Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Polizeiakten des Baumgartens

Er liegt dezemberlich da; was noch vor kurzem Blumenbeet war, ist jetzt Glatze, was vor kurzem als Gehölz emporragte, ist ein Bündel impotenter Stöcke, was noch vor kurzem lauschige Ecken waren, sind jetzt verdächtige Schlupfwinkel. Schwärmer gibt es, die behaupten, ein winterlicher Park habe etwas besonders Schönes an sich. Jedoch, hart an der Stadt gelegen, ist ein Park nicht einmal im Frühjahr wirkliche Natur, mag er auch noch so groß sein, noch so müde Weidenzweige haben und noch so strahlende Rosen und noch so alte Bäume. Nein, er ist von der Großstadt infiziert, wovor ihn keine exterritoriale Behandlung schützen kann; ob er nun Bois de Boulogne heißt oder Tiergarten, Prater oder Baumgarten – er kriegt sein Faszikel wie jede andere Lokalität und jedes andere Individuum. Im Prager Polizeipräsidium liegen diese Akten gegen den Baumgarten, Strafsachen, Frührapporte, Verkehrsvorschriften, Protokolle über verlorene und gefundene Gegenstände, Beschwerden, Anzeigen, Dinge der Liebe und Dinge des Todes, humoristische und tragische, vergilbte und neue.

Höchst aufgeregt ist ein Akt, den Anno Domini 1852 der Obersthofmeister Kaiser Ferdinands II., Exzellenz Leopold Graf Thun-Hohenstein, an die Polizeidirektion richtet, weil am Sonntag die vor dem Musikpavillon der ersten Restauration aufgestellten Equipagen, Fiaker und Droschken den Wagen Seiner Majestät beinahe am Vorüberfahren gehindert haben; Polizeidirektor Päumann beeilt sich, für den Wagenverkehr der hohen Herrschaften solche Vorschriften zu erlassen, die dem Wagenverkehr der allerhöchsten Herrschaften förderlich sein sollen. Der Adel fährt hier täglich spazieren, am 1. Mai sogar in Viererzügen, und oft gibt es Festivitäten, zum Exempel jene rauschende Gedenkfeier, die 1811 Oberst Graf Bentheim seinem Regiment zur Erinnerung an den zwei Jahre vorher erfochtenen Sieg bei Aspern gab; sogar aus der aktenmäßigen Notierung der vorgerückten Nachtstunde und der durch keinerlei »Vorfallenheiten« gestörten gehobenen Stimmung kann man die Begeisterung des polizeilichen Zaungastes herauslesen. Bäumen sich die Pferde einer Kalesche ein bisserl auf, so meldet es ein k. k. Kommissär und fügt freudestrahlend hinzu: ». . . die im Fond sitzende Komtesse Henriette Chotek, Erlaucht, kam mit dem bloßen Schrecken davon.« Bei Reitunfällen wird bemerkt, daß ein Akazienbaum beschädigt wurde, »doch wird beantragt, von Schadenersatz Abstand nehmen zu wollen«. – »Se. Hoheit der Herr Großherzog von Hessen-Kassel, derzeit wohnhaft im Sommerschlößchen Kinskygarten, fährt täglich mit dem bekannten Vier-Falbengespann in umgekehrter Fahrtrichtung über die Méczeri-Serpentine; da die Karosse im Baumgarten nicht hält, kann der Kutscher hieramts nicht verwarnt, bzw. in Strafe genommen werden.« (Meldung vom 1. Juni 1867.)

Sonst sind die Behörden des Baumgartens beileibe nicht so hilflos. Wenn ein Aufseher (ein gewöhnlicher Aufseher natürlich und nicht jener Landesausschußrat, dem der Titel eines »Aufsehers des Bubentscher Parks« ehrenhalber verliehen wird) ein Mädchen attrappiert, das im Rosengarten »zwei Narzissen im Werte von zwanzig Kreuzern« oder »Jasminblüten im Werte von fünfundzwanzig Kreuzern« oder gar »acht Rosenknospen im Werte eines halben Guldens« abgerissen hat, bekommt die Täterin unnachsichtlich achtundvierzig Stunden Arrest aufdiktiert. Die Burschen, die in der Nähe der Kaiserinsel Weidenruten abgerissen haben, werden nach dem Prügelpatent zur Höchststrafe von fünf Tagen verdonnert, weil »im Hinblick auf das bevorstehende Osterfest Gefahr besteht, daß im Baumgarten die Diebstähle von Ostergerten (pomlásky) überhand nehmen könnten«. Auch die armen Waaberln (lies: Baben), die am Weg zum Birkenwäldchen, an der Biegung der Promenade, die berühmten Bubentscher Kolatschen mit Powidel, Mohn oder Quark, Rosinen und halben Mandeln feilzubieten versuchen (drei Stück: fünf Kreuzer), kriegen die Polizeihaft zu schmecken, wenn sie nicht eine marktpolizeiliche Verkaufsbewilligung haben. Einem Manne aus Holleschowitz, der trotz wiederholter Verwarnung an der Überfuhr nach Troja eine Personenwaage aufgestellt hat, wird die Waage konfisziert. Wer in den Spargelgarten des kaiserlichen Lustschlosses eindringt, um rote Rüben zu stehlen, der wandert ins Strafgericht, obschon der Kommissär mitleidig bemerkt, »daß Inhaftat arbeitsunfähig ist und nachgewiesenermaßen mit seiner kranken Frau und den beiden kranken Kindern seit zwei Tagen nichts gegessen hat«. Mancher schnitt es gern in alle Rinden ein: Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben! Solchen jubelnden Mitteilungsdrang romantischer Gemüter bezeichnen die Akten einfach als Baumfrevel und taxieren ihn mit fünf Gulden oder vierundzwanzig Stunden Arrest. Auch in der Schule kann man dadurch Verdruß haben! »Der siebzehnjährige Schüler Siegfried Polatschek des Staatsgymnasiums Prag-Altstadt wurde heute um sechs Uhr dabei betreten, als er in der Nähe der Landesausstellung in einen Kastanienbaum ein Herz mit den Buchstaben S. P. und A. K. einritzte. Corpus delicti: Taschenmesser mit brauner Hornschale.« Ach, hätte er damals seine vier Buchstaben nicht in den Baum gekratzt, sondern sich auf sie gesetzt und für die Matura gelernt, so wäre er wahrscheinlich ein angesehener Advokat geworden, hätte die A. K. geheiratet; so aber ist er ledig und Journalist. Wegen Trunkenheitsexzesses wird fast allmorgendlich irgendeine Gesellschaft vorgeführt, denn es ist üblich, nach durchlumpter Nacht im Fiaker, in der Droschke oder nur in der Dreierelektrischen in den Baumgarten hinauszufahren, »um sich auszulüften«, welche Prozedur traditionsgemäß unter allerhand Krawallen vollzogen wird. Gegen Exhibitionisten, die bei jungen Mädchen verständnisvollstes Ärgernis erregen und diese zum Weg aufs Kommissariat und zu detaillierten Angaben für das Protokoll veranlassen, gegen Männer, welche Frauen anfallen, gegen Platten, die nächtlicherweile Liebespaare mit materiellen und anderen Erpressungen angehen, werden bei der Polizei Klagen erhoben; mit dem Vermerk »Nachforschungen eingeleitet. Ad acta« wandern sie in die Registratur.

Immer erwischt dagegen werden die Leichen der Selbstmörder. Lebensmüde haben von jeher mit Vorliebe den Baumgarten aufgesucht. Die Schleife der Buschtiehrader Bahn unterhalb der Kunstakademie ist ein besonders beliebter Punkt für jene, die sich unter eine Lokomotive werfen wollen, und im Birkenwäldchen pflegt man sich zu erhängen. Einmal schwingt sich der Polizeirapport aus solchem Anlaß zu makabrem Humor auf: »Es wird bemerkt, daß sich an dem Baum, von welchem der oben beschriebene Leichnam abgeschnitten wurde, seit 12. vorigen Monates bereits drei Personen erhängt haben. Diesbezüglich wird um allfällige Weisungen gebeten.« Will der Wachinspektor die vorgesetzte Polizeibehörde frotzeln, die besonders im Baumgarten alle Privatangelegenheiten kontrolliert und sich daher auch zutrauen könnte, durch das Fällen der Selbstmörderbirke, Aufstellung eines Postens und dergleichen dem Tod hier das Handwerk zu legen? Oder glaubt der Inspektor wirklich an die magnetische Kraft dieses tödlichen Baumes, dessen perlmutterne Rinde er nachts im Mondschein an den Leib eines Toten sich schmiegen sah? Ebensogut könnte er annehmen, daß der ganze Park die Lust zum Tode wachrufe; hat er denn nicht selbst das Protokoll geschrieben, dem zufolge bei dem Ablassen des Karpfenteiches zwei Leichen am Grunde aufgefunden wurden, von denen laut beiliegendem Lokalbefund des Polizeiarztes die des Rudolf M. höchstens eine Woche, die der unbekannten Frauensperson etwa drei Monate im Wasser gelegen hat? Über diesen Toten aber schwammen fröhlich die Karpfen und majestätisch die Schwäne und nahmen gnädigst die ihnen von Kindern zugeworfenen Brezeln an. Jetzt sind freilich keine Schwäne mehr da, denn im Kriege verschwanden die Brezeln, und da konnten sie sich nicht mehr ernähren. Und die Karpfen, die immerhin an den Menschenleichen etwas zu essen gehabt hätten, wurden selbst aufgegessen.

Überhaupt hat sich seit dem Kriege vieles geändert. Von den Umzügen der Arbeiter am 1. Mai wird der Polizeirapport kaum mehr melden, daß »die Demonstranten Tafeln mit der Forderung nach gleichem, direktem und allgemeinem Wahlrecht (auch für Landtag und Gemeindevertretungen!) und ähnlichen destruktiven Schlagworten« trugen; die Jagd, die der Landesausschußbeisitzer Kanonikus Burian alljährlich zum Abschuß der Hasen und wilden Kaninchen veranstaltete und die »ohne Zwischenfall« verlief, ist nicht mehr am Repertoire, der Muster-Schützengraben, der im Baumgarten dem entzückten Hinterland den Komfort der Front vorzauberte und dessen Besucherzahl täglich gemeldet wurde, ist wieder dem europäischen Erdboden gleichgemacht, und auch der stereotype Rapport fehlt seit 1918 in den Akten: »Se. Exzellenz der Herr Statthalter Herr Graf . . . haben mit Familie heute im Lustschloß Baumgarten Séjour bezogen.« In dieser gotischen Ritterburg hat nach dem Umsturz zuerst Minister Stanek gewohnt, dann zog hier die YMCA ein, und jetzt leben Damen darin, die einen höheren Kurs für soziale Fürsorge besuchen. So ändern sich die Zeiten, die Personalien, die Besitzverhältnisse, die Verkehrsvorschriften, die Blumenbeete und die Protokolle.

Nur die Liebe und der Tod bleiben auch im Baumgarten ewig gleich. Der letzte Akt des polizeilichen Baumgartenfaszikels bezieht sich auf einen schreienden Säugling, der von einem Schutzmann auf der Bank bei der Modernen Galerie gefunden wurde. Das Kind hatte nichts bei sich als einen beschriebenen Zettel: »Auf diese Bank, auf der meine Liebe erblühte, lege ich ihre Frucht.«

 


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