Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Die Dame in Trouville

Ende August

Bedaure, Paris ist momentan nicht zu Hause. Jeder Pariser, männlichen und weiblichen Geschlechts, hat die Stadt den Fremden überlassen. Die ziehen in Rudeln durch Louvre, Notre-Dame und zur Sainte-Chapelle und nehmen mit Entrüstungsrufen die Mitteilung des Fremdenführers auf, daß man während des Krieges die Skulpturen durch Planken und Sandsäcke schützen mußte, weil es die Bomben der Boches gerade auf Kunstwerke abgesehen hatten. Sie riskieren ein Aug für die Exhibition von sechshundert Mädchen in den Folies-Bergère und halten die Eindeutigkeiten der Possen im Théâtre Cluny für französischen Umgangston, obwohl hier nicht einmal ein Mädchen der guten Gesellschaft so etwas in den Mund nehmen würde. Oder sie begeistern sich die vorgeschriebenen drei Minuten lang am enigmatischen Lächeln der Mona Lisa im Louvre. Oder sie fahren abends in Cookschen Mailcoachs gruselnd über den Montmartre und durch die Battignolles und fürchten in jedem braven Spießer einen Apachen. Allerdings in der inneren Stadt und in der Gegend um den Place de l'Etoile würden sie keinem Pariser begegnen. Es ist wie bei Uhland:

Man muß im Lande streifen,
Wenn man ihn fahen will,
Man muß ihn tapfer greifen . . .

Zum Beispiel in Trouville. (Die letzte Zeile reimt sich noch auf die vorigen, ist aber nicht mehr von Uhland.) So, wie es in Österreich als nobel galt, nach Ischl zu gehen, wo der Kaiser war, ist auch Trouville gesellschaftliche Verpflichtung für alle, die noch Wert darauf legen müssen, zu Tout-Paris gezählt zu werden. Ob diese Mode ihren Ursprung auch in der Kaiserzeit hat, ob sie damit zusammenhängt, daß hier am Ärmelkanal Louis-Philippe im Februar 1848 sprungbereit Atem holte, bevor er nach England schwamm, und daß Fürst Murat und Kaiserin Eugènie und Thiers und MacMahon Trouviller Badegäste waren, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlicher ist aber, daß man sich hier ein Stelldichein gab, weil man in der Normandie inmitten des sprichwörtlich schlichten Kernvolkes von Frankreich sein wollte und doch noch am Ufer der Seine, der vielbesungenen, die in Paris so gar nichts Poetisches hat. Aber von biederen Normannen ist, selbst wenn man sich auf den Leuchtturm stellt, nichts zu erblicken, und der Pariser wird die Seine schwer erkennen, die er in Paris so seicht und schlank verlassen hat und die nun in ungeheure Breite gegangen ist, ein einziger Busen, von Trouville bis Havre reichend.

Vom Meer machen die Trouviller Badegäste keinen Gebrauch. Am Strand sitzen hier und da Familien auf Gartenstühlen unter schreiend rotem Riesenschirm, der sich in ein Zelt verwandeln läßt. Die Gartenhäuschen fehlen, in denen man auf der anderen Seite des Kanals, bei Bornemouth oder Folkstone, zur Tafelmusik der Wellen im Badekostüm die Mahlzeiten einnehmen und sogar schlafen kann. In Trouville gibt es nicht einmal Strandkörbe und keine Liegestühle, auch nicht die splitternackten Miniaturbaumeister der Nordseebäder, die aus Sand riesige Ritterburgen bauen; der Sand ist hier zu dünn, kein Baumaterial, und die Kinder von Trouville müssen sich damit begnügen, in gestreiften Seidenjacken und schön gekämmt, ihre Drachen steigen zu lassen. Aber, du lieber Himmel, es sind keineswegs die wunderbar plumpen Drachen unserer Jugend, die wir uns selbst geschaffen hatten, einen Rohrstab um vier Kreuzer, genannt »Rakoska«, umbiegend und zwei Latten an ihren Enden befestigend, mit blauem oder rotem Papier beklebt, eine Schnur mit eingebundenen Papieren als Schwanz angehängt, zusammengeknüpfter Strick als Leitseil um eine Spule gewunden. Nein, diese im Warenhaus »Galleries de Trouville« fertig gekauften Drachen sind ganz anderer Art, sie stellen einen Aeroplan oder einen Vogel oder einen Zeppelin vor, und der Knabe hat eine Doppelwinde mit ach! unzerreißbarer Schnur in der Hand. Die porzellanenen, emaillierten oder baumkuchenartigen Nippsachen, die den Rahmen des Meeres bedecken, beachtet keines der feinen Trouviller Badekinder, denn sie sind alle sehr gescheit und wissen, daß das weder Email noch Porzellan, noch Konfekt ist, sondern schäbige Natur, ganz gewöhnliche Muscheln.

Ein Familienbad existiert nicht, auch in den heißesten Wochen lebt kein Menschengewühl am Strand. Der Ankleideraum der Herren ist von jenem der Damen etwa hundert Schritte entfernt, und man kann einander im Wasser oder am Strande treffen; aber die Narren, die in den Badeort um des Badens willen kamen, sind an den Fingern und Zehen abzuzählen. Einige Gruppen von Badegästen schauen interessiert diesen Masochisten zu, denen es anscheinend wohltut, sich von den Wellen prügeln zu lassen.

Die meisten Leute kriegen, wenn ihre Fenster nicht nach der Nordseite liegen, das Meer fast gar nicht zu Gesicht. Am Vormittag führen sie zwar ihre Toiletten äußerln und wagen sich von der Rue de Paris bis auf den Chemin des Planches vor, der von einer Halbinsel mit muschelbedeckten schwarzen Steinen entlang dem Strand bis zum städtischen Kasino verläuft, aber dieser mit Brettern belegte Promenadenweg ist von Pavillons, Cafés und Kiosken so eingezäunt, daß man die See nicht sieht, und schreiende Camelots sorgen dafür, daß »Le Matin«, »Intransigeant«, »Le Jockey« und »L'Avenir« den Wellenschlag übertönen. Hier trifft sich die halbe Monde und die ganze, und man sieht Frauen in gestrickten, gehäkelten, seidenen Jumpern und orangeroten, zitronengelben, goldfarbenen und hellvioletten schwarzgeäderten Kleidern. Krapprot haben die Damen auf den Lippen, Zinnober auf den Wangen, Karmin auf den Fingernägeln und überdies auf dem Nagel des kleinen Fingers einen Brillantring, der durch ein Kettchen mit einem gewöhnlichen Ring verbunden ist, von den Ohren baumeln je zwei konzentrische Kreise aus Silber oder Zelluloid. Die Waden sind nackt, und die Füße stecken in weißen Strandschuhen, das ist vielleicht nicht elegant, aber man ist doch auf dem Lande, an der See, in der Normandie, nicht wahr? Im Kasinogarten, beim Bai apéritif du matin, tanzen die Herren und die nacktbeinigen Damen den Shimmy zum Klang der Jazzband. Der Kapellmeister klatscht mit Kopf, Kinn, Nase, Knie, Fuß, Ellenbogen und Steiß auf das Tamburin, der Neger an der bemalten Trommel tritt Pedale, die auf Pauken und Bratschen und Tschinellen schlagen, quetscht eine Autohupe, schleudert Glocken, dreht die Ratsche, brüllt kannibalische Laute ins Megaphon, und dazu schütteln die Pariser und Pariserinnen ihre Skelette, lassen ihre Nabel rotieren. Es gibt keinen schlechten Tänzer, keine schlechte Tänzerin, etliche Frauen sind ausgesprochen hübsch, aber keine erzeugt die wünschenswerte Illusion von Widerstandsfähigkeit, keine lockt zur Aufwendung von Mühe, und keine gleicht jenen auch nackt noch Damen bleibenden Dianastatuen der Renaissance. Die übertriebene Schminke hat soviel Sinn wie jede Mode, vielleicht sogar noch mehr, sie ist Überbetonung, Karikatur, das störend strumpflose Bein mag den ersten Schritt wagen zur Primitivität der Frauenkleidung, der Similischmuck dazu dienen, den Gegensatz zwischen armen und reichen Frauen zu mildern. Man ist in Deauville und Trouville der Mode voraus, aber abstrahiert man die Aufmachung, sind diese Frauen ein vulgärer Typus, den man von überallher kennt. Bloß eine, eine ist da, mit dunklen Kugeln unter gewölbten Wimpern und schmalem Elfenbeinoval des Gesichts unter blauschwarzem Haar, schlank in weiß gestricktem Sweater, die Pariserin, die überlegen Dame bleibt, wenn sie auch nacktbeinig ihren Shimmy vor Niggern tanzen muß, wie einst in Tagen der Sklaverei Negerweiber den Weißen vortanzen mußten . . .

Der Nachmittag von Trouville gehört dem Spieltisch im Kasino, doch versammelt er nicht Spieler, sondern nur Habgierige und gesellschaftlich Verpflichtete, sie schauen nervös, geldgeil und vergeblich bemüht, Nachlässigkeit zu mimen, dem Ball nach, der unschlüssig schwankt, auf welcher Ziffer er halten soll. Wer Geld verliert, verliert die Geduld, schmeißt die letzten Jetons in eines der Felder und springt ärgerlich auf, gewinnt eine von den acht anderen Nummern. So steckt schließlich die Bank alles ein. Hier, bei den »kleinen Pferdchen«, ist man anders angezogen als vormittags: die Frauen tragen Seidenstrümpfe und Schuhe und den Rock, der nach Paquins diesjähriger Adjustierungsvorschrift genau zehn Zentimeter über dem Knöchel enden muß, und Brillanten im Ohr, und die Herren Cutaways, und alle Gesichter sind die internationaler Prostitués. Hat jemand ein paar Runden lang Glück gehabt, mag er fremd und abweisend sein, die exklusivsten Damen legen ihre Jetons neben seine und bandeln an. Allerdings – das dunkeläugige, schwarzumrahmte Elfenbeinoval der schlanken Pariserin streift den Gewinner mit keinem Blick, und ruhig setzt sie, wenn ihm auch zehnmal die Trois gekommen ist, ihre Spielmarken weiter auf Huit und Pair.

Unten im Meer bitten die Wellen laut um Beachtung, lärmen und drehen Pirouetten – ihr Tanz und ihre Melodie sind veraltet, kein Shimmy ist's und keine Jazzband, sie locken keine Seele vom Spieltisch, keine vom Absinth oder vom Sherry-Flip und keine vom Dancing. Man kam nicht zum Vergnügen nach Trouville, muß in Eile heim, die Dinerzeit naht, das ärmellose Abendkleid ist anzulegen, die Ceinture aus Jet unter die Taille zu schnallen, der große Straußfedernhut aufzusetzen, nachdem man sich mit anderen Farben bemalt und mit Abendpuder gefirnißt hat. Noch so viel zu tun heute: Theater, Preistanzen, Varieté; und morgen Pferderennen in Deauville und Golfmatch, übermorgen Regatta und Taubenschießen.

Widersteht man dem Rufe der Plakate und schlendert gegen Deauville, wo an der Digue Magnolien und Rosen in Beeten blühen und langgestrecktes Dünengras ringsumher vibriert, dann sieht man die Sonne zu Bett gehen; Himmel und Meer als Tuch benutzend, wischt sie ihre heißrote Schminke von Lippen und Wangen, streut nachlässig ihren Schmuck auf den Boudoirtisch und verlöscht das Licht. Alles erscheint graublau, bis auf die Fenster des Kasinos und der Villen, das blinzelnde Auge des Leuchtturms und die weißen Agraffen der Wellen. Niemand ist hier, man fühlt die Unendlichkeit, die Einsamkeit, erlebt den Begriff »Atlantischer Ozean«. Die Wogen, die am weitesten sprangen, haben ihre Rekordleistung markiert, indem sie die mitgebrachten Girlanden von Tang an die Auffallstellen legten, und nun verläuft parallel zu den beweglichen Zacken des Meeres noch eine Kontur aus aufgeschwemmtem, schleimigem Schilf. Innerhalb dieser beiden Wellenlinien gleitet man wie auf einem Läufer zwischen den Elementen, kein Steinchen, kein Muschelchen, kein Schaumknollen blieb, bloß dünner, hingehauchter, feuchter Sand. Ein Schritt nach rechts, von wo Zungen aus Wasser lockend den Fuß streicheln, »komm« – und man ist nicht mehr, niemand weiß, wohin man verschwand. Niemand? Zwei Menschen erscheinen, die Pariserin, die blauschwarz-dunkeläugig-elfenbeinfarbene Frau, die schöne Frau aus Trouville. Sie hat die Gesellschaft verlassen, das Spiel und den Tanz, sie sucht die Natur . . . Ihr Gatte, oder ist es ihr Freund, begleitet sie, vier, fünf Schritte entfernt, als Schutz, nicht um sie zu stören. Vorüber schwebt sie, so nahe, man spürt ihren Duft, aber ihre Augen streifen den einsamen Bewunderer mit keinem Blick . . . Da fällt ihr Täschchen zu Boden, man springt hinzu, reicht es ihr, sie nickt königlich mit ihrer schwarzen Krone und sagt leise: »To čumiš, Egonku, vid'?«, was, aus dem Prager Vorstadttschechisch übertragen, ungefähr bedeutet: »Da guckst du, Egonchen, was?«

 


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