Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Im Wigwam Old Shatterhands

Der Grund für den Sturm moralischer Entrüstung, der sich in der Gerichtssaalrubrik erhoben hatte und von dort unaufhaltsam durch Feuilleton und Leitartikel fegte, war dem Kenner journalistischer Gepflogenheit ersichtlich. Karl May war ohne Mitwirkung der Kritik, ohne Zeitungsreklame Haupt einer vieltausendköpfigen Lesergemeinde, zu ihrem Heros und zu einer populären und allgemein interessanten Persönlichkeit geworden, und jeder aktuelle Anlaß zur Stellungnahme mußte gegrüßt sein. Hätte er einen Literaturpreis bekommen, so wären persönliche Reminiszenzen, Biographien, Beweihräucherungen erschienen, da er im Gerichtssaal eine Schlappe erlitt, wurde eben Empörung geboten, um so leichter zu motivieren, als Karl May ja, weiß Gott, keine literarisch ernst zu nehmende Gestalt darstellte. Dabei schien es klar, daß von den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen die meisten nichts als geschickt propagierte Mache bedeuteten und überdies verjährte Delikte behandelten.

Erstens: Karl May habe niemals die beschriebenen Länder gesehen, und alle seine Erlebnisse seien erfunden! – Bereits als vierzehnjährige Karl-May-Fanatiker hatten wir nicht eine Minute geglaubt, daß Old Shatterhand wirklich jahrzehntelang in den Prärien des Arkansas, in den Schluchten des Balkan, am Rio de la Plata, im Reiche des Silbernen Löwen und so weiter und so weiter sich herumgetrieben, Bären, Löwen, Tiger, Elefanten und Büffel gejagt, Länder entdeckt, Indianerstämme gefangen, durch den Hieb seiner Schmetterhand Menschen betäubt, die wildesten Hengste zugeritten. Tausende übermenschlicher Abenteuer siegreich bestanden und nachher noch Zeit gefunden habe, vierzig dickleibige Bände, abgesehen von den Romanen im »Guten Kameraden«, zu schreiben.

Zweitens: Mays Doktorat sei erschwindelt. – Auch das war uns schon knabenweis immer ganz selbstverständlich gewesen: daß er sich diesen Titel ebenso beilege wie den des Kara ben Nemsi oder des Old Shatterhand. Sogar noch selbstverständlicher, denn über seine Hochschulzeit hatte er in seinen Büchern niemals etwas ausgesagt.

Drittens: Er habe seine Frau ohne Unterstützung gelassen. – Das war eine Privatangelegenheit, die das Publikum nichts anging, obwohl man zugeben muß, diese Beschuldigung hätte uns in der Jugend am meisten verblüfft, da »Emmeh« in den Romanen als das Ideal einer geliebten Frau geschildert war.

Viertens: In seinen Erstlingsbüchern seien frivole Stellen enthalten. – Diese Romane, verschollen, stehen nicht in Zusammenhang mit dem Erfolg Mays, den hatten die Fehsenfeldschen Bände erzeugt, und diese strotzen so sehr von moralischem Gesalbader und Frömmigkeit, daß selbst allfällige wüsteste Pornographie von Jugendwerken dadurch reichlich wettgemacht ist.

Fünftens: Er sei ein Plagiator. – Eine vollkommen unhaltbare Behauptung. Denn im Grund war überhaupt keine Handlung in diesen dicken, atemlosen Büchern, ihre Spannung wurde, billig genug, durch die Masse der Gegner, die Schnelligkeit von Flucht und Verfolgung, die Unbesiegbarkeit des Helden und durch den Zauber exotischer Namen (»Phantasie«) erregt, und diese Elemente wiederholten sich ununterbrochen, so daß May nur ein Plagiator seiner selbst sein konnte. Die Parallelität einer kleinen Novelle Gerstäckers (ein Fluch, der sich erfüllt) mit einer Mays war übrigens den Mayanern bekannt, ohne daß wir dieser Tatsache Bedeutung beigelegt hätten.

Sechstens: Karl May sei ein berüchtigter Räuberhauptmann, Zuchthäusler, Gewalttäter und Erpresser. – Das war zu absurd, um erfunden zu sein, aber da May doch als einer der produktivsten Schriftsteller weder Geldnot noch Zeit zu Verbrechen haben konnte, mußten die Delikte mindestens vierzig Jahre zurückliegen (um so niederträchtiger der Vorwurf) und schienen übertrieben charakterisiert zu sein.

Das waren sie allerdings nicht. Das Material, das mir für große Summen – die Karl-May-Kampagne war eine Industrie geworden – zum Abdruck angeboten wurde, gab darüber Auskunft. Ich kaufte es um so weniger, als ich mich bereits auf die Seite Mays gestellt und ihm meine publizistische Hilfe angeboten hatte, die er mit Freude annahm. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß die Gerichtsakten als Beitrag zur Psychologie des schriftstellerischen Schaffens bedeutsam, ja sensationell sind. Für den Fall Karl May beweisen sie: Er verdankte den außerordentlichen Erfolg seiner Bücher einer so außerordentlichen Hemmungslosigkeit, daß sie im bürgerlichen Leben nur als kriminell gewertet werden konnte, und er war kein gewöhnlicher Bramarbas, sondern wirklich ein Mann des Abenteuers, das aus dem Tätlichen ins Verbale verdrängt, also innerlich echt war. Wie sehr die den heidnischen und mohammedanischen Milieus aufgesetzten Predigten von Moral und Ehre dazu dienten, eine verkrümmte Lebenslinie geradezubiegen, indem sie auf die andere Seite geneigt wurde, liegt klar zutage. May führt diese Überkompensation auf sittliche Läuterung zurück, die ein katholischer Anstaltskatechet bei ihm, dem Lutheraner, bewirkt hat, doch wird die Tatsache, daß die erfundenen Abenteuer das genaue Komplement der erlebten sind, aus den Akten ersichtlich. Einige Proben daraus können veröffentlicht werden, ohne daß jemand es wagen wird, sie zu einer Herabsetzung Mays zu verwenden, der nach diesen Taten mehr als vierzig Jahre lang an seinem schriftstellerischen Œuvre gearbeitet hat, so gut er konnte.

Fasz.-Nr. 80 463

Kgl. Polizeiamt Leipzig.
20. März 1865.

Mit heutigem Tage zeigt Herr Hermann Hennig, im Geschäft seiner Mutter, der Witfrau Johanna Hennig, Essigfabrikantin, Thomaskirchhof 12, an: Nachmittags gegen drei Uhr sei zu seiner Mutter ein junger Mann gekommen, circa 25 Jahre alt, blasses Gesicht, blondes halblanges Haar, ohne Bart, circa 73 Zoll groß und von schlanker Statur, bekleidet mit brauner Tuchtwine, grauen Hosen und einer Deckelmütze, und habe sich mit Frau Hennig sofort über ein Zimmer, das dieselbe zu vermieten und heute im Tageblatt annonciert hatte, geeinigt. Kurz darauf habe der junge Mann, der sich »Noten- und Formenstecher Hermin« nannte, eine Geldtasche in den Kleiderschrank gehangen und sich entfernt. Circa dreiviertelfünf Uhr sei der angebliche Hermin wieder nach Hause gekommen, und kurz darauf habe ein Kürschnerbursche einen Biberpelz gebracht. Der Kürschnerbursche sei in die von Hermin gemietete Stube gegangen. Nach ungefähr einer halben Stunde kam der Kürschnerbursche ins Nebenzimmer und fragte, wo der Käufer des Pelzes sich aufhielte, er lasse ihn schon so lange warten. Man habe nun den Hermin gesucht, denselben jedoch nicht gefunden, augenscheinlich sei derselbe mit dem Pelz, den er seinen Wirtsleuten zu zeigen angegeben, sofort die Treppe hinuntergelaufen, und habe auch die Stube nur zu dem Zwecke gemietet, um den Betrug ausführen zu können.

Der gleichzeitig miterschienene Kürschnergehilfe Otto Erler hat den angeblichen Hermin genau so, wie oben bemerkt, beschrieben und dazu bemerkt: Derselbe sei heute nachmittags in das Geschäftslokal, wo nur Erlers Mutter anwesend gewesen, Brühl Nr. 73, gekommen, habe einen Biberpelz mit Biberfutter und desgleichen Aufschlag und schwarzem Tuchüberzug für 72 Taler gekauft und den Auftrag gegeben, den Pelz in seine Wohnung bei Frau Hennig zu tragen. Dies habe Erler junior auch getan, habe den angeblichen Hermin angetroffen, demselben den Pelz übergeben und nun auf die Zahlung gewartet. Hermin sei damit zur Stube hinausgegangen, um den Pelz seinen Wirtsleuten zu zeigen, jedoch nicht wiedergekommen.

Die Geldtasche, die der Fremde in den Kleiderschrank der Frau Hennig gehangen, hat derselbe, auf welche Weise, ist unbekannt, wieder an sich und mit fortgenommen. – Die Polizei hat das Leihhaus und die Pfandleihen benachrichtigt und ersucht, den Pelz gegebenenfalls festzuhalten.

Kgl. Polizeiamt Leipzig,
21. März 1865.

Früh nach acht Uhr ist vom Leihhause gemeldet, daß ein Biberpelz von Frau Beyer, Hallesche Straße 5, zum Versatz gebracht und letztere angehalten ist. Auf Vorlegen hat Herr Kürschnermeister Erler den Pelz als denjenigen anerkannt, den gestern nachmittags seine Ehefrau an den beschriebenen jungen Mann verkauft habe. Frau Beyer hat, befragt, angegeben, daß gestern nachmittags nach fünf Uhr ein junger Mann, einige zwanzig Jahre alt, schlank, ohne Bart, mit blassem Gesicht, bekleidet mit schwarzem Rock und schwarzseidener Mütze, der im Halstuch zwei Stecknadeln getragen, zu ihr gekommen sei, ihr den fraglichen Pelz zum Versatz im Leihhause überbracht und, da sie ihm gesagt, daß sie den Versatz erst am nächsten Tag vornehmen könne, vorläufig Zahlung von zehn Talern verlangt habe. Diese Summe habe sie dem Fremden, der sich »Friedrich« genannt, nach Rücksprache mit ihrem Ehemann auch gegeben, worauf sich der angebliche Friedrich entfernt und am folgenden Tag das übrige Geld vormittags um neun Uhr abholen zu wollen erklärt habe.

Der Wachtmeister Lindner hat sich sofort mit Polizeidiener Krug in die Wohnung der Beyer verfügt, um den Fremden, wenn er sich einfinden würde, in Beschlag zu nehmen. Der Fremde hat sich jedoch weder um neun Uhr noch später bei Frau Beyer wieder sehen lassen.

27. März 1865.

Gestern nachmittag um drei Uhr hat Frau Beyer, Hallesche Straße 5, hier melden lassen, daß ein Packträger soeben unter Überreichung des Zettels (folgt Sub 1 bei) Zahlung desjenigen Betrages verlangt hat, welchen sie nach Gewährung der zehn Taler von dem beim Leihhaus verlangten Pfandbetrag für den Pelz noch übrig habe, sowie daß der Packträger (Karl Heinrich Müller, Thomaskirchhof 10) in ihrer Wohnung warte. Die sofort dahin abgegangenen Polizeidiener Bentner und Wolff haben den Packträger in der Beyerschen Wohnung nicht mehr angetroffen und von Frau Beyer erfahren, daß ihr Mann mit demselben in das Rosental gegangen sei, um denjenigen, der dem Packträger den Auftrag zur Abholung des Geldes gegeben habe und an gedachtem Platz auf Rückkunft seines Boten habe warten wollen, festzuhalten.

Die Diener Bentner und Wolff haben sich nun eiligst in das Rosental begeben, sind dort kurz nach dem Packträger und Herrn Beyer eingetroffen und haben einen fremden Mann, mit dem der Packträger, nachdem er von jenem zur Abgabe des Geldes in das Gebüsch gerufen worden ist, gerungen hat, ergriffen und nachher mittels eines Fiakers hierhertransportiert. Bei dem Ringen mit dem Packträger, der anfänglich sich gestellt hat, als ob er das Geld bringe, und so dem Fremden ganz nahe gekommen ist und ihn nun gepackt hat, ist dem Fremden ein Beil (folgt Sub 2 bei), welches derselbe bei sich geführt hat, unter dem Rocke vorgeglitten. Der Arretierte ist anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später angegeben, daß er Karl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt und dort Lehrer gewesen sei und seit dem 28. Februar dieses Jahres in Gohlis, anfänglich bei Hausbesitzer Wilhelm Damm, Möckernsche Straße 28b, dann aber bei dem Stahlstecher Schule, in dem nämlichen Hause wohnhaft, gewohnt habe.

Das Beil ist Eigentum des gedachten Schule, im Besitz Mays gewesen und von demselben gestern mit zur Stadt gebracht worden. Bei einer Visitation in der Wohnung Mays hat man die Umhängetasche desselben (folgt Sub 3 bei), den Heimat- und Verhaltschein (Sub 4/5), einen Verhaltschein des Ortsgerichtes zu Nauslitz (Sub 6) aufgefunden.

May ist gestern nachmittag aufgehoben worden. Er hat die Schriftstücke Sub 7-13 samt dazugehörigen Kuverts, einen Pfandschein des Pfandleihers Bitterlich (Sub 14), zwei Zettelchen, Adressen von hier und Dresden enthaltend (Sub 15 und 16), ein Portemonnaie mit 20 Pf., drei Münzen und einem unechten Ring (Sub 17), ein Rasiermesser (Sub 18) und einige Toilettegegenstände, Bleistift pp. (Sub 19) bei sich gehabt.

Heute früh ist May sowohl Herrn Hermann Hennig als Frau Friederike Erler, geb. Krumbach, vorgestellt und von beiden als der Ermieter des Logis bei Frau Hennig bzw. der Käufer des Biberpelzes anerkannt worden. May hat auch eingeräumt, daß er sich auf die Fol. 1 angegebene Weise den Pelz des Herrn Erler zu erschwindeln gewußt habe. Ferner ist derselbe auf Vorhalt, daß er der im Gendarmerieblatt Band X, Stück 50, Seite 291, Nr. 19, aufgeführte Unbekannte sei, welcher sich in Chemnitz auf betrügerische Weise zwei Pelze von Bisam und zwei Frauenpelzkragen im Dezember vorigen Jahres erschwindelt habe, nicht in Abrede zu stellen imstande gewesen, daß er in Wahrheit der dort aufgetauchte Seminarlehrer, welcher sich Ferdinand Lohse genannt habe, sei. Die betr. Requisition wird beigelegt.

May ist nicht über Leipzig gekommen, hat vielmehr seiner Angabe zufolge die beiden Pelzpelerinen an ein ihm unbekanntes Frauenzimmer für sechs Taler in Freiberg, den neuen Pelz für zwanzig Taler an den Gutsbesitzer Fickler in Nauslitz bei Dresden verkauft und den älteren Pelz für fünfzehn Taler in Dresden versetzt, angeblich auf dem Sub 14 beigefügten Pfandschein.

Ferner hat May auf Vorhalt auch eingeräumt, daß er der im Gendarmerieblatt Band X, Stück 7, Seite 42, Nr. 22, Seite 92, Nr. 17, und Seite 123, Nr. 23, gesuchte, in Penig aufgetauchte Betrüger, der sich med. Heilig genannt hat, sei.

Seiner Angabe zufolge hat er den erschwindelten Winterüberzieher und die Weste noch (die Beschreibung paßt genau auf diese beiden Kleidungsstücke) und will den andern Rock und die beiden Paar Beinkleider, nachdem er diese Kleidungsstücke einige Zeit getragen, an einen ihm dem Namen nach nicht bekannten Trödler in Chemnitz für fünf Taler verkauft haben.

Das Beil will May deshalb bei sich geführt haben, um es in Leipzig schärfen zu lassen. (Sonntags!)

Schließlich wird noch erwähnt, daß der frühere Logiswirt Mays, Herr Damm, angezeigt hat, daß ihm aus seinem unverschlossenen Kasten, der in der Schlafkammer Mays gestanden, zwei Stück Shirting, 6/4 Ellen breit und je 6 bis 8 Ellen lang, verschwunden seien. Diesen Diebstahl stellt May beharrlich in Abrede.

Für diese Delikte wurde Karl May vom Bezirksamt Leipzig zu Arbeitshaus in der Dauer von vier Jahren und einem Monat verurteilt, welche Strafe er am 14. Juni 1865 antrat; nach erfolgter Begnadigung wurde er am 2. November 1868 entlassen. Kaum anderthalb Jahre später wird er in Tetschen an der Elbe von neuem festgenommen – er hatte unter dem Namen Alwin Wadenbach aus Orby in den böhmischen Wäldern des Erzgebirges (wo er schon früher mit dem Banditenhauptmann Napoleon Krüger ein Räuberleben geführt hat) verschiedene Delikte verübt, war verhaftet worden, ist aber entsprungen. Am 13. April 1870 ergeht vom Kgl. Bezirksgericht Mittweida (Abtg. II, Nr. 771) folgendes Urteil:

In der Untersuchung wider Karl Friedrich May erkennt auf Grund der heute stattgefundenen öffentlich-mündlichen Verhandlung das Königliche Bezirksgericht zu Mittweida für Recht: daß Karl Friedrich May

    wegen einfachen Diebstahls,
    ausgezeichneten Diebstahls,
    Betruges, und
    Betruges unter erschwerenden Umständen,
    Widersetzung gegen erlaubte Selbsthilfe, und
    Fälschung, bzw. mit Rücksicht auf seine Rückfälligkeit

nach Artikel 272, 2762, 2783, Strafbest. 284, 285, 2b und 3 in Verbindung mit Art. 276 und 277, 299 Abs. 1 sub. 3 und Abs. 2, 3 Art. 2763, 143 in Verbindung mit Art. 142, 311, 78, 82 folgende ff. 300 Abs. 1 des revid. Strafgesetzbuchs mit Zuchthausstrafe in der Dauer von vier Jahren zu belegen, auch die aufgelaufenen Untersuchungskosten abzustatten schuldig ist.

Das Königl. Bezirksgericht
(gez.) Wirthgen, Lincke, Leonhardt.

 

Entscheidungsgründe

Der Angeklagte Karl Friedrich May, geb. Februar 1842 in Ernstthal, Sohn eines dortigen noch am Leben befindlichen Webers, hat, wie von ihm selbst angegeben wurde, eine nicht gewöhnliche Erziehung genossen und ist auf den Seminarien zu Waldenburg und später zu Plauen zum Lehrer geworden. Nach beendigtem Kursus und nach beendigter Prüfung zum Schulamtskandidat ist der Angeklagte gegen Ende des Jahres 1861 als Hilfslehrer in Glauchau und bald darauf als Lehrer an der Fabrikschule zu Alt-Chemnitz angestellt worden. Bereits im Jahre 1862 hat indes May den Verlust dieser Stellung dadurch verschuldet, daß er einen gemeinen Diebstahl verübte und eine bei dem Gerichtsamt Chemnitz ihm zuerkannte sechswöchige Gefängnisstrafe vom 6. September bis 20. Oktober 1862 verbüßt hat. Gleicher Gestalt ist er im Jahre 1865 wegen gemeinen Betruges vom Bezirksamt Leipzig zu vier Jahren einem Monat Arbeitshaus verurteilt worden, hat jedoch diese Strafe infolge eingetretener Begnadigung nur bis zum 2. Nov. 1868 verbüßt. Kaum aus der Strafanstalt zurückgekehrt, hat der Angeklagte seine verbrecherische Tätigkeit aufs neue begonnen.

Ad 1) Am 29. März 1869 vormittags hat der Angeklagte bei dem Krämer Karl Reimann in Wiederau sich eingefunden und unter dem Vorgeben, er sei der Polizeileutnant von Wolframsdorf aus Leipzig und beauftragt, nach Falschmünzern, mit denen Reimann seit Jahren in Verbindung stehen solle, zu recherchieren, genannten Reimann angeblich zu Protokoll vernommen und ihn aufgefordert, die etwa vorhandenen Kassenscheine zur Prüfung ihm vorzulegen. Reimann hat einen Zehntalerschein herbeigeholt, der Angeklagte aber solchen, nach anscheinend genauer Untersuchung, als falsch erklärt. Ebenso hat er Reimanns Taschenuhr mit dem Bemerken, daß er sie als gestohlen erkenne, zu sich genommen und Reimann aufgefordert, behufs weiterer Erörterung mit ihm nach Clausnitz zu gehen, wo sich die Gendarmerie befinde. Dort angekommen, ist Reimann von dem Angeklagten einstweilen, bis er werde gerufen werden, in den Gasthof gewiesen worden. Der Angeklagte selbst mit Geld und Uhr hat sich schleunigst von Clausnitz fortgemacht, die Uhr, die einen Schätzwert von acht Talern besaß, verkauft und den Erlös ebenso wie den Zehntalerschein für sich verwendet.

Ad 2) In ganz ähnlicher Weise, nämlich unter dem Vorgeben, er sei Mitglied der Geheimen Polizei und abgeordnet, wegen Ausgabe falschen Geldes zu recherchieren, ist der Angeklagte am 10. April 1869 bei dem Seilermeister Krause in Ponitz eingetreten, hat denselben unter vier Augen zu sprechen verlangt, ihn dann aufgefordert, die vorhandene Barschaft vorzuzeigen, und von dem von Krause hervorgebrachten, aus 23 Talern Kurantbillette und ungefähr 12 Talern klingender Münze bestehendem Gelde die sämtlichen Kurantbillette und mindestens sieben Taler klingender Münze unter der Erklärung, daß dieses Geld falsch sei, an sich genommen, auch Krause aufgefordert, ihm sofort nach Crimmitschau an Gerichtsstelle zu folgen. Auf dem Wege dahin und vor Frankenhausen ist indes der Angeklagte unter dem Vorgeben, ein natürliches Bedürfnis befriedigen zu müssen, abseits getreten und hat plötzlich querfeldein die Flucht ergriffen, ist von Krause und von einem von diesem zu Hilfe gerufenen Dritten verfolgt worden und hat, nachdem er das von Krause abgeschwindelte Geld von sich geworfen, der Ergreifung dadurch mit Erfolg sich widersetzt, daß er ein bei sich geführtes Doppelterzerol aus der Tasche gezogen und damit auf seine Verfolger, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden, zu schießen gedroht hat.

Ad 3) Am 28. Mai 1869 hat der Angeklagte bei dem Schmiedemeister Weißfloh in Ernstthal, bei dem eine der Schwestern des Angeklagten zur Miete wohnte, einen Kinderwagen, eine Schirmlampe, ein Geldtäschchen mit zwei Talern, eine Brille in Futteral, zwei Sperrhaken oder Dietriche, ein zweites Geldtäschchen an sich und fortgenommen. Die Sperrhaken sind bei des Angeklagten Arretur noch in dessen Besitz vorgefunden worden.

Ad 4) Am frühen Morgen des 31. Mai 1869 ist der Angeklagte in die leere Gaststube des Viktor Wünschmann in Leipzig eingetreten und hat dort fünf Stück Billardbälle an sich genommen, die er in Chemnitz durch einen Dienstmann für fünf Taler an einen Drechslermeister verkaufte.

Ad 5) In der Nacht zum 4. Juni 1869 hat der Angeklagte aus dem Stall des Gasthofbesitzers Schreier zu Bräunsdorf bei Waldenburg ein Pferd herausgezogen samt einer Trense und einer Reitpeitsche, mit sich genommen, zuerst in Remse zum Verkauf angeboten, dann aber in Hüttenaudorf an den Pferdeschlächter Voigt für fünfzehn Taler verkauft. Indes ist der Angeklagte von dem Bestohlenen so rasch verfolgt worden, daß er es für ratsam gehalten, ohne den Kaufpreis von Voigt ausgezahlt erhalten zu haben, aus Hüttenaudorf sich schleunigst zu entfernen.

Ad 6) Am 15. Oktober 1869 ist der Angeklagte bei dem Weber und Bäcker Wapler in Mülsen-St. Jakob eingetreten und hat sich für einen Expedienten des Advokaten Dr. Schaffrath in Dresden ausgegeben und Wapler durch die unwahre Botschaft, demselben sei von einem Verwandten in Amerika eine Erbschaft zugefallen und er möge daher mit seinen drei Söhnen sofort nach Glauchau gehen, um dort in Dingelstädts Hotel mit Dr. Schaffrath zusammenzutreffen, zu bestimmen gewußt, sich nebst seinen drei Söhnen wirklich nach Glauchau auf den Weg zu machen. Der Angeklagte, der vorgegeben, daß er zunächst in Zwickau eine Besorgung habe, dann aber ebenfalls nach Glauchau kommen werde, ist indes bald nach der Entfernung Waplers und dessen Söhnen in die Waplersche Behausung zurückgekehrt und hat der verehelichten Wapler und deren Schwiegertochter eröffnet, daß in ihrem Hause Falschmünzereien getrieben werden, daß er deshalb haussuchen müßte und daß er Wapler und dessen Söhne durch einen Vorwand bestimmt habe, nach Glauchau zu gehen, um das Aufsehen eines Transports durch die Gendarmerie zu vermeiden. Auf des Angeklagten Verlangen hat die verehelichte Wapler ihres Ehemannes Geldvorrat hervorgebracht, wovon der Angeklagte 28 Taler als angeblich falsches Geld sich aneignete, an sich und mit sich fortnahm.

Ad 7) Während einer der letzten Nächte vor der am 2. Juli erfolgten Arretur des Angeklagten ist derselbe in das verschlossene Kegelhaus des Restaurateurs Engelhard in Hohenstein eingestiegen und hat ein Handtuch, gerichtlich auf drei Neugroschen fünf Pfennig gewürdigt, und ein Zigarrenpfeifchen mit sich fortgenommen.

Ad 8) Bei der durch Gendarmerie erfolgten Arretur des Angeklagten sind in dessen Besitz zwei Schriftstücke vorgefunden worden, welche er in der Absicht angefertigt hat, um davon bei Ausführung seiner Betrügereien und Schwindeleien Gebrauch zu machen. Das eine trägt die Aufschrift »Polizeiliche Legitimation« und die gefälschte Unterschrift »Dresden, am 19. Juni 1869, Dr. Schwarze, Generalstaatsanwalt« und soll dem Inhalte nach den Inhaber zu Recherchierungen nach falschem Papier- und Silbergeld ermächtigen. Das zweite Schriftstück trägt die Überschrift »Akta betr. in Sachen der Erbschaft des Partikuliers . . .« und die Unterschrift »Dresden, den 24. Mai 1869, Vereinigtes deutsch-amerikanisches Konsulat: G. D. Burton, amerikanischer Generalkonsul; Heinrich v. Sybel, sächsischer Generalkonsul«. Der Inhalt dieses Schriftstückes bezieht sich auf die Erbschaft eines in Cincinnati angeblich verstorbenen Partikuliers, dessen Namen jedoch noch offengelassen wurde, und auf einen angeblich von dem Dr. Schaffrath nach den unbekannten Erben haftbar erlassenen Aufruf.

Eine riesige Aktenkorrespondenz zwischen Amtshauptmannschaft Dresden‑N., dem Königlich Sächsischen Justizministerium, dem sächsischen Ministerium des Kultus und des Unterrichtes, Kaiserlich Deutschen Konsulat in Chicago, Landgericht Dresden und so weiter wird geführt und professoral-entrüstete Gutachten von Hochschulen erstattet, ob Karl May auf Grund eines Diploms der sogenannten Universität Germana-Americana (eines Geschäftsunternehmens, das damals in Inseraten der europäischen Presse Doktorate zum Verkauf anbot) berechtigt sei, den Titel »Dr. phil.« zu führen. Karl May hatte sich so unterschrieben, an seiner Villa ein Schild mit dieser Abbreviatur angebracht, im Adreßbuch und in Kürschners Literaturkalender das »Dr.« seinem Namen beigesetzt – eine in titelsüchtiger Welt nicht allzu eitle Lächerlichkeit und jedenfalls von der Lächerlichkeit übertroffen, mit der sich wirkliche Doktoren darüber empörten.

In der am 14. Januar 1903 von der Elften Zivilkammer des Königlichen Landgerichtes Dresden ausgesprochenen Ehescheidung wird die Schuld zur Gänze der beklagten Ehegattin beigemessen, so daß sich in diesem Punkt die vollkommene Haltlosigkeit der gegen May erhobenen Vorwürfe erweist. In dem Erkenntnis heißt es unter anderem:

 

Die Beklagte hat, wie sie der Zeugin Plöhn selbst erzählt hat und der Wahrheit entsprechend angesehen worden ist, fortgesetzt dem Kläger heimlich Geld entwendet, um nach ihrer eigenen Angabe »verfügbares Kapital zu besitzen, damit sie gut leben könne, wenn ihr Mann nicht mehr sein würde«. Sie hat unter dem Kopfkissen des Klägers, während dieser geschlafen, wiederholt Geld weggenommen und hat auch im Juli 1902, während eines Reiseaufenthaltes in Berlin, aus der in der Westentasche steckenden verschlossenen Brieftasche des Klägers beim Reinigen der Weste einen Hundertmarkschein entwendet und hat ihn erfreut der Plöhn gezeigt und dabei geäußert: »So muß man es machen! Nur immer soviel nehmen als möglich. Es ist besser, wir haben es.«

Obgleich die Beklagte sehr reichliches Wirtschaftsgeld von ihrem Ehemanne empfing und für sich selbst »sinnlos viel Geld verbrauchte«, hatte sie dennoch stets viel Geld zu ihrer Verfügung. Ja, sie hat sogar dem vor etwa zwei Jahren verstorbenen Ehemann der Zeugin Plöhn nach und nach die Summe von sechsunddreißigtausend Mark gestohlenen Geldes zur verzinslichen Anlegung und nach Plöhns Tode der Zeugin Beibler weitere sechstausend Mark zur Aufbewahrung überbracht, so daß sich bei der Verschwendung der Beklagten auch nicht annähernd beziffern läßt, welche Summe sie dem Kläger heimlich und widerrechtlich weggenommen und sich zugeeignet hat.

Ferner hat die Beklagte »aus Neugier oder um ihren Mann zu ärgern«, wie die Beibler bekundet, fortgesetzt an diesen gerichtete Geschäfts- oder Privatbriefe abgefangen und versteckt oder durch Feuer vernichtet; sie hat auch einen vom Kläger lange Zeit vermißten, für ihn äußerst wichtigen Verlagsvertrag beiseite gebracht und in ihrem verschlossenen Vertikow unter den Dienstbüchern des Dienstpersonals versteckt. Erst nach dem Weggange der Beklagten ist sowohl dieser Vertrag als eine größere Anzahl Pakete solcher Briefe im Hause des Klägers versteckt aufgefunden worden.

Weiter hat die Beklagte, nach den übereinstimmenden Angaben beider Zeugen, ihren Ehemann jahrelang in der gehässigsten Weise behandelt. Er war ihr lästig, deshalb wollte sie ihn los sein und wollte für ihn nicht einmal mehr kochen. Sie ist geflissentlich darauf ausgegangen, den Kläger zu kränken und ihm weh zu tun, hat ihn auch mit Schimpfworten gemeinster Art wie »Kerl, Saukerl, alter Ekel, verrücktes Luder« belegt und geäußert: Es wäre ihr eine Wonne, wenn sie es dem Kerl recht stecken könne; sie wäre froh, wenn sie allein wäre, sie wolle das Leben genießen; auf den Friedhof würde sie an sein Grab nicht gehen.

Bei dem erwähnten Aufenthalt in Berlin im Sommer 1902 hat die Beklagte, nachdem sie sich einen höchst auffälligen Mantel gekauft, während der Kläger neben ihr im schlichten Anzug gegangen ist, ihm in Gegenwart der Plöhn laut zugerufen: »Du siehst aus wie unser Louis« und ist dabei verächtlich zur Seite getreten. Von der Plöhn hierüber zur Rede gestellt, hat die Beklagte geäußert: »So muß man es dem Kerl sagen, das Derbste ist gerade gut für ihn, sonst zieht es nicht.« Dem Drängen der Plöhn, dem hierüber aufs höchste erregten Kläger Abbitte zu leisten, ist die Beklagte nicht nachgekommen. Sie hat daraufhin noch erklärt: »Nein, so muß es kommen; nur so kann man den Kerl kleinkriegen und durchsetzen, was man will. Nur das zieht, wenn man ihm so gemein kommt!«

Durch einen Rattenkönig von Prozessen und die maßlosen Angriffe war May – 1910 ein alter Herr von achtundsechzig Jahren – physisch und psychisch vollkommen in Anspruch genommen. Nach einer Zeugenverhandlung in Köln erkrankte er nicht unbedenklich. Trotzdem schrieb er mir, dankbar selbst für den entlegensten journalistischen Anwalt, jede gewünschte Information oder ließ sie durch seine zweite Gattin, Frau Klara May, schreiben. Im Mai 1910 bekam ich folgenden Brief:

Villa Shatterhand, Radebeul-Dresden
den 6. 5. 10.

Sehr geehrter Herr Redakteur!

Ich hoffe, bis Montag, den 9. d. M., von meinem Unwohlsein so weit hergestellt zu sein, daß ich Sie empfangen und Ihnen Auskunft geben kann. Ich stehe Ihnen an diesem Tage zur Verfügung. Wenn Sie in Dresden, Hauptbahnhof, eintreffen, geht auf demselben Geleis stündlich ein Zug nach Radebeul. Ich wohne sechs Minuten vom dortigen Bahnhof entfernt, Villa »Shatterhand«, Kirchstraße 5.

In vorzüglicher Hochachtung

Ihr
Karl May.

Drei Aufschriften bezeichnen in Radebeul die Villa, an der Vorderfront, auf der sich das Blau von Glyzinien emporrankt, steht der Name des Hauses »Shatterhand«, am Eingangstor zwei kleine Messingschilder, »May« besagt das eine, das andere gestattet Fremden den Besuch nur nach vorhergegangener Vereinbarung. Die Diele betont allerwildestes Wildwest, betont Prärie und Indianerdorf. Mit Tigerfellen ist die Wand drapiert und mit dem Kopf eines Elentiers, Tomahawks und Bumerangs kreuzen sich, doppelläufige Gewehre und vierschneidige Tigermesser, Lassos und Zaumzeug umschlingen Jagdtrophäen, Schirwans, Mokassins und alles übrige, was zur stilgemäßen Ausrüstung eines ruhmreichen Trappers gehört. Noch phantastischer der Salon. Auf Riesenkartons die Originale der Zeichnungen, mit denen Sascha Schneider Mays Bücher illustriert hat. Bric-à-brac aus Wachsstein und Porzellan Chinas, bemalte indianische Holzskulpturen, phönizische Steinstatuetten füllen die Vitrinen, die Zimmerecke schneidet ein geflochtener Wandschirm voll Koransprüche, auf einer Etagere liegen ein rottönernes Kalumet, ein Rosenölfläschchen und ein geschnitztes Tespih, ein Kranz türkischer Gebetkugeln – ausgebreitet wie Corpora delicti auf dem Gerichtstisch.

Zunächst wird man von Frau May begrüßt, die in der Behandlung des Themas Karl May Routine besitzt. Sie führt seine Korrespondenz, empfängt die Wallfahrer, erklärt ihnen die Schätze der Villa Shatterhand, erzählt ihnen von May, seinen Reise- und Bücherplänen, und der große Magus braucht sich dann nur für einige Augenblicke zu zeigen, um ohne großen Zeitverlust zu seiner Arbeit zurückkehren zu können. May selbst ist ein untersetzter Herr, soigniert gekleidet, nur der grünschillernde Skarabäus in der Krawatte meldet den Globetrotter. Das silbergraue schüttere Haar liegt fest an und reicht tief in den Nacken; auch der graue Schnurrbart wohlgepflegt. Die Stirne nicht denkerisch gewölbt, aber hoch und frei, wie bei Menschen, die »Geographie des Hirns« besitzen, die klare Anordnung und Bereitschaft reichlicher Gedächtnisgüter. Er sächselt leicht und kommt bald in Erregung, was bei dem Thema selbstverständlich ist, wenn aber seine Frau, mitgerissen, sich allzu lebhaft an der Debatte beteiligt, unterbricht er sie ein wenig ärgerlich: »Das verstehst du nicht!«

Wir sprechen zuerst vom Charlottenburger Prozeß. Warum hat May nichts erwidert, als der Beklagte, der Schriftsteller Selius, ihn beschuldigte, er habe Diebstähle verübt, Marktfrauen überfallen, eine Räuberbande gegründet, Geld entlockt und Meineid begangen? »Weshalb ich nicht geantwortet habe? Der Richter ließ mich nicht zu Worte kommen. Ich war auf derartige Angriffe vollständig unvorbereitet, es war ein Prozeß formaler Natur; sechs andere große Prozesse, die ich gegen Selius angestrengt habe, schweben noch. Der Vorfall war ganz geringfügig im Vergleich zu den anderen Delikten, um derentwillen ich ihn geklagt habe. Er hatte mich zwar einen geborenen Verbrecher genannt, jedoch nur in einem Privatbrief an die Weimarer Kammersängerin Selma von Scheidt, es lag also keine öffentliche Beleidigung vor, ich wüßte genau, er könne hierfür höchstens zu einer Geldstrafe verurteilt werden, und nahm mir nicht einmal einen Rechtsanwalt mit. Selius aber hatte seinen Schriftsatz vervielfältigt an die Zeitungsredaktionen geschickt, alle Berichterstatter zusammengetrommelt. Als ich, starr vor Staunen über seine Beschuldigungen, das Wort erbat und ausführte, daß ich wenigstens zwei Stunden brauchen würde, um jedes einzelne Glied dieser Riesenkette von Unwahrheiten zu widerlegen, erwiderte der Richter, dies sei nicht nötig, klappte die Aktentasche zu, und der Gerichtshof verließ den Verhandlungssaal. Nach einer Weile kehrte er zurück und verkündete, Selius sei zu fünfzehn Mark Geldstrafe verurteilt. Nun meldete sich der Rechtsanwalt des Selius zum Wort und sagte, er habe ja noch kein Plädoyer gehalten, sondern nur Beweisanträge gestellt. Daraufhin erklärte der Richter, das Urteil sei irrtümlich gefällt worden, hörte die Rede des Verteidigers an und sprach den Selius frei. Ich habe selbstverständlich Berufung eingelegt.

Was das für ein Mensch ist, dieser Selius? Er stammt aus Reval. Was er ursprünglich für einen Beruf hatte, weiß ich nicht. Seiner politischen Färbung nach war er zuerst nationalliberal, dann freisinnig, dann Sozialdemokrat, und jetzt ist er Funktionär der Gelben Arbeitervereine. Im Jahre 1904 kam er nach Dresden, um sozialdemokratischer Redakteur zu werden, doch gelang ihm dies nicht, und so gab er selbst ein Blättchen heraus, das er die ›Sachsenstimme‹ nannte. Eines Tages erschien er bei mir und gab seine Ansichten zum besten. ›Wir Schriftsteller sind arme Leute‹, sagte er damals ungefähr, ›wir können uns keine eigene Gesinnung leisten. Wer uns bezahlt, dem gehören wir. Man muß sich bemühen, Leute kennenzulernen, man muß sie studieren. Jeder Politiker, jeder Beamte hat Werg am Rocken. Irgendwo gibt es im Vorleben jedes Menschen einen dunklen Punkt. Bei passender Gelegenheit macht man geschickt eine Andeutung über die geheime Sünde des Betreffenden, dieser muß sich nun bemühen, die Gunst des Schreibers zu erwerben, und auf diese Weise wird man ein einflußreicher, großer Redakteur.‹ Später wandte sich Selius in Briefen an mich, ich möge ihm Geld für sein Blatt senden. Zunächst bat er um zweitausend, dann um dreitausend und zuletzt um zehntausend Mark. Dafür wolle er mich rühmen und preisen. Hunderte von Exemplaren blau angestrichen an reichsdeutsche und österreichische Zeitungen senden, mir einen großen literarischen Ruf schaffen. Ich entgegnete, daß ich dies nicht nötig habe und für solche Zwecke kein Geld besitze, und schickte ihm auch keinen Pfennig. Er hatte bei mir den Schriftsteller Max Dittrich kennengelernt, welcher eine Broschüre über mich abzufassen beabsichtigte, und Selius wollte nun von mir eine Empfehlung an Dittrich, daß dieser ihm den Verlag der Schrift übertrage. Er schrieb mir, er würde die Broschüre glänzend vertreiben und mich lancieren, und wandte sich gleichzeitig an Dittrich, dem er von jedem verkauften Exemplar eine hohe Tantieme anbot, wenn er ihm die Broschüre in Verlag gäbe und einen Druckkostenbeitrag von zehntausend Mark von mir verschaffe. Dittrich teilte mir das damals schriftlich mit, und meine Absicht, den Selius keinesfalls zu unterstützen, wurde hierdurch noch bestärkt. Eines Tages langte eine anonyme Postkarte an mich ein, bloß mit Anfangsbuchstaben unterzeichnet. ›Ich saß soeben‹, hieß es auf dieser, ›in einem Restaurant, und da erklärte ein gewisser Herr Selius zu anderen Leuten, daß er in der nächsten Nummer der »Sachsenstimme« gegen Sie einen Artikel loslassen werde.‹ Ich ging mit der Karte zum gerichtlichen Sachverständigen, und der konstatierte, sie sei von Selius selbst geschrieben. In der nächsten ›Sachsenstimme‹ erschien wirklich ein Artikel, in welchem er mich als ein kleines, altbackenes Schulmeisterlein mit struppigem Haar schildert und sagt, ich sei sehr kurzsichtig, jedoch verstecke ich meinen Klemmer sorgfältig.«

Was sollte dieser Vorwurf?

»Er wollte mich damit blamieren, denn ein Weidmann, ein Schütze darf nicht kurzsichtig sein. Ich sehe aber außerordentlich gut, nur trage ich beim Lesen einen Kneifer, weil ich weitsichtig bin. Solcher Unwahrheiten waren in dem Aufsatz etwa siebzig enthalten, doch unterließ ich jede Erwiderung. Darauf wurde ein zweiter veröffentlicht, ich reagierte wieder nicht. Die Artikel waren zuwartend, einige Angelegenheiten nur andeutungsweise berührt, Selius glaubte wahrscheinlich, ich würde doch noch mit den zehntausend Mark herausrücken. Er irrte. Da erschienen am Weihnachtsabend in den Schaufenstern der Papierhandlungen und Buchhandlungen Dresdens große Plakate mit der Aufschrift: ›Die Gräfin Montignoso und die Vorstrafen von Karl May‹ – Reklame für einen Artikel in der Zeitschrift des Selius; das Tertium comparationis war, daß sowohl die Gräfin Montignoso als auch ich ausgepichte Bösewichter seien. Natürlich wurde das Blatt, weil jeder einen pikanten Zusammenhang zwischen mir und der ehemaligen Kronprinzessin vermutete, massenhaft gekauft. Das war für mich eine böse Weihnachtsüberraschung. In dieser Weise schrieb er noch eine Reihe von Pamphleten gegen mich, bis er verschwand.«

Frau May (einfallend): »Mit Schulden!«

Karl May: »Mit massenhaften Schulden. Einmal habe ich ihn wegen zwei Mark fünfzig Pfennig pfänden lassen wollen, die mir vom Gericht zugesprochen worden waren – nicht einmal die konnte ich bekommen.«

Wurde er nie zu größeren Strafen verurteilt?

»Ich habe selten gegen ihn Klage erhoben. Ich hatte keine Zeit, mich mit ihm abzugeben. Einmal klagte ich ihn zum Beispiel, er wurde verurteilt, und ich glaubte mit diesem einen Fall fertig zu sein, in zweiter Instanz wurde er jedoch freigesprochen.«

Frau May: »Er ist nämlich ein Talent in der Art seiner Verteidigung.«

May: »Ein Genie geradezu! Er arbeitet mit beispielloser Unverfrorenheit. Er sagte einmal dem Staatsanwalt, ein Hotelier vom Berge Sinai habe ihm erklärt: ›May ist ein Lügner, dem darf man nichts glauben.‹ Nun gibt es auf dem Berge Sinai bloß das Kloster der heiligen Katharina, sonst kein Haus, kein Restaurant, am allerwenigsten ein Hotel. Meine Anzeige wurde damals zurückgewiesen, man nahm an, eine derart konkrete Behauptung könne er nicht aus dem Stegreif erfunden haben. Bei diesem Prozeß handelte es sich um die Geschichte der anonymen Postkarte; er wurde freigesprochen, weil man ihn auf Grund von Indizien des schweren Verbrechens der Erpressung nicht schuldig erkennen wollte. Als Selius aus Dresden verschwunden war, tauchten in Wien und in Deutschland in einigen Blättern seine alten Artikel gegen mich auf. Plötzlich erschien Selius wieder auf dem Plan, und zwar als Mitarbeiter des Bruhnschen Wochenblattes in Berlin ›Die Wahrheit‹. In dieser wurde ein Schundartikel veröffentlicht, in dem behauptet wurde, ich sei ein atavistischer Verbrecher. Das war eine Beleidigung, für die kein Wahrheitsbeweis zulässig ist, und ich hätte ihn ruhig verklagen können, aber ich dachte mir: du müßtest wieder draufzahlen, denn bei der Pfändung kriegst du ohnedies nichts. Nun gab er ein neues Blatt heraus, das er selbst als ›Leib-und-Magen-Blatt der gelben Arbeiter‹ bezeichnete. Es hieß ›Der Bund‹. In diesem ›Bund‹ ging er besonders scharf gegen seine früheren Bundesbrüder, die Sozialdemokraten, los. Diese antworteten ihm entsprechend, und es kam zu mehreren Beleidigungsklagen. Hierbei wurde ich von den Sozialdemokraten als Zeuge gegen Selius nominiert. Ich, das sage ich aufrichtig, nahm mir vor, mich der Sache zu entziehen, und habe auch in diese Prozesse nicht eingegriffen. Selius aber fürchtete, weil er von meiner Absicht, mich der Aussage zu entschlagen, nichts wußte, mein Zeugnis werde ihn kaputt machen.

Deshalb schickte er seine Frau nach Radebeul. Sie wagte es nicht, in meine Villa zu kommen, sondern bat meine Frau in die Bahnhofswirtschaft von Radebeul. Dort setzte Frau Selius meiner Frau auseinander, wie ich bei dem Prozesse aussagen sollte; wenn ich nicht so täte, würde Selius abermals gegen mich losziehen und mich ruinieren. Meine Frau erwiderte, ich würde nichts als die Wahrheit aussagen. Daraufhin fuhr Frau Selius von dannen, ohne ihren Zweck erreicht zu haben. Um diese Zeit ließ Selius eine Annonce erscheinen, daß er einen Schriftsteller suche; mit dessen Hilfe wollte er mich endgültig zugrunde richten. Es meldete sich ein Schlossergeselle namens Friedrich Wilhelm Kahl aus Basel, der zur Schriftstellerei übergehen wollte. Diesen engagierte Selius, zahlte ihm nach und nach zweihundertfünfzig Mark aus; dafür sollte er eine Broschüre unter dem Titel ›Karl May, ein Verderber der deutschen Jugend‹ schreiben. Hierüber sagte Kahl in einer eidesstattlichen Versicherung ungefähr folgendes aus: ›Selius hat mir gesagt, daß May durch diese Broschüre totgemacht werden soll, er werde diese Broschüre den Richtern vorlegen, damit diese den Aussagen Mays nicht glauben; Selius bezeichnete sich als großes forensisches Talent, wenn er vor Gericht zu sprechen beginne, so seien die Richter auf seiner Seite. Darauf antwortete ich: Ich kenne May ja gar nicht! Er hat mir nichts getan, ich habe gehört, daß er ein tüchtiger Kerl ist, und wenn ich solche Sachen schreibe, komme ich ins Zuchthaus. – Selius entgegnete mir: Wir Schriftsteller stehen alle mit einem Fuß im Zuchthaus; auch ich bin wiederholt vorbestraft, aber das ist nur eine gute Reklame für uns. Selius gab mir die nötigen Unterlagen, und nun sollte ich die Broschüre beginnen.‹ Kahl schrieb den Anfang der Broschüre, aber, da ihn Selius nicht überzeugt hatte, so schlecht, daß er unmöglich gedruckt werden konnte.«

Kahl wird es wohl nicht besser getroffen haben?

»O nein. Er schrieb es mit Absicht schlecht. Ganz konfuses Zeug, das überhaupt keinen Sinn hatte. Als Selius dies las, sagte er: ›Das taugt nichts; ich werde die Broschüre selber schreiben und Ihren Namen daruntersetzen.‹ Kahl verbat sich das sowohl bei Selius als auch bei dem Verleger, trotzdem erschien die Druckschrift unter dem Namen Kahls und strotzte von Lügen, Übertreibungen und Invektiven.«

Verzeihen Sie, Herr Doktor, daß . . .

»Bitte, sagen Sie mir nicht ›Herr Doktor‹! Ich habe zwar das amerikanische Doktorat erworben, aber ich höre es lieber, wenn man mir bloß ›Herr May‹ sagt,«

Ich wollte fragen, Herr May, ob das wirklich ganz erlogene Behauptungen sind, die Selius bezüglich Ihrer Vorstrafen aufgestellt hat.

»Ich bin vorbestraft. Allerdings habe ich meine Strafen schon vor fünfzig Jahren abgebüßt. Ich schreibe jetzt ein Buch, worin ich nichts leugne und meine Gefängnisstrafen schildere. Es wird ›Am Marterpfahl und Pranger‹ heißen und eine Selbstbiographie sein. Ich gestehe darin meine Sünden, lege meine Ideale und Bestrebungen dar und schildere, was ich noch zu tun gedenke.«

Waren Sie lange im Kerker?

»Ja. Das habe ich nie geleugnet. Aber ein Räuberhauptmann war ich nie.«

Frau May: »Den Räuberhauptmann Krüger, als dessen Komplize mein Mann geschildert wird, hat er kaum gekannt.«

May (zu seiner Frau): »Misch dich nicht hinein.« (Zu mir): »Nur ganz oberflächlich kannte ich ihn. Er ging in dieselbe Schule wie ich, einige Klassen tiefer. Seither habe ich nur selten mit ihm gesprochen. Einmal traf ich ihn in meinem Heimatort Hohenstein-Ernstthal bei Chemnitz. Da trat er auf mich zu und sagte: ›May, ich habe Sie um Entschuldigung zu bitten, ich habe vieles, was ich getan habe, auf Sie geschoben.‹ Ich entgegnete ihm: ›Sprechen Sie nicht mehr davon.‹«

Und darf man wissen, weshalb Sie bestraft wurden?

»Nein. Mein Verleger hat mir das verboten, damit ich dem Buch nicht vorgreife. Aber das, was man mir vorwirft, habe ich nicht getan.«

Wieso wußte Selius von Ihren Vorstrafen?

»Die Affäre Selius hängt mit meinen Prozessen mit meinem ehemaligen Verleger Münchmayer zusammen. Dieser kannte meine Eltern und wußte von meinen Gerichtsstrafen. Er dachte also, er könne mit mir machen, was er wolle, da ich mich nicht rühren werde. So änderte er meine Romane, die ich ihm in Verlag gegeben hatte, und sein Rechtsanwalt hat selbst zugestanden, daß fünfzig Prozent des Inhaltes meiner Bücher im Münchmayerschen Verlage ins Unmoralische geändert worden sind. Die derart verballhornten Romane sind zum Gegenstand der größten Angriffe gegen mich gemacht worden. Man hat mir vorgeworfen, ich schreibe auf einer Seite fromm, auf der anderen abgrundtief unsittlich.«

Weshalb hat Münchmayer diese Änderungen vorgenommen?

»Er spekulierte auf die Sensationslust der Menge und flocht Zoten und frivole Scherze hinein, um den Absatz der Bücher zu vergrößern.«

Woraus schließen Sie, daß zwischen Selius und dem Münchmayerschen Verlage ein Zusammenhang besteht?

»Ich beanspruche von Münchmayer dreihunderttausend Mark für meinen Roman ›Das Waldröschen‹, die ich übrigens nicht für mich, sondern für eine Witwen- und Waisenstiftung verwenden will. Der Verlag weigert sich, das Geld zu bezahlen, und hat ein Interesse daran, meine Ehrenhaftigkeit in Zweifel zu setzen. Und der Rechtsanwalt des Herrn Selius ist gleichzeitig der Rechtsanwalt des Münchmayerschen Verlages . . .«

Wie erfuhren Sie, Herr May, von den Machenschaften des Selius mit Kahl?

»Als Kahl gehört hatte, die Broschüre sei trotz seines Einspruches unter seinem Namen erschienen, kam er zu mir und erzählte mir den ganzen Schwindel. Er bot sich als Zeuge an, und ich verklagte Selius wegen dieser Broschüre. Das Gericht verbot ihren Vertrieb. In der entscheidenden Verhandlung vor dem Gerichte Berlin-Schöneberg kam auf Veranlassung des Vorsitzenden ein Vergleich zustande, wonach Selius alle seine Behauptungen, materielle wie formelle, revozierte, bedauerte, mich beleidigt zu haben, und versprach, es nicht wieder zu tun. Darauf nahm ich meinen Strafantrag zurück und glaubte zu Ende zu sein. Da geht der Mann hin, engagiert meine geschiedene Frau, zahlt ihr zweihundert Mark und beginnt abermals. Das sind die neuen Beleidigungen. Sechs Stück: eine ›Bund‹-Nummer, zwei Flugblätter und drei in Charlottenburg anhängige Prozesse. Der Prozeß in Charlottenburg, bei dem Selius im vorigen Monat freigesprochen wurde, hat weder zu einer Beweisführung noch zu irgendeiner Feststellung geführt. Ich habe weder etwas eingestanden, noch sind Zeugen einvernommen worden, noch hat man irgendwelche Dokumente vorgelegt. Trotzdem wird in Hunderten von Blättern behauptet, ich hätte alles zugegeben, die Zeugen hätten das alles bestätigt und die Dokumente hätten alles erwiesen, was mir vorgeworfen worden ist. Das sind Lügen, die bei der Verhandlung in zweiter Instanz ans Tageslicht kommen werden. Ich fühle mich keineswegs als Besiegter, sondern bin vollständig davon überzeugt, daß ich aus der ganzen Hetze als Sieger hervorgehen werde.«

Es ist auch gegen Sie der Vorwurf erhoben worden, Sie hätten überhaupt keine überseeischen Reisen unternommen. Darf ich fragen, wie es sich damit verhält?

»Ach, das ist Unsinn. Ich reiste schon als siebzehnjähriger Junge. Klärchen, hast du nicht einige Photographien aus Amerika oder aus dem Morgenland bei der Hand?«

Klärchen hat einige Photographien aus Amerika und dem Morgenland bei der Hand. Es sind Bilder, die Karl May am Brunnen Abrahams in Hebra, am Silvahteiche in Jerusalem, vor einem Zelt der Tuscarora-Indianer, an den Tempelruinen von Korinth, am See Genezareth in Kapernaum, am Den Rock, dem Nuggetberg der Indianer, und am Monument des Indianerhäuptlings Sa-go-ye-wat-ha in Buffalo zeigen. Auf all diesen Photos sieht man Karl May als alten Mann, und sie widerlegen die vorgebrachte Behauptung nicht, May habe erst von 1900 ab Reisen unternommen, um späterhin sagen zu können, daß er wirklich im wilden Westen Nordamerikas und im heißen Osten Afrikas gewesen sei. May muß meinen skeptischen Blick bemerkt haben.

»Selius sagt freilich, daß man solche Bilder auf dem Jahrmarkt herstellen kann. Er will mich sogar in Dresden in einer Droschke zu einer Zeit gesehen haben, da ich in Amerika war. Übrigens«, fährt May fort, »ist es ganz gleichgültig, ob ich in fremden Ländern war oder nicht. Ich wiederhole, daß ich weite Reisen gemacht habe, aber das kommt für die Beurteilung meiner Schriften nicht in Betracht. Das ›Ich‹, in welchem ich schreibe, hat mit meiner Person nichts zu tun, mit diesem Ich ist die Menschheit gemeint, welche die Aufgabe hat, den Menschheitsrätseln nachzugehen, sie zu ergründen. Winnetou, der Apachenhäuptling, ist der Prototyp der sich eben in Amerika entwickelnden germanisch-indianischen Rasse, mein Hadschi Halef Omar stellt die Anima dar, die da glaubt, Geist und Seele zu sein, aber keines von beiden ist, Marah Durimeh, die kurdische Königstochter, ist die Menschheitsseele, Schah-in-Schah ist Gott. Ich sende meinen Kara ben Nemsi, meinen Old Shatterhand in fremde Länder, um zu zeigen, wie wir als Edelmenschen dort zu handeln haben. Mir stünde es völlig frei, in der Heimat zu bleiben, und wenn ich dann trotzdem behaupten würde, in der Fremde das Erzählte miterlebt zu haben, so ist das keine Lüge. Denn die Ereignisse spielen sich zu Hause ab, die Fremde ist Imagination. Hat nicht auch Dante das ›Inferno‹, das ›Purgatorio‹ in Ich-Form beschrieben, ohne dort gewesen zu sein? . . .

. . . Gewiß, aber man kann ja auch die Orte meiner Reiseabenteuer als Phantasieland ansehen, wenn man gerade wollte. Da die Länder wirklich bestehen, wie man aus der Geographie ersehen kann, habe ich noch mehr Anrecht, sie zu beschreiben. Viele Länder und Stätten sind auch bei mir symbolisch aufzufassen, wie Dschinnistan als Land der zukünftigen Edelmenschen und Ardistan als das Land der Gewaltmenschen von heute.«

Man hat auch gegen Sie den Vorwurf des Plagiats erhoben.

»Ganz unbegründet. Was nennen Sie ein Plagiat?«

Ich denke, daß man es als Plagiat bezeichnet, wenn ein Autor Idee und Form eines nicht von ihm stammenden Werkes für sich verwendet und als eigenes Geistesprodukt ausgibt.

»Das ist nur mit Einschränkungen richtig. Es wäre zum Beispiel kein Plagiat, wenn jemand von einem Hirtenvolke schreiben würde, daß es in Not lebe, nur einmal erscheine in jedem neuen Jahr, sobald die ersten Lerchen schwirrten, ein Mädchen, schön und wunderbar – nämlich der üppige Frühling. Weil das ›Mädchen aus der Fremde‹ Gemeingut aller Gebildeten geworden ist und niemand glauben wird, der Schriftsteller habe die Meinung erwecken wollen, daß er diese Worte selbst gedichtet habe. Ebenso kann man objektive Wahrheiten wiedergeben, vor allem solche, die in Lehrbüchern oder in beschreibenden Werken stehen. Das erlaubt sogar das Gesetzbuch.«

Man behauptet, daß Gerstäcker von Ihnen verwendet worden sein soll.

»Das bezieht sich auf eine Geschichte ›Ehry‹, die vor vielen Jahren in einer Novellensammlung von mir veröffentlicht worden ist und zu der mir eine alte Beschreibung von Indien den Anlaß gab. Friedrich Gerstäcker, der selbst nie in Indien war, scheint nun die Erdbeschreibung mit jener Episode gelesen und in einer Novelle benützt zu haben. Daher die Übereinstimmung. Natürlich heißt alles gleich Plagiat! Maeterlinck hat in einem Schauspiel drei Szenen von Paul Heyse abgeschrieben; Heyse erhob Einspruch, aber Maeterlinck lachte ihn aus und ließ das Stück ruhig unter seinem Namen erscheinen. Carl Maria von Weber hat das populärste Lied aus seinem ›Freischütz‹, den ›Jungfernkranz‹, nicht selbst komponiert, sondern von einem unbekannten italienischen Komponisten entlehnt. Goethe, Shakespeare, Lessing taten Ähnliches. Sogar die vier Evangelisten erzählen das gleiche, also müssen wenigstens drei von ihnen Plagiatoren sein. Das Abschreiben würde mir mehr Schwierigkeiten machen als das eigene Schaffen. Ich habe Phantasie genug. Mehr als siebzig große Romane sind von mir verfaßt.«

Darf man, ohne indiskret zu sein, auch fragen, wie es sich mit Ihrer ersten Frau verhält, die in dem Prozeß wiederholt erwähnt wurde?

»Meine geschiedene Frau stammte aus demselben Orte wie ich. Sie war sehr schön, und das bestrickte mich. Ich wollte sie heiraten, trotzdem ich wußte, daß sie arm war. Es kam nicht dazu, und ich zog aus der Heimat fort. Als ich einmal nach Hause zurückkehrte, hörte ich, daß ihr Vater eben gestorben sei. Ich ging deshalb noch am selben Abend zu ihr ins Haus. Der Vater war nicht gestorben, sondern nur vom Schlage getroffen und lag gelähmt im Bette. Das Mädchen fiel vor mir nieder und bat mich, ich möge es nie verlassen. Von Rührung übermannt, beschwichtigte ich sie und versprach, ihren Wunsch zu erfüllen. Ich habe sie geheiratet und zweiundzwanzig Jahre mit ihr gelebt. Es war eine unglückliche Ehe. Sie hat gar nicht mit mir gefühlt oder gedacht, sie hat nicht einmal meine Bücher gelesen.«

Sie haben sie aber in Ihren Werken als Muster einer Frau so liebevoll geschildert?

»Ja, das tat ich, um ihr Interesse zu wecken. Ich zeigte ihr die Stellen, die sich auf sie bezogen, und wollte, daß sie wenigstens aus Eigenliebe meine Bücher lese. Sie tat es nicht. Sie hat mir viel angetan. Dokumente, welche ich in einem Prozesse brauchte, hat sie, während ich in Asien war, verbrannt, weil sie in meinen Prozeßgegner, den Verleger Münchmayer, verliebt war. Die Ehe wurde aus ihrem Verschulden vor Gericht geschieden.«

Es hieß, daß Sie Ihre Frau nicht alimentieren?

»Das ist erfunden. Meine Frau bekam, als sie von mir wegzog, eine ganze Ausstattung, Möbel und eine Summe von dreitausend Mark jährlich. Eines Tages schrieb mir der Schwager des Selius im Namen meiner geschiedenen Frau, daß sie auf den jährlichen Zuschuß von dreitausend Mark verzichte. Kurze Zeit später gab sie an, daß sie von dieser Verzichtleistung überhaupt nichts wisse. Selius hatte den Brief schreiben lassen, um sie für sich zu gewinnen, damit sie bei Gericht gegen mich zeuge; er versprach ihr hundert Mark monatlich, solange sie lebe, sie mußte bei seiner Familie wohnen und erhielt im ganzen von ihm zweihundert Mark. Als sie mich bat, ich möge sie wieder aufnehmen, drohte ihr Selius, er werde sie auf dreihundert Mark verklagen. Jetzt zahle ich meiner Frau freiwillig zweitausendvierhundert Mark jährlich aus, trotzdem sie sich mit Selius gegen mich verbündet hat.«

 

Hugh. May hatte gesprochen. Er und seine Frau zeigten mir Old Shatterhands Beutestücke und den Henrystutzen, Sehnsuchtstraum aller Gymnasiasten, der allerdings gar kein Stutzen war, sondern ein gewöhnliches Winchestergewehr, wie es ganze Armeen haben, auch europäische. Und die Silberbüchse erwies sich mir als Torso eines europäischen Schießprügels, dem die Läufe fehlten. Dann gingen wir in den Garten, den verstohlen bittenden Blick seiner Frau, er möge in der Villa bleiben, lehnte May mit verstohlen energischer Bewegung ab, er mußte durchaus wetterharter Jäger sein. Zuerst ging es in einen Holzschuppen, der mit amerikanischen und asiatischen Gegenständen zu einem Raritätenkabinett umgewandelt ist. Hunderte von Sträuchern und Kirschbäumen neigten, schwer vom Regen, ihre Äste, Tropfen glitzerten auf den Blättern, den gepflegten Kieswegen und den Bänken in den Farben des Spektrums. Ein prachtvoller Besitz. Man muß als deutscher Schriftsteller genau so schreiben, wie Karl May schreibt, um ein solches Haus haben zu können, und auch ihm wird es nicht vergönnt, man macht dem wüsten Abenteuerschilderer zum Vorwurf, daß er in seiner Jugend wüste Abenteuer erlebt, man beschimpft ihn, wie man nie einen betrügerischen Kaufmann, einen gemeingefährlichen Fabrikanten, einen bestechlichen Beamten, einen selbstherrlichen Gutsherrn oder gar einen mißhandelnden Offizier zu beschimpfen wagen würde. Eben schüttelt ihn ein Hustenanfall, und trotzdem er, die Hilfe der Gattin unwirsch abweisend, aufrecht ins Haus zurückgeht, ist nicht zu verkennen, daß sein Lächeln vom hippokratischen Zug erbarmungslos durchstrichen wird.

 


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