Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Gäßchen der Unterröcke

»Petticoat«, die Verschmelzung eines (verstümmelten) französischen und eines englischen Wortes bedeutet soviel wie »Unterrock«, und der im Londoner Whitechapel von Aldgate East gegen Bishopsgate abfallende Straßenzug hieß von alters her »Petticoat Lane«, das heißt »Gäßchen der Unterröcke«. Was eine ironische Anspielung darauf war, daß Frauen des armen Ostlondon bei der Besorgung von Fisch, Fleisch, Brot und Gemüse hier auch zum Kauf von allerhand Toilettenartikeln billigster Sorte verlockt wurden. Seither sind Zeiten vergangen, die bissige Benennung hat im offiziellen Straßenregister dem Namen »Middlesex Street« weichen müssen, und die Pogrome in Russisch-Polen, die sozialen Mißstände in anderen Ländern, besonders der Pauperismus in Irland, die Judenverfolgungen in Rumänien, das Wachstum des Themsehafens und die freie Ansiedlungspolitik Englands haben den Sprengel der einstigen White Chapel zu einer Riesenkolonie aller Stände gemacht. Der Markt ist zwar am alten Platz geblieben, doch beschränkt er sich längst nicht mehr auf Nahrungsmittel und Schnittware, sondern es sind jetzt Tausende von armseligen Luxus- und Bedarfsartikeln, die dieses Freiluftmagazin feilhält; der Westlondoner kennt die Geusenbezirke nur vom Hörensagen. Er bezeichnet es entweder als Selbstmord, sich in den Bannkreis des Pöbels zu wagen, oder er bestreitet pharisäisch die Echtheit solcher Manifestationen des Volkslebens, sie seien für neugierige Ausländer künstlich gestellt und der ganze Markt von Petticoat Lane von Verkehrsbüros erhalten, die den Touristen für die Besichtigung dieser Sehenswürdigkeiten ihre Detektive vermieten. (Übrigens findet man in der ganzen Welt die Spießeransicht vertreten, daß Massenquartiere und Verbrecherkaschemmen nur Inszenierungen der Fremdenindustrie, Spelunken vom Schlage des »Grünen Kakadu« seien.) Eine Exkursion zur Elendenkirchweih von London genügt, um darzutun, daß selbst Hunderte von Fremden in dem Gewühl erregter Massen verschwinden müssen, genügt, um allzu klar zu erweisen, wie schmerzhaft echt das Fieber des Gelderwerbs, des Feilschens, der Not, der Überredung, des Alters und des Schmutzes ist, das hier die Menschenmenge schüttelt. Am Sonntagvormittag, wenn jedermann Zeit zum Einkauf hat, schwillt das Marktgetriebe ins ungeheuerliche.

In Liverpool Station verläßt man den Waggon der Untergrundbahn und betritt die Stiege, die aus dem Stollen an die Oberfläche führt, man kann auf der untersten Stufe stehenbleiben, die Treppe rollt empor, aber wer Eile hat, nimmt die Stufen und ist doppelt so schnell oben. Das ist der Vorteil des Trottoir roulant gegenüber dem gewöhnlichen Lift, der nivelliert, auf die Unterschiede der Dringlichkeit keine Rücksicht nimmt und alle in das gleiche Abteil preßt, Gemächliche und Hastige.

Vor dem Ausgang bieten schreiende Knaben Ansichten des Marktes von Petticoat Lane an – sie allerdings spekulieren auf die Fremden, denn die Untergrundbahn kommt vom Westen und bringt nur Outsider. Die wahren Interessenten pilgern zu Fuß aus den Arbeiterhäusern von Shadwell, aus den Docks von Bromley, aus den Seemannsheimen von Blackwall, aus den chinesischen Heizerquartieren von Limehouse, aus den schmierigen Zigeunerhöhlen von Millwall, aus den Werkstätten der »Sweated work« = Schneider in den Minories, aus den Kellerlöchern der Schuster von Shoreditch, von den Kais in Poplar, Irländer aus ihrer geschlossenen Kolonie in der Riche Street, Packer, Auslader oder Gelegenheitsarbeiter. Und armselige Strolche und noch armseligere Huren.

Der Anfang der Middlesexstraße ist frei von Verkaufsständen, massig spreizt sich der Block von Ostindien-Speichern, gegenüber ein Hospiz, dahinter biegt die Straße nach rechts. Dort ist der Ursprung des Krawalls, der schon hörbar war, als man die Tubestation verließ, dort schaukelt eine unabsehbar lange Kette von Passanten. Kaum elf Meter breit ist die Gasse, durch zwei Budenreihen, die an den Rändern der Fahrbahn stehen, in drei Teile geschieden,

vor den Häusern: auf den Bürgersteig geschobene Tische mit Trödel;
vor jedem Zelt, vor jedem Laden: Besitzer, Aufseher und Ausrufer;
fast vor jedem Stand: ein Meeting von Gaffern, Kauflustigen und Unentschlossenen;
alle drei Schritte: irgendein fliegender Händler;

und durch diese beängstigende Häufung von Ansammlungen, durch die sich berührenden oder sich überschneidenden Menschenkreise wälzt sich ein Riesenstrom rücksichtsloser Passanten.

Den Verkauf von Anzügen, Frauenkleidung, Stoffen und Tüchern betreiben russische Juden mit Schmachtlocken, über denen samtene Jarmilkes sichtbar werden, wenn sie wegen der Hitze ihre steifen, fettglänzend-schwarzen Schildmützen abnehmen. Manche tragen noch Kaftan und Stulpenstiefel. Frauen helfen im Geschäft, Töchter und Söhne, oft kaum zehnjährige Kinder, geben Auskünfte, preisen an, messen und handeln, besser als die Alten, die nicht Englisch können, und, arme Kinder, ebenso tüchtig.

Sicheren Absatz haben die Dinge, deren der Engländer am dringendsten bedarf: die kurze Tabakspfeife, der Rasierapparat und die Pepitakappe, mit der sich der Gentleman aus Whitechapel unendlich nobel vorkommt. Aber auch diese stark gefragten Artikel können der Reklame nicht entraten, denn groß ist die Konkurrenz. So staut ein Mützenhändler vor seinem Stand die Menge, indem er durch seinen schauspielerisch begabten Ausrufer die ganze Brautwerbung Richards III. und die Antwort der Königin Anna pathetisch vortragen läßt. Nur gelegentlich werden zweckentsprechende Varianten geschaffen. Bei den Schlußworten

Ward je in dieser Laun' ein Weib gefreit!
Ward je in dieser Laun' ein Weib gewonnen!
Das glückte mir, weil ich die Mütze trag,
Die um zwei Schilling ich mir hier gekauft!

bricht das Auditorium in Beifall aus, und einer oder der andere der begeisterten Boys ergreift die Gelegenheit, eine Mütze von der gleichen Bezugsquelle zu erstehen, die einem buckligen Schuft zu so stolzem Erfolg bei einer Königin verholfen hatte.

Ein anderer Händler singt zweideutige Lieder und schaltet vor der zweiten Strophe, deren pikanten Inhalt er bereits angekündigt hat, eine Pause ein, unaufgefordert die Kleider und Taschentücher seiner Zuhörer mit Parfüm zu besprengen. Wer möchte da nicht Käufer sein?

Der Stromrichtung entgegen zwängt sich ein Fünfziger mit Seehundsgesicht. »Ich bin ein fröhlicher Gesell«, flüstert er den Leuten ins Ohr, zwinkert und verzieht den Mund zu einem Lächeln, daß die Stoßzähne erschreckend sichtbar werden. In Kniehöhe steckt er – ostentativ verstohlen einen Umschlag mit »französischen Photos« denen zu, die ihm den verlangten Penny reichen; wer auf den alten Boulevardschwindel hineinfällt, findet in der Enveloppe eine Postkarte mit dem Bild einer keifenden Schwiegermutter oder eines Betrunkenen oder ähnliche Sujets, wie sie die Schaufenster vorstädtischer Papiergeschäfte füllen.

Fast nackt, am Blumenkohlohr als echter Boxer kenntlich, führt ein Jüngling gegen einen wehrlos taumelnden Punchingball Haken, Schwinger und Uppercuts, um die Kraft der Boxhandschuhe zu beweisen, die er anzupreisen hat; statt männlichen Sportnachwuchses umringt ihn ein Rudel von Mädchen, das sich an seinem Muskelspiel ergötzt. Auf regelrechter Jockeiwaage lassen sich kleine Burschen des East End wiegen und träumen, im Sattelraum von Epsom zu sein. Optische Instrumente, Goldbronze, Amulette, Spielwaren und Speiseeis haben es nicht leicht, Abnehmer zu finden, diese Branchen sind unergiebig für Anreißertricks, doch ohne Reklame floriert der Stand, der Portionen grüner Erbsen mit Pfefferminzsoße verschleißt. Bedrohlicher Andrang herrscht vor dem Gingerschanktisch, die Biergläser sind durch Drähte mit der Theke verbunden, die von einem Kordon ausdauernder Säufer und Säuferinnen zerniert ist; die hinten angestellten Durstigen stoßen mit Schultern, Fäusten und Drohungen vorwärts, aber da eine Frau – die karierte Männermütze vermittels einer Hutnadel an der Ponyfrisur festgesteckt, einen Säugling auf dem Arm – sich durch die kompakte Masse zum Ausschank quetscht, machen alle ihr bereitwilligst Platz. In den Auktionshallen wird entfesselter Kitsch in Goldrahmen abgesetzt wie warme Semmeln.

Der Defekt als Anziehungspunkt: ein Stotterer, auf einem Podium stehend, empfiehlt Seifen, seine Zunge wölbt sich gefährlich aus dem Mund, Worte bleiben im Hals stecken, sein Kopf blaurötet sich, halb belustigt, halb aus Mitleid nehmen ihm viele etwas von seinen Blumenseifen ab.

In den Nebengassen sind Gewühl, Getöse und Schweißgeruch nicht mehr so beklemmend, um so stärker tritt die autochthone Not in Erscheinung. Die einstöckigen, schmutzigbraunen oder einst grünen Häuser sehen wie alte Laubhütten aus, die vor Jahrhunderten zu Wohnstätten umgemodelt worden sind. Darin Trödlerladen mit Aufschriften in jiddischer Sprache und hebräischen Lettern, Fleisch- und Gemüsegeschäfte, Buden voll wurmstichiger Möbel, zerlesener Romane und schwarz gewordener Goldwaren, Straßenzüge mit Fischständen, andere mit Verkaufstischen der Schuster gefüllt. Alle Häuser sind Passagen, Labyrinthe, die vielverschlungen durch schmutzige Höfe und finstere Korridore in andere, nein, in gleiche Bezirke führen.

In einem Winkel zählt ein Mann mit Seehundsgesicht und Stoßzähnen seine Kupfermünzen; der »fröhliche Gesell«, der die Schundkarten als Serie pikanter Bilder verkauft hat. Er blickt scheu, geduckt, ist es wohl gewöhnt, als Betrüger beschimpft, vielleicht sogar mißhandelt zu werden. – Ein Bettler steigt aus seinem Rollwagen. – Auf einer Tonne spielen zwei Männer Karten und laden Passanten ein, mitzumachen. – Notdurft wird überall ungeniert verrichtet. – Bobby, der blaue Hüne, pfeift sich ein Lied bei seinem Patrouillengang. – An der Schwelle einer Haustür sitzt die Frau, der die Durstigen vom Gingerausschank so hilfsbereit Platz gemacht haben, ihre karierte Mütze ist trotz Hutnadel ganz schief ins Gesicht gerutscht, bloß ihr linkes Auge ist sichtbar und von dem nur das Weiße, sie ist offenkundig besoffen, ihr Kleid geöffnet, Baby trinkt an ihrer Brust Gingerbier.

 


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