Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Böhmisches Dorf in Berlin

Die weißen Porzellanbuchstaben auf der Fensterscheibe des Gasthauses sagen: »Inhaber Willibald Spazier«. Spazier ist ein Name, der eigentümlich klingt, selbst hier, wo auf Straßentafeln und Häuserschildern meist Namen stehen, die nichts weniger als berlinisch klingen. »Paloucek« heißt der Platz am Ende der Kirchstraße, in der die bethlehemitische Kapelle der Böhmischen Brüdergemeinde steht, durch die Jansastraße geht man, durch die Bartastraße, Liberda-, Benda-, Niemetz- oder die Wanzlikstraße, durch den Stadtbezirk 11, Neukölln, der den Kelch im Wappen führt und dessen Ämter derzeit folgendermaßen verteilt sind: »Vorsteher: Rentier Schlossareck, Schudomastraße 51; Schiedsmann: Kaufmann Albert Maresch; Waisenrat: Landwirt Albert Motil; Postamt Nr. 5, Ecke Johannes-Hus-Straße und Böhmische Straße.« Ist das Berlin? Ungepflastert ist die Kirchstraße und führt, ein beinahe deplaciertes Idyll, zwischen Scheunenfronten und Gartenzäunen, hinter denen ebenerdige Dorfhäuser typisch böhmischen Charakters Bauern sudetischer Herkunft gehören, dem Duschek und dem Christek und dem Radnick und dem Stierschick und dem Schmarar und dem Przygoda und dem Sponar und dem Rossum und dem Zoufal. Aber aus diesem exterritorialen Landschaftsbild tretend, ist man vor einem Denkmal, breitspurig, in brauner Bronze, steht Friedrich Wilhelm I., der Begründer des preußischen Militarismus, auf dem Postament. Ist er hierhergestellt, den ortsansässigen Fremden eindringlich zu sagen, daß man in einer Stadt Preußens ist, trotz dieser Fata Morgana eines böhmischen Dorfes? Nein. Auf der Rückseite ist in Erz gegossen zu lesen, wer dies Monument aufgerichtet hat: »Die dankbaren Nachkommen der hier aufgenommenen Böhmen.« Das Seitenrelief stellt eine Gruppe aus dem Zug der Emigranten dar, die, vom unerbittlichen Habsburg verfolgt, die Heimat um des Glaubens willen verließen: Mit beladenem Karren und schwerem Ranzen schleppt sich eine Familie ihres Weges, die Mutter, den Säugling so liebevoll-ängstlich an die Brust gelegt, wie der Greis, dem der Bildner einen Comeniusbart gegeben hat, die Kralitzer Bibel unter den Arm gepreßt das tschechische Wort des Evangeliums. Die andere Seite des Denkmals zeigt im Relief einige Dächer über spärlichen Buden; darunter die Inschrift »Rixdorf 1747«. Das soll besagen: Ja, ihr nahmt uns auf, da wir elend von Haus und Hof mußten (Relief 1), aber kümmerlich sah die Gegend damals aus, wo wir uns als Kolonisten niederließen (Relief 2), und blickt umher, wie der Ort heute dasteht! Neukölln, das einstige Rixdorf, ist der größte Vorort Berlins, rangiert unter den zwanzig volkreichsten, modernsten Großstädten Deutschlands.

Ein zweites Denkmal ist da, ein ganz neues; im Garten der Brüderkirche, wo noch hussitische Choräle bei festlichem Gottesdienst erklingen, ein Obelisk zum Andenken an Söhne der Brüdergemeinde, die für Deutschland im Kriege gefallen sind, »Paul Maresch, Walter Sponar, Gustav Maresch, Paul Wanzlik . . .«. Sie starben an der Marne, an der Somme, am Chemin des Dames, vielleicht im Kampf gegen tschechische Legionäre, die Mareš, der Šponář, der Venclík . . .

Das sind die Namen, denen man überall begegnet zwischen alten deutschen, manchmal ist auf Firmenschildern dem tschechischen Familiennamen die deutsche Übersetzung beigefügt, »Emanuel Lischka, genannt Fuchs« oder »Johann Arnos Wesseli, genannt Lustig«. Jener Gasthausbesitzer Willibald Spazier ist eines Auswanderers Enkel, der auf den viel weniger seltenen Namen »Procházka« gehört hat. Die »Feinbäckerei Friedrich Bescheiden« dürfte ein weniger feiner, aber desto biederer Bäcker namens Pokorný begründet haben, und die vielen Noacks hier schreiben sich gewiß von den alten Nováks her. Die Rixdorfer Böhmen sprechen heute nicht mehr tschechisch, doch ist es verwunderlich, wie lange sie in dieser nivellierenden Umwelt um die Wahrung ihres Volkscharakters bemüht waren. Wenn man beim Pfarrer sitzt, in Schriften und Akten blätternd, stößt man auf Belege für dieses Bestreben. Kaum daß die über Gerlachsdorf und Kottbus eingelangten Emigranten hier auf den Feldern der Mark Brandenburg ihr Dach über dem Kopfe hatten, waren sie schon bemüht, ihre eigene Schule zu besitzen, Schulgebäude und Lehrer, und de dato 9. März 1750 wird ihnen vom Königlich preußischen Departement für geistliche Affären der Schulplatz zugewiesen, »bald vorn in Rixdorf, ein Keil Landes, einem Triangel gleich, welcher rechter Hand an das freie Feld, linker Hand an den Hof des Bauern Rittmann anstoßet und 94 Strich breit und 140 Strich lang«. Auch zwanzig Stämme Bauholz werden ihnen zum Schulbau bewilligt. Und nun beginnen nationale Schulkämpfe, die bis ins letzte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts dauern. Die Schulgemeinde Deutsch-Rixdorf beschwert sich nämlich mehr als einmal, daß nicht nur deutsche Eltern aus Böhmisch-Rixdorf, sondern auch deutsche Eltern aus Deutsch-Rixdorf ihre Kinder in die böhmische Schule von Böhmisch-Rixdorf schicken, und sie bittet die königliche Regierung, solchem geneigtest einen Riegel vorschieben zu wollen. Die Regierung in Potsdam verfügt jedoch, es bleibe den Eltern der beiden Rixdörfer freigestellt, in welcher Schule der zwei Nachbargemeinden sie ihre Kinder unterrichten lassen wollen.

Die Heimat fanden sie nicht wieder, aber was sie in dem fremden, dem deutschen Lande fanden, war Freiheit ihres Glaubens und Gerechtigkeit. Wenn wir in den Akten von Landeszuweisungen in Rixdorf an böhmische Bauernsöhne lesen, die auf preußischer Seite im Siebenjährigen Kriege gestritten hatten, so können wir in ihnen freiwillige Kämpfer gegen das verhaßte Habsburgergeschlecht sehen, das katholisch zu sein vorgab, indem es fromme Andersgläubige mit fanatischem Haß und beispielloser Unerbittlichkeit verfolgte und marterte. Der Bombardier Johannes Wiskotschill, dem Friedrich II. Anno 1750 fünfzig Strich Grund und Boden in Böhmisch-Rixdorf anweist, ist nach dem Kriege, so viele gute Kameraden er im Feldzuge gefunden haben mag, von neuem ein Böhme unter seinesgleichen. Seine Kinder, seine Enkel auch. Sie werden auf dem alten Kirchhof am Kirchenplatz begraben, wo Hunderte alter tschechischer Grabsteine sind. Aber nach 1871 kommt der riesige Aufschwung Berlins, die Baugründe in und bei Berlin steigen ums Tausendfache im Wert, und was die brutalste Persekution in der Heimat nicht vermocht hatte und was die innigste Nachbarschaft in der Fremde nicht vermocht hatte und was die Kriegskameradschaft und die Liebe und die Jahrhunderte nicht vermocht hatten, vollbringt bei vielen die Lockung des Geldes. Mancher Emigrantensproß verkauft sein Haus, mancher stellt die Übersetzung seines Namens zuerst neben diesen, läßt dann den ursprünglichen weg, einige übersiedeln ins elegantere Berlin, ins Tiergartenviertel oder auf den Kurfürstendamm oder werden zu Bayrischen-Viertel-Kavalieren, und mancher geht dort als feiner Herr Spazier spazieren, der einst ein schlichter Procházka war. Und wenn in einer Sektdiele oder einer Nobelbar oder einer Likörstube irgendein Chauvinist um die Morgenstunde bei der Musikkapelle das »Heil dir im Siegerkranz« bestellt und von Revanchekrieg und Vorherrschaft seiner Edelrasse faselt, so muß man diesen Herrn Unbescheiden gut darauf ansehen, ob sich nicht vielleicht noch sein Vater Herr Bescheiden nannte und sein Ahne vor Gott und Menschen Pokorný gewesen ist.

 


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