Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Der Naturschutzpark der Geistigkeit

Es ist für unsereinen recht schön, daß es so etwas gibt wie Weimar: eine ganze Stadt als Reliquie, ein Bezirk als Wallfahrtsziel, weil hier einmal Dichterleben war. Immerhin erfreulicher, wenn nicht Generale an den Straßenecken bronzern Posten stehen, wenn statt der Roons, Winterfelds, Derfflingers und übriger Spitzen der Militärrangliste aus kriegerischen Zeiten ausnahmsweise der Goethe und der Schiller und der Herder und der Wieland in Erz gegossen sind. Selbst den Großherzogen, die auch auf den hiesigen Plätzen versteinert umherreiten, wird diese tributäre Huldigung nicht mit Waffentaten motiviert, sondern mit dem von ihnen getätigten Engagement besagter Dichter. Die heimische Dynastie wird bloß literaturgeschichtlich eingeteilt; jene Großherzogin hat die Sophienausgabe der Goetheschen Werke (ein Stammtischeinfall, von Philologenärschen ausgebrütet) patronisiert, jener Großherzog das Goethe-Schiller-Archiv erbaut, jene Prinzessin ist die Prinzessin, die in der Fürstengruft dem Grabe Schillers gegenüberliegt, jene Großherzogin ist die Gattin jenes Großherzogs, der mit Goethe . . . Und so.

Ganz Weimar ist eine zur Stadt erhobene Dichterbiographie. Wer nicht zumindest einige Werke über das Leben Goethes studiert hat, kann sich in der Stadt verirren. Fragt man den Einheimischen, wie man ins Hotel kommt, so antwortet er, man müsse am Wohnhaus der Frau von Stein vorüber, bei der Bank, bei der Christiane Vulpius ihrem nachmaligen Gatten als fremdes Mädchen mit einer Bittschrift entgegentrat, nach links biegen, dann geradeaus, über die Jahre 1779 und 1784 gehen, entlang der Prosafassung der »Iphigenie auf Tauris«, den zweiten Teil des »Faust« rechts und »Wilhelm Meisters Wanderjahre« links lassend, und schon sei man da, beim Absteigequartier Zelters. Bleibt man im Park einen Augenblick stehen, um endlich Luft zu atmen, gleich läuft der Parkwächter heran, man erschrickt, glaubt etwas angestellt zu haben, nein, er will nur rasch mitteilen, daß in jenem Gebüsch, von niemandem belauscht, Bettina von Arnim dem fünfzigjährigen Goethe einen Heiratsantrag gemacht hat. In dem mit Baumrinde benagelten Häuschen, fügt er pflichteifrigst hinzu, hat Goethe mit Großherzogin Anna Amalia und Hofdame von Göchhausen, mit Doktor Eckermann und Major Knebel einmal gefrühstückt. Bei dem Stein dort – sehen Sie den Stein, ja? – traf Großherzog Karl August IHN nach dessen Italienischer Reise zum ersten Male.

Die Museen – hier ist jedes Haus ein Museum oder ein Gedenkhaus – sind nur Pavillons des großen Museums, das Weimar heißt. Bekneiferte Lehrerinnen führen Mädchenpensionate von Vitrine zu Vitrine, Gänse schnattern, manche seufzen vor irgendwelchen Tabellen zur »Farbenlehre« schmelzend ein »Nein, wie niedlich«, manche kichern vor dem Bett im Sterbezimmer, was übrigens ebenso geschmackvoll ist wie pietätvoll-ergriffenes Seufzen. Der Geschäftsreisende erklärt seinem Ehegemahl branchekundig einige Andenken, der Gymnasiallehrer schwelgt vor jedem Zettel. Im Goethehaus am Frauenplan drängt sich die Masse der Besucher von morgens bis abends. Instinktsicher hat der Spießer herausgefunden, daß Goethes Leben komplementär zu seinem Werke war – so genial dieses ist, so pedantisch, autoritätsgläubig, devot, zeitfremd und egoistisch war seine Privatexistenz. Das hat der Pfahlbürger aller Nationen mit dem lyrischen Genius gemein, das ist es, was ihn zur Wallfahrt nach Weimar treibt, was ihm die Legitimation ausstellt, pedantisch, speichelleckerisch, zeitfremd und egoistisch zu sein und sich dabei goethisch vorzukommen und das »Deutschland Weimars« aus seiner Feindschaft gegen das deutsche Volk auszuschließen, den Geist Deutschlands zu hassen und den Geist Goethes zu lieben.

Auf Fußnoten schleichen die Erbverweser durch die geweihten Räume, häufen Makulatur auf Makulatur, verwandeln geschriebenes Papier in bedrucktes und bedrucktes Papier in geschriebenes, vergleichen die Schreibmaterialien der Goetheschen Sekretäre miteinander und wenden die Methoden der Altphilologie auf die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts an – öde Anatomen, einen lebendigen Organismus tötend, um ihn obduzieren, um ihn klassifizieren zu können, Esoteriker und Verächter der profanen Welt. Wenn man sich zum Beispiel nach Briefen von Goethes Mutter erkundigt, die über ihre Beziehung zum Königsleutnant Aufschluß geben könnten (derart stark war diese Beziehung, daß Thoranc die aufsehenerregende Verhaftung seines Quartiergebers wegen demonstrativen »Hochverrats« auf Fürbitte der Frau Rat rückgängig machte, eine offenkundige und öffentliche Pflichtverletzung!), stößt man auf entsetzte Mienen der Tempelhüter. »So etwas wagen Sie mir zu sagen, in den Tagen der Ruhrbesetzung?!«

Um Schiller kümmert man sich bei weitem nicht in diesem Ausmaß; der war kein Staatsminister und kein Bürgermeistersenkel, er wurde verscharrt, so daß man den Schädel gar nicht fand, als man ihm schließlich die verspätete »Ehre« antun wollte, ihn in der Fürstengruft neben leibhaftigen Großherzogen beizusetzen. Ins Nietzschearchiv oder ins Lisztmuseum kommen wenig Besucher, auch nach Andenken Herders oder Wielands forscht wohl nur der Fachmann.

Ja, große Männer haben in Weimar gelebt, und es ist großherzogliche Familientradition geblieben, beizeiten Dichter hierher zu verpfropfen, damit aus ihnen rentable Fremdenattraktionen würden, wie es Goethe war. Man spekulierte daneben: Als letzter Goetheaspirant wurde der Dramatiker Ernst von Wildenbruch, Hohenzollernscher Hauskitschier, in dem Treibhaus Weimar aufzuzüchten versucht.

Lächerlich, solch ein Geniekult, lächerlich, ein Leben in Spiritus zu konservieren, lächerlich, die Bewohner einer Stadt zu Mitwirkenden eines beständigen Passionsspieles zu machen. Aber unsereiner könnte sich freuen, daß man doch noch irgendwo einen Dichter ehrt, indem man seinen Wohnort zu einem Sanktuarium weiht, wenn das Ganze nicht bloß ein Naturschutzpark wäre. Als in Amerika die Urwälder fast überall dem Erdboden gleichgemacht, beinahe alle edlen Tiere erlegt, die Indianer mit Branntwein und Flintenkugeln nahezu ausgerottet worden waren, zäunte man ein Stückchen ein und schuf den Yellowstonepark. Dann zeigte man ihn der Welt, zum Zeichen des pietätvollen Verständnisses, das das angeblich so nüchterne Amerika der Natur entgegenbringe, und konnte ruhig den Rest der Urwälder, der Indianer und der Tiere vernichten. Wir hingegen haben Weimar.

 


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