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Man tut gut, beim ersten Besuch der Kleiderbörse, des Cafés Pollitzer, einige alte Monturen in der Hand zu tragen, um nicht höchst mißtrauisch gemustert zu werden, und in den hinteren Korridor, wo sozusagen der Schranken ist, wage man sich gar nicht, denn trotz der über den Arm gelegten Garderobe ist man Außenseiter. Es schadet nichts, ein Außenseiter zu sein, im Gegenteil, es nützt, wenn nicht beim Verkaufsabschluß, so doch beim Anknüpfen von Geschäftsbeziehungen.
Dunst lagert unter den niedrigen Wölbungen des Lokals, dessen eine Ecke als Küche eingerichtet ist, Menschen stehen umher, den Hut auf dem Kopf, und diskurieren lebhaft. Bevor man sich gesetzt hat, bevor man seinen »Schwarzen« bestellt, sind Figuren herangehuscht, haben einen Kreis formiert, halten den Ankömmling an einem Knopf des Rockes fest, den er anhat, oder an einem der Uniformbluse, die, kragenabwärts, auf dem Unterarm hängt. Einige befingerln stoffprüfend seine Hose.
Die Gestikulationen der Gestalten, die man vorher nur gesehen, werden also fühlbar, und allmählich materialisieren sich sogar Physiognomien. Aber Mimik und Gebärdenspiel geben wenig Aufschluß. Wer kann sagen, ob jener Mann, der die Qualität der angebotenen Ware mit mißbilligendem Kopfschütteln negiert, solches nicht bloß deshalb tut, um die Ansprüche des Verkäufers hinabzuschrauben, ob nicht gerade er innerlich am entzücktesten über den Stoff ist und den höchsten Preis nennen wird? Ist sein Antagonist, der den offerierten Rucksack mit hochgezogenen Augenbrauen bewundernd mißt, ein Gurgelabschneider, der nichts bezahlt?
Man erkläre, bloß mit Meisterschitz verhandeln zu wollen, mit dem Mann, der seinen Namen nannte: »Ich heiße Meisterschitz.« Warum gerade mit ihm? Weil man froh sein muß, sich in dieser herandrängenden Flut von Bewerbern an einem Namen verankern zu können. Darum tue man, als ob der Vorsatz, ausschließlich mit Meisterschitz in Geschäftsverbindung zu treten, seit langem gefaßt, sozusagen ein Wunschtraum aus der Jugendzeit sei.
O weh, nun ist man dem Herrn Meisterschitz mit Haut und Haar, mit Schafwolle und Baumwolle verfallen. Die dunkelblaue Paradebluse, in der Helene dich so gerne sah, bevor sie dich ohne sie noch lieber sah, die dunkelblaue Paradebluse – nein, sie gefällt dem Herrn Meisterschitz bedeutend weniger, als sie Helene gefiel. Vergeblich, darauf hinzuweisen, daß sie fast gar nicht getragen wurde, vergeblich, den feinen Kammgarn, Brünner Ware, zu loben. Der Käufer gibt es zu, alles schön und gut, gewiß, aber ich bitt Sie, wer braucht schon heutzutage eine dunkle Offiziersbluse, wer gibt für so etwas Geld aus, und es ist komplett unmöglich, einen Rock daraus zu machen.
Diesen Argumenten kann man sich nicht verschließen. Dagegen ist es nicht verwehrt, dem Gegner die Frage vorzulegen, wozu er die Bluse denn überhaupt erstehen will. Daß er sie erstehen will, ist evident, und seine Skepsis soll nur den Preis drücken. »Weshalb wollen Sie die Bluse, Herr Meisterschitz, wenn Sie nichts mit ihr anzufangen wissen?« – »Na, es kann vorkommen, tommer doch, daß jemand ein blaues Sakko hat und eine Weste dazu braucht. Aus der Bluse da« (welch ein verächtlicher Seitenblick trifft mein schönstes Uniformstück!) »könnt man zur Not« (der Tonfall drückt aus, daß es schon äußerste Not sein müßte) »ein Gilet zurechtschneidern.«
Das lasse man sich von Herrn Meisterschitz nicht einreden. Der wird doch kein Kleidungsstück daraufhin kaufen, weil zufällig einmal jemand ein blaues Sakko besitzen könnte und zufällig keine Weste und zufällig doch eine haben möchte und zufällig gerade zu Meisterschitz kommt, zu einem von tausend Wiener Trödlern! Steige man ihm nur auf die Kappen, und vielleicht wird er eingestehen, daß er die Blusen an Mützenmacher liefert, die daraus Kappen schneiden. Aber mehr als zehn Kronen ist Meisterschitz, wie er schwört, nicht imstande zu bezahlen, so wahr er lebt, für beide Blusen zusammen zehn Kronen, weil nämlich die dunkelblaue effektiv nichts wert ist, hingegen die feldgraue noch hundertmal weniger. Ist sie doch eine »umgehaute« Bluse, aus einer ärarischen verfertigt, also Staatseigentum, und die kann ihm die Polizei mir nichts, dir nichts konfiszieren. »Erst vor ein paar Tagen hat mir die Streifung stante pede um zweihundert Kronen Ware weggenommen, da, in dem offenen Kaffeehaus, hab ich das nötig? Ich kauf solche Sachen überhaupt nicht mehr.« Er hat das gewiß nicht nötig und kauft solche Sachen überhaupt nicht mehr und gibt zehn Kronen für die zwei Blusen.
Die schwarzen Beinkleider erzielen höhere Preise, denn die werden nicht zu Gilets zerschnitten, nicht zu Mützen, das Ärar hat kein Anrecht auf sie, und man kann sie tragen, wie sie sind. »Man kann sie tragen, wie sie sind?« lacht Herr Meisterschitz. »Sehr gut! Und die Passepoils?« Er rechnet aus, was die Beseitigung der Borte kostet – ein bürgerliches Vermögen, wer hätte das gedacht, man ist erstaunt, läßt sich's aber durchaus nicht anmerken, sondern lächelt ironisch und erhält dann dreißig Kronen. Für den Rucksack zehn.
Nun ist man ohne Sachwert, allein, kein Mensch kümmert sich um einen, selbst Meisterschitz ist im Nebel des Lokals verschwunden. Jetzt erst liest man die Tafel an der Wand: »Handeln mit alte Kleider ist in den Lokal strengstens verboten.« Also hat man ein Verbot überschritten, ehe man es kannte, und fürchtet, nachträglich die Gefahr abschätzend, das Ende des Reiters über den Bodensee zu nehmen. Allmählich aber besinnt man sich, draußen vor dem Café andere Inschriften gesehen zu haben, und erkennt, daß sie nicht so wörtlich genommen werden wollen. Zum Beispiel: »Hier liegen alle Wiener Tagesblätter auf.« Wo? Nur zwei oder drei leere Zeitungsrahmen hängen an den Haken, von keiner Zeitung eine Spur, wer hätte auch Muße, zu lesen? Jeder kommt mit Kleidern, Wäschestücken, setzt sich gar nicht, tritt zu Gleichgesinnten. Frauen haben große Pelerinen, unter denen Pakete und Markttaschen sind, manche bringen zusammengebundene Schuhe, Stiefel, Galoschen mit, einer trägt so viele Hüte in der Hand, daß er damit nicht nur durch das ganze Land kommen müßte, sondern durch ganz Europa.
Eine Dame, brav, ernst, mit englischem Schnurrbart, gibt einem sommersprossigen Jüngling Kopfstücke und Ohrfeigen rechts und links, daß es kracht. Anticipando. Erst nachher möchte sie von ihrem Sohn erfahren, weshalb sie ihn geschlagen hat. Kreischend wiederholt sie immerfort: »Was du verkauft hast, will ich wissen!« Quart. – »Nichts, Mutter, so soll ich leben . . .« Er duckt sich. – »Kaffee bist du trinken gegangen?!« Prim. »Ausgerechnet hierher?!« Terz. »Das ganze Lager schleppst du mir weg, du Ganeff.« Rückschneidpatsch.
Ein Gast tritt ein und ruft, noch bevor er die Tür hinter sich offengelassen hat, ins Lokal: »Zwei Zickeln!« Man halte das und ähnliche Ausrufe nicht für Worte der Begrüßung, sie sind es nicht, sondern Ankündigungen dessen, was man zu verkaufen hat. Der letzte eben: zwei Zickeln. Er zieht sie aus einem Sack, sie sind tot, aber Fleisch und Fell finden angeregte Beurteiler.
Im Korridor ist Wäschemarkt. Leintücher werden mit Armen und mit der Elle gemessen, Taschentücher zwischen Fingern abgetastet, Damenhöschen gegen das Licht gehoben, Nachthemden von oben und unten angeschaut, nein, dieses Kaffeehaus gleicht nicht allen anderen Kaffeehäusern der Leopoldstadt, ein Greis läßt einen Ballen von seinem Rücken auf den Fußboden fallen und breitet den Inhalt aus, zehn verschlissene, schwarz-blau gestreifte Fußballhemden mit einem Kricketabzeichen, ein durchlöcherter Sweater und Käppis, die Gäste wenden sich ab von diesen Fetzen, sic transit gloria mundi, ein Männchen im Astrachanmantel kommt, die Ärmel reichen weit über seine Hände, der Saum schleppt, der kleine Mann will aber den großen Pelz auch gar nicht behalten, er zieht ihn aus, streckt ihn in die Höhe, bis zu der Tafel »Handeln mit alte Kleider ist in den Lokal strengstens verboten«, und ein Ring begutachtender Hände schließt sich um das Objekt.