Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Was die Wöchnerinnen singen

Rot ist die Farbe unvertünchter Ziegel und der Liebe. Demnach stimmt es symbolistisch wie realistisch, wenn der Volksmund den schloßartigen Gebäudekomplex, der im Tudorstil mit steilen Treppengiebeln auf dem Windberg den Folgen der Liebe errichtet ward, nicht anders als das Rote Haus nennt. Die Backsteine an der Außenfassade sind glasiert und schamottiert, aber in der spitz gewölbten Vorhalle (wo der Pförtner jeden Besucher, einer veralteten Vorschrift gemäß, streng nach dem Impfzeugnis fragt und sich vielleicht mit der Vorweisung einer Impfpustel in Kronenwährung zufriedenstellen muß) und in dem Stiegenhaus sind alle Wände ziegelrot. Prager Mädchen singen dehnend und tränend die kumulative Selbstbiographie »Já jsem sirotek«:

Bin ein Waisenkind,
In Prag gebar man mich,
Kannte meinen Vater niemals.
Kenn die Mutter nicht.
Dort im Roten Haus
Bei Apollinar
Wissen tausend Kinder nicht,
Wer ihr Vater war . . .

Auch die Ärzte wissen es nicht. Zwar: la recherche de paternité est ordonnée, aber wie soll die Recherche ein Ergebnis haben, wenn selbst die Mütter den Herrn nicht persönlich kennen, von dem sie ein Kind haben. »Ich hab mit ihm in Weleslawin getanzt; so ein Blonder war's!« Was könnt ihr mit solcher Personalbeschreibung anfangen? Oder man bekommt nur die Auskunft: »Ein Jäger im Wald!« Oft wissen die Mütter mehr, aber sie verraten nichts. Und neulich war eine Gouvernante, die sich sehr fein und geheimnisvoll gebärdete, über die Kunst der ärztlichen Diagnostik sehr erstaunt, als bei der gynäkologischen Untersuchung der Assistent zu seinen Hörern bemerkte: »Das ist die Frau mit dem kleinen Becken.« – »Ja«, gestand sie daraufhin, »es ist wirklich ein Kleines vom Bäcken in der Petersgasse . . .« Manche Mütter machen wieder zu weit gehende Angaben: »Entweder war's der oder der!« Sie haben Wahl und Qual. Daß sich ein Vater oft nicht bloß aus wirtschaftlichen Gründen zu nennen unterläßt, sondern aus jenem Schamgefühl, das eine Tat nicht verhindert, aber vom Bekenntnis zur Tat abhält – es wird beinahe verständlich, wenn man in die Zimmer jener Frauen kommt, denen ihre schwere Stunde erst bevorsteht (»Na forrotě« heißt, vom Worte »Vorrat« abgeleitet, dieser Teil der Klinik). Da trifft man auf dem Korridor und an den Fenstern mehr als eine Frau von solcher Häßlichkeit und mit solchen Defekten, daß man den Mann nicht begreift, welcher die Ursache ihrer Hierherkunft war. Natürlich gibt es auch Mädchen, deren gegenwärtige Figur nicht imstande ist, den Gesichtsausdruck äußerster Keuschheit Lügen zu strafen. Und tritt man dann in die Wöchnerinnenzimmer, so findet man alle schön – denn dort liegen sie, Mutter geworden, ihr Kind an der Brust haltend, selig mit dem Säugling tändelnd, verzückt in dessen Augen schauend oder ängstlich nachblickend, wenn die Wärterin es in die Wiege am Fußende des Bettes legt. Anders als anderswo klingen die Kinderlieder. Die Mütter hier singen von ihrem Weg, der immer der gleiche ist: »A ta pražská porodnice – Ta jest pěkně stavená – Toho jsem se nenadála – Že tam budu vězněná.« Die Strophen erzählen den Passionsweg von der schwachen Stunde zu der schweren: »Sto doktoru jich tam stálo – Tam u mojí postele – Toho jsem se nenadála – Že mě sáhnou …«, es folgt nun ein Reim auf »postele«. – Die dritte Zeile jeder Strophe ist gleich: »Nein, geahnt hätt ich das niemals«, die vierte Zeile bringt die Überraschung, die keine sein müßte, da die Mehrheit der Mädchenschicksale in gleicher Zeile verläuft.

Übrigens ist es Übertreibung, wenn das Lied behauptet, hundert Doktoren hätten am Bett gestanden. Es waren etwa fünfzehn, darunter höchstens vier richtige Doktoren und der Rest Studenten, die immer auf Lager sind; die Hörer der Medizin werden in Gruppen von zehn bis sechzehn zum Praktikum und Internat, zur Lehre und zum Dienst für eine Woche hierherbeordert.

Sie lernen und betätigen sich auf dem Gebiete der Geburtshilfe, derjenigen der Wissenschaften, die selbst die meisten Wehen zu bestehen hatte, auf dem langen Wege vom instinktiven Helfen bei den Urvölkern und in der Tierwelt mußte sie über unendlich große Hindernisse: Moralauffassung verbannte die männlichen Ärzte vom Frauenbett, Vorurteil ließ die Doktoren die Anwendung ihrer Kunst für einen so vulgären Naturvorgang verachten, ein Aberglauben gab, noch in der Neuzeit, den schwangeren Frauen geschriebene Psalmen zu essen, Konkurrenzkampf zwischen Hebammen und Ärzten erstreckte sich bis zum Lager der Wöchnerinnen, und mörderischer Eigennutz ließ den Erfinder der Geburtszange deren Konstruktion jahrzehntelang geheimhalten. Doch auch heute, da die Gynäkologie schon eine Disziplin von scholastischer Exaktheit geworden ist, kann dem jungen Schüler der Heilkunde nicht ganz der Sinn dafür verlorengehen, daß es ein ungeheures Mysterium ist – der erste Akt des Mysteriums »Liebe und Leben« –, zu dem sich der Vorhang hebt. Und der Kontrast zwischen der Nüchternheit der Kunde, die sich ihm eröffnet, und der Romantik ihrer Ursachen entlädt sich in Liedern, Witzen und Gedichten, von denen wir hier mehr als in anderen Kliniken finden.

»Das Prager Lied«, das man auf Deutschlands Hohen Schulen eifrig sang und das sich noch in den Neunzigerjahren im »Allgemeinen Reichskommersbuch für deutsche Studenten« (Breitkopf & Härtel) und in der Lahrer Studentenbibel vorfand, ist zweifelsohne ein Produkt solcher Laune und erzählt in biderben Biedermeierstrophen und barocken Wortformen die Medizinerfreuden im Prag der Fünfzigerjahre, der Breiski-Zeit:

            Das Prager Lied

Hin nach Pragien, hin nach Pragien
Sollst du Musengaul mich tragien,
Wo die Gulden flöten gehn,
Wo mit Deutschlands blonden Söhnen
Sich des Slavenstammes Schönen
Nur in einem Punkt verstehn. –

Zum Spital, dem allgemeinigen,
Will ich meinen Fuß beschleunigen,
Wo der Jüngling arzten lernt.
Wo auch ohne venae sectio
Die entzündliche affectio
Aus der pleura sich entfernt. –

Auf den Windberg, auf den steiligen,
Möcht' ich zu den Jungfrauen eiligen
Mit geräumigem Utero,
Drin am Nabelstrang, dem keuschen,
Nach den Placentargeräuschen
Lächelnd hüpft der Embryo. –

Zu Apolligen, zu Apolligen,
Will ich auch im Geist mich trolligen.
Wo der Tischgast atrophiert.
Wo zum Tanz die heska holka
Nach dem Klang der muntern Polka
Den Primär am Bändel führt. –

Zur Bastei möcht' ich hinanigen,
Wo der Herbstwind mit Kastanigen
Nach dem Haupt des Wandrers zielt,
Dort, wo unter Samtmantillen
Für den Lustwandlör im stillen
Menschlich die Chlorose fühlt. –

Endlich auch zum edlen Bindinger
Möcht' ich sein ein Pfadefindiger,
Wo der Hase golden hüpft,
Wo des fröhlichen Tokayer
Kühlend heißes Freudenfeuer
Durch den Pharynx willig schlüpft. –

Hierher wird mit Wehmutstränigen
Stets das Herz retour sich sehnigen
Klopft es wiederum daheim.
Hier, wo jetzt bei Weinesblitzen
Abortiert in schlechten Witzen
Doctor medicinae Keim –

Arzt, Chirurgus und für Kinder
Auch vereidigter Entbinder
Aus der preuß'schen Monarchei,
Prag, im Mai am letzten Datum,
In dem Jahr post Christum natum
Achtzehnhundert, fünfzig, drei.

Das Lied hat das Glück gehabt, gedruckt zu werden. Das wäre nur bei dem kleinsten Teil jener Literatur möglich, die in diesem Rayon verfaßt worden ist. Was sich sonst in dem kahlen, fünfzehnbettigen Studentensaal außer Monogrammen und Zirkeln auf den schweren Eichentisch eingeschnitten, in das Innere des Schrankes gekritzelt und auf die Wände gemalt vorfindet, ist allzu derb, wenn auch oftmals künstlerisch. Palimpseste könnten uns weitere Werke bringen, denn schon von alters her bediente man sich der Prager Gebärhauswände zur artistischen Emanation. Der Professor der Geographie und Ethnologie an der Züricher Universität Dr. Otto Stoll schreibt in seinem Werke »Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie« (p. 790): »Auf weit höherer Stufe der zeichnerischen Kunst standen die detaillierten Zeichnungen, die zu der Zeit, als ich in Prag Geburtshilfe studierte, also lange vor der Erbauung des neuen Gebärhauses, in dem damaligen, als ›Kaserne‹ bekannten Studentenmassenquartier auf dem Windberg zu sehen waren . . . Die ganze Gruppe bildete ein gutes Beispiel der graphischen Medizinerzote und verdiente als solche in bezug auf die künstlerische Ausführung alle Anerkennung, um so mehr, als dadurch nicht, wie durch die obszönen Verunzierungen der Hauswände, öffentlich das Schamgefühl weiblicher Personen beleidigt wurde . . . Unter den mannigfaltigen Wandzeichnungen der alten Kaserne in Prag befand sich auch eine, die in kleinem Maßstab, aber sehr zierlicher Art einen mit gewaltigem medizinischem Apparat in Szene gesetzten Geburtsakt darstellte.« Dergleichen ist noch im neuen Hause zu sehen. Literatur und Malerei schildern, geradezu in Kindbettfieberphantasie, all das, was hier der Tag und besonders die Nacht an Abwechslungen bringen. Wenn man dem Spruch glauben darf, den die – durch Freskenmalerei zur Zunge eines riesigen Teufelskopfes gewordene – elektrische Klingel trägt, so ist die Nacht keines Geburtshelfers Freund: »Bei Tage schweige ich fein still – Doch nachts erheb ich mein Gebrüll – Und wecke dich, als wie zur Strafe – Aus deinem allertiefsten Schlafe!« – Den Fresken nach zu schließen, sind die Träume der Gynäkologiebeflissenen beinahe mit solchen Wehen verbunden, wie sie eigentlich in das höhere Stockwerk gehören: Embryonen erscheinen, sich zu rächen, sie zerquetschen dem Schlafenden mit dem Kranioklast den Schädel, sie hacken und klemmen und schneiden und zwicken ihn und stechen ihn mit Perforatorium, Pinzette, Zange und Küvette und reißen ihm mit Achsenzug die Zunge aus. Nicht minder angenehm muß der Traum sein, der den Schlafenden mit dem »Phantom« vermählt, jener Lederattrappe eines Bauches, an der man diagnostizieren lernt.

Die meisten Bilder und Sprüche sind Lehren – beinahe die ganzen Wagnerschen Vorlesungen sind schon in Knittelverse gebracht und dementsprechend illustriert worden. Ein großes Tableau, ähnlich dem der Bänkelsänger, warnt davor, die Instrumente falsch zu verwenden, zum Beispiel mit der Othartspritze Feuer zu löschen, mit der Chamberlenschen Zange Zähne zu ziehen, den Ansatz des Irrigators als Zigarrenspitze verwenden zu wollen. Eine Kollektion von Hegarstiften verschiedener Breite ist an die Wand gemalt, und die Legende gibt eine Charakterbeschreibung der zugehörigen Frauentypen. Ein Kolossalgemälde feiert das zehntausendste Baby, dem Mama Vesely, die Schulhebamme, die Einreise auf diese Welt beschaffte, ein anderes den alten Mediziner, bei dessen gynäkologischem Rigorosum sich herausstellt, daß er noch an den Klapperstorch glaubt.

Eine Modernisierung der Rembrandtschen Anatomie schildert in karikaturistischer Übertreibung die Schrecken des Kaiserschnitts, und dem bewegten Zeichner entringt sich ein gereimter Trost: »Zum Kind gibt der Mann den Samen. Gebären dürfen nur die Damen. Gelobt sei Jesus Christus, amen!« Das Bild einer Selcherei mit eigenartigen Waren trägt die Aufschrift »Uteri ovar«, was auf tschechisch »Am Dienstag Krenfleisch« bedeutet. Es ist die Reminiszenz an eine Episode des Prager Gynäkologenkongresses, nach welchem Professor Neißer, der gerade über »infektiöse Erkrankungen von Ovarium und Uterus« vorgetragen hat, mit Professor Pitha durch die Straßen Prags ging und plötzlich vor einem Fleischerladen, auf dessen Schild »Utery ovar« (»Dienstag Krenfleisch«) stand, entsetzt ausrief: »Um Gottes willen, Herr Kollege, das essen hier die Leute?!« – Ein Porträt zeigt Frauen, die entbinden, und den Text: »Parturiunt chontes.«

Das Grüne Buch des Roten Hauses, das Gedenkbuch, ist neueren Datums. Die Gruppen der zum Internat kommandierten Hörerinnen raufen sich mit ihren männlichen Vorgängern und Nachfolgern in Witzen und Versen und vice versa, eine Muster-Geburtsgeschichte ist eingeklebt, schwer geborene Gedichte registrieren die Ereignisse der betreffenden Schicht, manchmal ist's eine medizinische Sensation, zu der die Klingel dreimal läutete und deren Schilderung dann humorvoll wiedergegeben wird, ein Uterus bicornis oder sonst eine Abnormität oder Drillinge (unter achtzig Geburten ist durchschnittlich eine Zwillings-, unter sechstausendvierhundert eine Drillingsgeburt) oder die »Geburt« eines zehn Jahre alten Kindes, eines Lithopädion. Es gibt auch allgemeine Weltsensationen hier oben auf dem dörfisch stillen Platz zwischen Karlshof und Apollinar, zum Beispiel, als die zusammengewachsenen Zwillinge Blazek einen Sohn bekamen und alle amerikanischen Zeitungen Interviews mit der Kindesmutter und ihrer Schwester verlangten; die Schwester verweigerte mir damals energisch jede Aussage, sie erklärte, sie wisse von nichts, sie liege ganz unschuldigerweise im Wochenbette, und die Bozena müsse sich hinter ihrem Rücken mit dem betreffenden Ausrufer eingelassen haben.

 


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