie zu dressieren. Macht es nicht wirklich den Eindruck, als fielen die Kugeln und die Teller und die Reifen nicht nach den nüchternen Gesetzen der Physik, sondern nach dem Wink des Dresseurs, als kröchen, kletterten, hüpften, hockten sie dorthin, wohin der Lehrer wünscht? Als prallten sie von ihm nicht ab, weil sie ihn nicht fürchten, als blieben sie bei ihm, weil sie ihn lieben? Hat für ihn nicht jeder Ball ein Eigenleben, hat er nicht jeden der gleichartigen Gummiballons besonders bezeichnet, die der Famulus bringen sollte? Vollzieht sich hier das Wunderbare?

Rastelli weiß das gewiß selbst nicht, er nimmt eines der weißen Hölzer zwischen die Zähne, stellt auf dessen Ende den zweiten Stab im rechten Winkel auf, und ohne daß er den Kopf oder auch nur das Gebiß zu bewegen scheint, beginnt das vertikale Stöckchen sich zu drehen, zu wirbeln, eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten kreist es um seine Achse, springt in die Höhe und bildet plötzlich die Verlängerung des ersten Stabes, der noch immer zwischen den Zähnen des Meisters liegt, nur etwas aufwärts gerichtet.

 


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