Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Raubtiere fressen

Zeitlich und räumlich ist es noch weit zur Fütterung, und schon hört man das Getöse der Ungeduld, Tiger und Löwen brüllen, Schakale und Wölfe heulen, Jaguare und Leoparden fauchen, das ist die »Stille des Dschungels«, dessen unheimlicher Lärm erst beginnt, wenn alles schweigt.

Die Gitterstäbe schwächen der Töne bedrohliche Wirkung, schrecklich aber sind die Gesten der Tiere, die wissen, daß die Stunde ihrer Sättigung naht, ihre Erwartung ist Gier. In der Mitte der Halle steht der Handkarren mit Fleisch. Sie wittern ihn. Ein Tiger, seit langen Jahren hat er eine Höhle im Amurgebiet mit dem ersten Käfig des Berliner Raubtierhauses vertauscht, drückt sich an das Gestänge, starrt hypnotisiert in die Saalmitte. Mit nassem Tuch auf einer Stange kommt der Wärter heran, von außen den Fußboden zu scheuern, denn der soll jetzt Tisch sein; auch unter dem Tiger muß gesäubert werden, Unrat liegt dort, aber »Erich« läßt sich keineswegs beiseite schieben, keinen Stoß verspürt er, rührt sich nicht, ist in die Richtung gebannt, aus der ihm Nahrung kommen muß.

Der Riesenlöwe Leander (laut Visitkarte an seiner Wohnung stammt er aus Rhodesien) ist gerade bei der Nachbarin zu Besuch. Die schaut ihn gar nicht an, von einer Ecke des Zwingers rennt sie zur anderen, manchmal nach rechts, manchmal nach links sich wendend. Leander trottet hinter ihr, die Mähne hart an ihr Hinterteil gedrückt, und dreht sich rechts, wenn die Löwin die Drehung nach rechts macht, links, wenn die Löwin Direktion links nimmt, und wenn sie auf ihrem Rundgang innehält, um zu brüllen, dann bleibt auch er stehen, öffnet den Rachen, in dem Stalaktiten sind, und brüllt noch zehnmal lauter. Alle Tiere rennen im Kreise umher, immerfort im Kreise, immerfort im Kreise, befallen von Delirium tremens.

Nur ein diskret schwarzweiß gesprenkelter Leopard kauert ruhig an der Stelle, die vom Fleisch und von den Besuchern am entferntesten ist: auf dem höchsten der künstlichen Äste, die den Käfig diagonal durchziehen, in die hintere Ecke der Zelle gelehnt. Er ist der einzige Reglose im ganzen Hause, das vom Fieber umherjagender, schreiender, hungriger Bestien erzittert.

Der Wärter setzt den Speisewagen in Bewegung. »Minderwertiges, aber gesundes Fleisch« liegt darauf, von Rind, Kalb und Pferd, vom Zentralviehhof roh hierhergeliefert. Kein Menschenfleisch, auch kein minderwertiges, nicht einmal ungesundes. Arme Tiere, wie würde es ihnen schmecken! Besser als in der Wildnis, wo sie den Menschen noch nicht kannten und nicht wußten, daß er ihresgleichen in lebenslänglichen Kerker sperrt und überdies zum Schauobjekt für Kinder und Müßiggänger macht.

Blutige Klumpen, von je fünf Kilo Gewicht, sind auf dem Karren; jedes der großen Raubtiere hat täglich (außer Montag, der fleischlos, für Raubtiere also Fasttag ist) auf zwei solcher Stücke Anspruch. Das wissen sie genau, vom Tiger Erich an, der schon vor dreißig Jahren im Zoologischen Garten seine Lebensstellung antrat, bis zum Löwen Roland, der am 9. November 1921 hier das Licht der Welt erblickte. Wenn der Wärter die erste Portion zwischen die Stäbe zwängt, schlägt der Inhaber des Käfigs Pranken und Zähne in den Bissen, zerrt ihn nach innen und läßt ihn liegen, den zweiten zu erwarten. Der rhodesische Riesenlöwe äugt lüstern nach der Rinderrippe, die sich in das Gitter schiebt, aber er nähert sich dem Happen nicht – er weiß, daß der für die Löwin bestimmt ist, deren irrem Lauf er seit Stunden gefolgt ist, den Rachen an ihren Hintern geschmiegt. Ungestört zieht die Dame, die den Herrscher der Tiere beherrscht (sie heißt »Schensi« und ist in Leipzig geboren), das erste Stück in einen Winkel ihrer Häuslichkeit, der als Speisekammer zu dienen scheint, und holt nun die anderen zehn Pfund ein. Leander jagt nach Hause ins Nachbarzimmer, und hinter ihm senkt der Wärter die Verbindungstür, indem er dem Publikum erklärt: »Sonst würde sie hineinkommen und ihm alles auffressen.« Ach, majestätischer Leander! Der Mensch muß dich schützen vor deiner Leipziger Nachbarin.

Die letzten Illusionen zerstört der Bericht des Wärters. Der sibirische Tiger zum Beispiel, der noch hinter den enggekreuzten Stahlstangen eine grausame Drohung ist, dieser Gigant, der den Eingang des Saales bewacht – ist tuberkulös, hat Darmgeschwüre, und sein rechtes Auge ist erblindet. Er, den man für blutrünstig hält, hat sich nur durch strenge Diät, Milch und Hefe, so weit erholt, daß man ihm Kalbfleisch verordnen konnte. Einstweilen leckt er es bloß ab, er hat keinen Appetit und ist altersschwach; bald wird er den Gnadenschuß bekommen und, wenn er Glück hat, ausgestopft im Museum ausgesetzt sein der Neugierde, wie zu Lebzeiten, oder aber, wenn er Pech hat, als Bettvorleger einer Nobelnutte dienen. Auch die anderen Bestien – mit Ausnahme der Hyänen, die ihre Ration rasant hinunterschlingen – beeilen sich nicht mit dem Fressen, sind sie doch jetzt des Besitzes sicher. Der Silberpuma aus Punta Arena rollt spielerisch die beiden Fleischklumpen mit Tatzen und Schnauze von einer Ecke in die andere und springt ausgelassen umher. Der junge Löwe Roland stellt Posen: Er stemmt die Pranke auf die ihm zugeteilten Fetzen eines Pferdeleibes, als ob es der Nacken eines besiegten Feindes wäre, und richtet sich empor, wie ein Mensch vor dem photographischen Apparat. Klein Roland, wo hast du das her? Frau Schensi aus Leipzig hat nun die zwanzig Pfund Rindfleisch in ihrer Vorratskammer geschlichtet und beschnuppert sie fachmännisch.

Der abessinische Leopard, jener mit dem diskret schwarzweiß gefleckten Fell, läßt sogar seine Menage an der Stelle liegen, wohin der Wärter sie geschoben hat. Noch immer sitzt er auf dem Baumstamm in der hinteren Ecke, dem lauten, widerlichen Treiben dieser Welt abgewendet . . .

Es dauert lange, ehe die Tiere zu fressen beginnen. Dann knacken ungeheure Knochen mit adäquatem Lärm auseinander, und der Größe der Rachen entspricht die Vernehmlichkeit des Schmatzens. Im Kotter der Dingos, australischer Windhunde, schauen drei Weibchen (eine Mutter und zwei Töchter) neidisch dem Männchen zu, das fast alle vier Menüs verspeist. Manchmal nähert sich eine, um auch etwas zu schnappen, doch wenn das Dingomännchen drohend die Schnauze öffnet, weicht die Vorwitzige erschreckt zurück. Sie fürchten ihn – aber sie fürchten vor allem, seine Neigung zu verlieren, denn er ist mit allen dreien verheiratet.

Um vier Uhr hat die Fütterung begonnen, erst gegen sechs sind die Fleischstücke verschwunden, die von den hungrigen Raubtierrachen und den hungrigen Raubtiermagen in einem Augenblick verschlungen werden könnten. Frisches Wasser läuft in die Tröge, und die Bestien saufen, rekeln sich faul auf der Erde oder geben sich ungeniert ihren Liebesspielen hin. Der schwarzweiß gefleckte Leopard aus Abessinien hat eine Leopardin in seinem Käfig. Sie hat bereits ihre Mahlzeit verzehrt, die des Männchens liegt noch unberührt da. Oben auf dem Baumstamm kauert er, streift das lebende Menschenfleisch und das tote Rindfleisch mit keinem Blick. Wird ihm das Weibchen sein Nachtmahl nicht wegnehmen? »Warum frißt er nicht?« fragen Besorgte den Wärter. »Ach, der? Der ist erst drei Monate hier – er hat noch nicht einmal einen Namen. Ganz scheu ist er, frißt nur bei Nacht, trinkt nur bei Nacht und liebt nur bei Nacht. Aber«, fügt der Wärter zuversichtlich hinzu, »er wird sich schon ändern.«

Dieser Leopard scheint das einzige anständige Wesen im weiten Umkreis zu sein, inmitten einer Welt, wo Löwen Pantoffelhelden und Löwinnen sächsische Hausfrauen sind, wo der Roland zum Poseur und der Dingo zum Haustyrann wird, wo der Tiger von Tuberkulose befallen wird und Milch trinkt, wo sich Raubtiere bei ihrem Fraß von Journalisten beobachten lassen müssen und bei ihrer Liebe von neugierigen Berlinerinnen! Mit welcher Verachtung der Leopard da oben sitzt, er zeigt nicht Gier, nicht Geilheit und hat sich in Berlin noch nicht einmal einen Namen gemacht!

Aber er wird, man kann der Prophezeiung glauben, sich schon ändern!

 


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