Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Pistaner Schwefel

Morgens kam ich an, Omnibusse standen vor dem Bahnhof und priesen sich den Reisenden laut an, durch lange, ungepflasterte Dorfstraßen ging der Weg. Zweifel tauchte auf: Bin ich in einer falschen Station ausgestiegen?

Ich nehme Direktion nordwärts. Soll das die Badedirektion sein? Ebenerdige Bauernhäuser, dazwischen Höfe, deren Mauern aus Korbgeflecht sind, Holzpumpen; Ochsengespanne kommen mir entgegen, mit Klee beladen oder mit Rutenholz, nicht nur die Kinder sind barfüßig, auch Männer und Frauen und Jungfrauen, welch letztere man weit müheloser erkennt als anderswo, denn sie tragen in der Mitte gescheiteltes, glattgekämmtes Haar, aber zum Unterschied von den verheirateten Frauen kein Kopftuch. Ein Friedhof hält seine Tür offen, ich trete ein, wundere mich, daß in diesem slowakischen Gebiet, das unter langjähriger Herrschaft Ungarns keine noch heute merkliche magyarische Tünche anzunehmen vermochte, drei Viertel der Grabinschriften deutsch sind. Rathaus und Kirche sind dörfisch, der abgeplattete Steinkegel, frei stehend, ist, so wahr mir Gott helfe, ein Pranger; man sieht die Klammern, an denen die Armensünder angeschmiedet werden. Zur Sicherheit frage ich einen bejahrten Bauer, was das für ein Monument ist. »Das ist der Pranger.« Der Alte beruhigt mich gleich, schon längst sei der Schandpfahl nicht mehr in Verwendung, nur zum Angedenken, damit man wisse, wie böse die guten alten Zeiten waren. Ich erkundige mich bei dem Slowaken nach den Bädern. »Oh, die sind weit, sehr weit: in Teplitz.« – In welchem Teplitz? Hoffentlich nicht in Teplitz-Schönau, wohin eine Schnellzugsreise mehr als einen Tag dauern würde, hoffentlich bloß in Trencsin-Teplitz, das zwar gleichfalls viele Stunden entfernt ist, doch wenigstens in der Slowakei liegt? »Nein, in Pistyan-Teplitz«, erfahre ich. Bin ich nicht in Pistyan? Das schon, aber es besteht aus drei Teilen, aus Groß Pistyan, wo ich eben bin, aus dem nur von Bauern bewohnten Pazid und aus Pistyan-Teplitz, wo die Bäder sind.

Ich kehre um, und von Zeit zu Zeit frage ich nach dem Wege. In der Nähe des Parks sind bereits Geschäfte städtischen Charakters. Kurgäste nahen. Die rheumatismuskranken Herren reden sich, wie die kahlköpfigen, gerne ein, ihr Übel sei sozusagen das Zeugnis für reichlich genossenes Leben, für ausdauernden Fleiß und minder entsprechende Sitten, jedoch nur allzu viele holten sich ihr Rheuma im Feld, also als sie solid waren, und ihre Glatzen im Gefangenenlager, wo es keine Frauen gab. Der flachsblonde Bursch mit der breiten Sattelnase, der auf zwei Krücken humpelt, hat sein Gebrechen schwerlich vom Sumpfen, eher von einem Sumpf in der Matschwa, von der Feldwache. In zweirädriger Sänfte zieht man einen verrunzelten Mann vorüber, mit kraftvoller Nase und kraftloser Unterlippe, ich kenne ihn: in feuchtem, stickigem Kellerlokal verkaufte er jahrzehntelang Roßhaar, bis sein jüngster Sohn mit Luftgeschäften so viel verdiente, um den im luftlosen Geschäfte zum Krüppel gewordenen Vater in die Thermen schicken zu können. Ein Slowak mit weißem Haar und zwei Stöcken ist kaum mit jenem alten Slowaken aus dem »Rastelbinder« identisch, der die Frage, was besser sei, ob Schnaps oder Tabak, mit dem Lied beantwortet: »Ein Hubičku vom Mädličku . . .« Die auffallende Dame hat gesunde Beine, wenigstens bis zu den Knien, wovon sich jeder überzeugen kann, da ihr Rock noch kürzer ist, als die Mode vorschreibt. Sicherlich kam sie nicht her, um sich vom Badediener die Kur machen zu lassen wie die anderen. Im Gespräch stelle ich fest, daß sie Ungarin ist, sie trägt einen Ehering. »Gnädigste begleiten den Herrn Gemahl?« – »Mein Mann nit Pistyan«, erwidert sie, was ich zuerst mißverstehe. Sie sei nur wegen der guten Luft hier, die reich an Mineralien ist. »Schwefel«, bemerke ich, und sie nickt. Und sie spielt so gern Roulett, und, joj, tanzt sie gern Foxtrott, und die Bar im Kursalon ist wunderbar eingerichtet, so was gibt's nicht einmal in Budapest, die Séparées: igozán gyönöry, jetzt ist freilich noch nichts los, die »izé«, die Hochsaison, ist erst im Juni, da kommen die Kavaliere . . . Ich versichere, daß ich keiner bin, worauf sie sich verabschiedet, weil sie gerade in einem Geschäft etwas zu besorgen hat.

Im Kurpark sitzen auch noch keine Kavaliere, sondern zumeist Heilungsbedürftige und Slowaken und Slowakinnen, die mit dem Munde zu hören scheinen.

Immerfort begegne ich schwarzen Sänften, jede von einem slowakischen Kuli gezogen; selbiges Vehikel, hierorts »Infanterist« geheißen, dient dazu, die schweren Patienten in das Bad und aus dem Bad zu transportieren. Allerdings, wer im Thermia-Palace wohnt, in dem modernen Hotel, den hebt der Lift direkt aus der Schlammkammer ins Hotelzimmer, vorausgesetzt, daß der Aufzug funktioniert. Dies ist allerdings selten der Fall, und die Fremden halten das Wort »Nejezdi« (»Fährt nicht«) für die tschechische Übersetzung von »Lift«.

Eine Betonbrücke führt über die Waag, aus der morgens Schwefelschwaden steigen und die seicht ist um diese Jahreszeit, aber von klarem, reißendem Wasser und nachmittags voll von Schwimmern. Am anderen Brückenende baden die Kranken auf der Insel, wo die Quellen und die Bäder sind und die Gasthöfe. Das neue Riesenhotel ist ein Lagunenbau, errichtet auf Pfeilern aus Gußmörtel; sie einzurammen war schwer, ein Kampf gegen Strahlen beinahe siedenden Wassers, das überall emporschoß. Daneben das Irmabad, eine hochgewölbte Rotunde mit Schamottewänden und Goldleisten und ohne Fundament: Im Bassin steht man auf natürlich aufgeschwemmtem Schlamm inmitten des aschgrauen, heißen, schwefligen Wassers. Allerdings, es wird nicht so heiß gebadet, wie's gekocht wird, die Pistyaner Quellen müssen um vierzehn Grad abgekühlt werden, bevor man sie in die Bäder pumpt. Auf Gartenbänken sitzen die Kurgäste und lassen sich von der Sonne bestrahlen, die freigebiger ist als der Badediener. Der macht die Schlammpackungen nur an jenen Stellen des Körpers, die der Arzt auf der im Ordinationsbuch vorgedruckten Zeichnung eines nackten Menschen rot angestrichen hat.

Die Patienten sind zumeist schwerer krank als die von Trencsin-Teplitz, der Konkurrenz. Ein Wiener, der seit zehn Jahren nach Trencsin-Teplitz zur Kur geht, geriet am Sonntag mit einem alten Stammgast von Pistyan in Streit. Anfangs lobte jeder sein Bad, wie jeder der deutschen Fürsten im Uhlandschen Gedicht sein Land rühmt, aber in der Hitze der Diskussion wurden sie aggressiv, und der weitere Verlauf glich nicht mehr der Ballade, sondern jener Novelle aus den Daudetschen »Lettres de mon moulin«, wo die Bürger zweier Wallfahrtsorte einander in die Haare fahren und jeder die Mutter Gottes des anderen verhöhnt, beschimpft und beschuldigt. Der Pistyaner machte sich mit der Temperatur von 67 Grad seiner Quellen patzig und lachte geringschätzig über die 36 Grad »heißen« Quellen von Trencsin-Teplitz. »Hehe«, blieb ihm der Trencsin-Teplitzer aus Wien die Antwort nicht schuldig, »ihr müßt sie auch abkühlen, bevor sie ins Bad fließen, sonst verbrüht sich der Kranke den Toches! Dabei geht die ganze Radioaktivität flöten, und es bleibt nur gewöhnliches heißes Wasser, da kann ich ja gleich in eine Teekanne steigen. Bei uns entspringt die Quelle im Bad.« – »Und der Schlamm? Den haben wir im Bassin, bei euch muß ihn der Badewärter im Rückenkorb erst von draußen holen . . .« Schließlich warf der eine dem andern vor, in dessen Kurort komme man mit dem Čakan und verlasse ihn auf Krücken. Damit hat es folgende Bewandtnis: In den Bädern von Slowensko trägt der Gesunde den landesüblichen Spazierstock mit hölzernem bemaltem Griff von der Form eines Beiles. Schon der berühmteste Trencsiner, der Anno 1713 gehängte Räuberhauptmann Juro Janošik, hatte einen solchen Čakan, und in den Bauernhütten sieht man den sagenhaften Rebellen abgebildet, wie er, die Beine gekreuzt, über ein Lagerfeuer springt, mit dem Terzerol in seiner Rechten die Krone eines Baumes herunterschießend und mit dem Èakan in der Linken die Krone eines anderen hohen Tannenbaumes abhackend. Diese Stöcke tragen also die Sommergäste, auch wenn sie nicht Räuberhauptmänner sind und sich keine derartigen Sprünge leisten dürfen. Die Kranken schleppen sich auf Krücken, da man hauptsächlich Gicht, Rheumatismus und Ischias abzugeben wünscht. Und die im obigen Disput gefallene Bemerkung, man könne hier zum Krüppel werden, ist blödsinnig. Ich habe in Pistyan mehr als einen getroffen, der vor kurzem im Rollwagen geschoben wurde und jetzt selber schiebt, daß es nur eine Art hat. In Trencsin-Teplitz ist die Wirkung noch augenfälliger, dort ist auf der Kolonnade der Raum zwischen Glaswand und Holzdach seltsam gerippt, von Krücken, welche von den geheilten Kurgästen zurückgelassen wurden, erstens aus Dankbarkeit, zweitens zum Andenken, drittens, weil sie sie nicht mehr brauchten, und viertens, weil es nichts kostete; auf einem Karton sind Namen und Adresse des Spenders verzeichnet, man zählt über fünfhundert Stück, ein ganzes Zeughaus von Gummistöcken, Holzbeinen. Stelzen und Doppelkrücken mit umpolsterter Stütze.

Im Bassin baden beide Geschlechter, doch ist die Mitte des Spiegels, ohne irgendwie bezeichnet zu sein, ein scharfer Trennungsstrich. Die reinliche Scheidung entstand wohl ähnlich wie nach jenem Experiment, mit dem man scharfsinnig das Vorhandensein des Gedächtnisses bei Fischen festgestellt hat: Man teilte ein geräumiges Aquarium durch eine senkrechte Glasplatte ab und brachte auf der einen Seite Forellen, Goldfische und dergleichen unter, die fröhlich umherschwammen und hierbei ein wenig an der Glaswand anschlugen. In die andere Hälfte ließ man Hechte ein, die schossen sofort gegen die Forellen los, stießen aber mit dem Kopf so heftig gegen die Glasplatte, daß sie – bekanntlich das Zeichen höchsten Schmerzes bei den Fischen – mit den Schwanzflossen herumschlugen. Nun nahm man die Glasscheibe weg, die Hechte kamen nie über die Mitte, Beute zu holen, sie vermuteten die Wand dazwischen. Vielleicht hat sich auch einst im Bassin ein Mann auf die gegenüberliegende Seite zu stürzen versucht und dann (siehe oben) mit den Flossen herumschlagen müssen, und seit jener Zeit überschreitet niemand die Grenze. Man schaut distanziert die Frauen an, wie sie auf der Quelle stehen, die auf der Oberfläche Blasen wirft, in einem Wasser, das grau ist und undurchsichtig. Nur am Strich kann man miteinander sprechen.

Wenn Essenszeit ist, hinken alle Gäste Pistyans zum Diner, unterwegs fegen ihnen die von je einem barfüßigen Slowaken begleiteten Ochsenkarren Staubwolken ins Gesicht.

Ich entfliehe dem Staub und steige zur Ruine Čachtice hinauf, die Csethe hieß, als Gräfin Elisabeth Bathyory oben wohnte, ein Schrecken aller Jungfrauen im weiten Umkreis. Aus den Gerichtsakten geht hervor, unter welch teuflischen Vorwänden sie Mädchen ins Schloß locken ließ und wie sie sie zu Tode folterte. Die Protokolle geben nicht an, wie viele diesem weiblichen Gilles de Rais zum Opfer gefallen sind, man konnte bloß sechshundert Namen der Ermordeten feststellen. Sie marterte aus Sadismus, und sie tötete, um in Jungfrauenblut baden und dadurch schön bleiben zu können. Dieses Rezept der Poppina Sabina half sicherlich, denn bei jeder Kur ist vor allem der Glaube wichtig, ob man nun in Jungfrauenblut badet oder in Schlamm und Schwefel.

 


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