Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Epilog

Wenn eine Literatur reich genannt wird, die wenige klassische Trauerspiele besitzt, welcher Platz gehört dann einer Tragödie, die anderthalb Jahrtausende währt, gedichtet und dargestellt von den Helden selber?

Zunz

Wir haben versucht, aus drei Jahrtausenden Geschichte eines Volkes den Kern zu enthüllen, wie er sich unserem Wissen und unseren Ahnungen darstellt. Wir erkennen dabei als das Wesentliche und Bezeichnende niemals den Zustand, sondern immer die Bewegung. Die innere und die äußere Geschichte dieses Volkes verläuft in Bewegungen, die sich im geistigen und im weltlichen Raum vollziehen. Zeit, sagt Bergson, ist Bewegung im Raume. So gesehen, steht die Geschichte des Judentums in der ›Zeit‹ schlechthin.

Von den religiösen Uranfängen, die als erste in der Geschichte der Menschheit mit der ahnungsmäßigen Vorstellung der Einheit verknüpft waren, geht der Jude zum scharf umrissenen Begriff des Eingottes über. Von da aus versucht er, sein Dasein unter den Formen der Theokratie zu verwirklichen. Er trägt sie nicht zu Ende, sondern substituiert ihr den weltlichen Repräsentanten, den König. Das ist der Weg, auf dem sie sich den weltlichen Formen und damit den umweltlichen Inhalten nähern, der Weg, auf dem die Gemeinschaftsform aller Völker nachgeahmt wird und der religiöse Synkretismus, die Hereinnahme fremder Kultvorstellungen in den strengen Monotheismus erfolgen kann. Es ist die verweigerte Konsequenz und die verweigerte Ausschließlichkeit. Der größte Teil des Volkes, die zehn Stämme im Reiche Samaria, fallen dem zum Opfer. In dem Rest, dem Reiche Juda, bereitet sich unter dem Druck dieses Geschickes eine geistige Umkehr vor, die den Begriff Gott über die Eigenschaft eines Stammes- oder Volksgottes hinaushebt und ihn als Gott des Universums begreifen will. Im Schwunge dieser Idee explodiert die Kraft, die wir Prophetie nennen 629 und die in dem Augenblick, da ein Gottesbegriff die Herrschaft über die Welt antreten wollte, notwendig entstehen mußte. Um aber wirklich die Welt und nicht das kleine Land Judäa als den Ort Gottes begreifen zu können, mußten sie aus dem engen Zentrum heraus bis an die Peripherie gerückt werden; denn die Sammlung des Blickes von einem Punkte der Peripherie zum Zentrum hin ist stärker als vom Zentrum aus zu einem beliebigen Punkt der Peripherie hin. So wurde über sie das babylonische Exil verhängt. Hier formt sich die jüdische Idee vom Dasein in der Theokratie zu der verpflichtenden Erkenntnis der Auserwähltheit, zu dem universalistischen Gedanken vom Geltungsbereich der Herrschaft eines Gottes für die ganze Welt. Mit diesem neuen geistigen Bestand wieder in die Heimat entlassen, beginnen sie den Zeitraum des Erweises und der Bewährung. Aber unmäßig früh rücken die großen Kräfte der Welt an und machen sich ihrem Wirken nach anheischig, den Gegenbeweis gegen die jüdische Idee zu erbringen. Es gelingt ihnen nicht. Es gelingt ihnen nur die Zerstörung der staatlichen Gemeinschaft, das Zerbrechen einer Form, die im ewigen Versagen vor den Anforderungen des Alltags nur selten der Idee adäquat war. Es beginnt die Diaspora, in die der Jude jetzt entlassen wird mit der doppelten Aufgabe, immer eine neue Form für sein Dasein und immer eine neue Bewährung seiner selbst und seines Verhaltens zu seiner Idee zu finden. Er hat sich für dieses Bemühen ein zweischneidiges Werkzeug geschmiedet: das verpflichtende ethische Gesetz der Thora, der Weisung, und die Ableitungen aus ihr, die sich im Talmud zu einem ehernen Zaun zusammenschließen. Vom Gesetz getragen, wird er doch endlich vom Gesetz unterjocht, weil in der Welt des Religiösen die freie Hingabe des Herzens immer nötiger ist als die freie Unterordnung des Wollens, der Gehorsam. So ringen diese beiden Kräfte im Juden miteinander und werden beide zur Last, der Gehorsam und die Gläubigkeit, das Gesetz und die Mystik. Sie werden zur Last, weil 630 beiden durch die Jahrhunderte hin der Lebensraum verkürzt ist, den sie zu einem gestaltenden Leben gebrauchen und den sie auf die Dauer nicht durch eine Fiktion ersetzen können. Dennoch liegt in der Tragik dieser Situation schon die Auflösung begriffen, denn dieses zwangsweise Verweilen in aller Welt hat dem Juden endlich doch ein neues Weltgefühl vermittelt, und er kann – Mensch des Geistigen – den Teil der Welt, den er aus voller Seele durchdringen und erfüllen will, als Lebensraum und Heimat betrachten. Er kann – im geistigen Bezirk – aus jedem Punkte der Weltperipherie ein Zentrum machen und sich dort so bemühen, wie er es als seine Aufgabe begreift. Die Wirklichkeit, die er dazu als Vorbild braucht, ist in der alten und niemals aufgegebenen Heimat im Entstehen begriffen.

Zu dieser inneren Bewegtheit der jüdischen Geschichte gesellt sich die äußere, und auch sie ist in ihrer Auswirkung mit der ganzen Welt und ihren großen Bewegungen verbunden. In das judäische Gebiet, in dieses konzentrierte Stück Orient, bricht am Wendepunkt unserer Geschichte das Abendland ein mit Griechenland und Rom. Aus dieser Begegnung des Westens mit dem Osten entsteht eine doppelte Bewegung in der Welt: die Wanderung des Christentums und die Wanderung des Judentums, jene als Eroberung, diese als Zerstreuung. Damit verbindet sich eine politische Bewegung: der Kampf des Christentums gegen das Judentum, des Westöstlichen gegen das östliche. Der große Rückschlag der Pendelbewegung erfolgt in dem Einbruch des Morgenlandes in das Abendland, den der Islam einleitet. Auch der Jude macht diese Bewegung mit, aber er hält sie für sich fest, wie das Abendland wieder seinerseits den Rückstoß gegen den Orient in den Kreuzzügen und in der Verdrängung der Araber aus Spanien vollzieht. So liefert sich der Jude dem Abendland aus und macht es zum Raum seiner Bewegungen. Aber damit ist er zugleich ausgeliefert. Der Westen vertreibt ihn in blutigen Verfolgungen nach dem Osten, 631 der Osten jagt ihn in unerhörten Metzeleien durch die ganze Welt, bis die große Wanderung nach Amerika und die kleine Wanderung nach Palästina einsetzen, jene zur Rettung des Körpers, diese zur Rettung der Seele; beide, damit sie sich eines Tages ausgleichen und ergänzen können.

Mit der Summe dieser Bewegungen ist der Jude, immer auf der Suche nach einem Zentrum, zugleich der Welt einverleibt. Das ist mehr als ein tatsächlicher Vorgang, denn er hat Folgen geistiger Art, für den Juden und für den Nichtjuden: sie können einander nicht mehr neutral begegnen. Der Nichtjude kann nicht neutral sein, weil er aus seinen eigenen Hemmungen heraus mit dem Fremdheitsgefühl dem Juden gegenübersteht. Noch weniger kann der Jude neutral sein. Jahrhundertelang wurden Entscheidungen von ihm gefordert, von innen und von außen, von Gott und der Welt, vom Eigenen und vom Fremden; und immer waren es Entscheidungen, die um nicht mehr und nicht minder gingen als um seine Existenz. Man darf sich nicht wundern, daß er unter solchen Umständen zugleich anschmiegsam und apodiktisch geworden ist, zugleich demütig und hochmütig, ein geistig Freier und ein bürgerlich Gebundener, Kapitalist und Sozialrevolutionär, der gläubigste Mensch der Welt und der größte Nihilist im Geistigen. Keinem Anruf der Welt hat er die Antwort verweigern können; denn immer, wo etwas rief, war er gemeint. Andere Völker dürfen schweigen oder negieren, wenn ein Ruf zu ihnen kommt, den sie nicht hören wollen oder hören dürfen. Der Jude darf es nicht, denn es gibt keine Idee in der Welt, die er – Mensch universalistischen Erlösungsglaubens – nicht auf ihren Gehalt an Erlösendem prüfen müßte; und es gibt keine Idee in der Welt, für die er – Mensch der Gewaltlosigkeit – nicht Opfer in jeder Form hätte bringen müssen. Gegen ihn haben sich alle Wehen der Welt entladen, darum muß er alle Geburten und Mißgeburten der Welt zu sich einlassen.

Er hat es nicht leicht gehabt und hat es heute noch nicht 632 leicht, aus solcher Belastung einen Weg zu finden, der sein Weg ist und der ihn zu einer Fortsetzung führt. Zu vielfach haben das kleine und das große Elend sich an ihn herangemacht und ihn aus Not und Vorsorge in die kleinen Seitenwege, in die Sackgassen der Entwicklung gejagt. Wir konnten, wenn wir hier die Vergangenheit eines Volkes rekonstruierten, unmöglich an dem gehäuften Leid und an dem Massenmartyrium vorübergehen, das dem Juden von der Umwelt und immer wieder über das Medium des Christentums hinweg zugefügt worden ist; wir durften die Millionenzahl erschlagener und ermordeter Juden nicht verschweigen, ohne uns der Fälschung schuldig zu machen. Aber wo es für uns um den Ausblick in das Zukünftige geht, ist es nicht unsere Aufgabe, die Last der Erinnerungen mit uns zu schleppen, so wenig es unsere Aufgabe ist, den Haß in der Welt zu verewigen. Nicht wir haben für den Ausgleich dieses Unrechts zu sorgen. Geschichte ist kein Tatsachenvorgang mit mechanischer Verknüpfung von Ursache und Wirkung, von Reaktion und Gegenreaktion. Geschichte ist Projektion einer Lebensidee, einer aus dem Kosmos entlassenen Ideenkraft auf die Lebensrealität von Gemeinschaften. Das Einzelleben verläuft im kosmischen Bezug; das Gesamtheitsleben tut das gleiche. Das Vergehen des Einzelnen und das Vergehen von Gesamtheiten haben den gleichen Sinn: Störung des kosmischen Ablaufs. Sie haben auch die gleiche Folge: Rückschlag des gestörten Ablaufs, oder das, was wir Vergeltung nennen. So werden Sünden vergolten nicht, weil sie ein Wüten gegen den anderen sind, sondern ein Wüten gegen sich selbst. Das hat auch der Jude je und je an sich selbst erfahren und erfährt es noch heute. Daß er dieses Gesetz auch an denen sich erfüllen sieht, die ihm das Martyrium der Jahrhunderte bereitet haben, kann ihm nichts anderes bedeuten als das Wissen, daß er selber, als Teil eines Ganzen, in den Plan des kosmischen Ablaufs einbezogen ist. Das mag Romantik sein; doch entstammt sie der Wirklichkeit. 633

Unser Judentum ist eine Wirklichkeit und zugleich ein Postulat, ein mangelhaftes Dasein mit dem Ziel eines vollkommenen. Vor unserem Willen zur Fortsetzung dieses Daseins versagt sich uns jede Formel und jede Formulierung, was wir nach Gramm und Lot sind und was wir – wie auf einer abgesteckten Rennbahn – erreichen wollen. Das Leben kennt nur bewegliche Ziele. Aber das Wissen um den Ausgangspunkt, um den organisch gewachsenen Grund, um den Wurzelgrund der Seele ist in unseren Tagen schon wieder lebendig geworden. Wir nennen es, wenn wir historisch sehen, Nation. Man kann ihm jeden anderen Namen geben, wenn er nur die Lebensgesetze dieser Gemeinschaft nicht verneint, ihr Biologisches und ihr Utopisches, ihr Soziologisches und ihr Religiöses, ihre historische Objektivität und ihre messianische Schöpferkraft. Das sind Weltkräfte, die zwar überall enthalten sind, die aber im Judentum eine Zusammenraffung erfahren haben, die durch alles Versagen hindurch eines Tages Wirklichkeit werden möchten. Es gibt etwas, das man das Fluidum der Weltgeistigkeit nennen kann. In diesem Fluidum wird alles Widerstrebende sich eines Tages auflösen müssen.

So stehen wir also da: vielfach entartet und vielfach bemüht, vielfach geschwächt und vielfach vom übermäßigen Willen gespannt, vielfach befeindet und vielfach hoffend; mit unendlicher Vergangenheit, mit geringer Gegenwart und mit einer Zukunft, die nur in der Gestaltungskraft jüdischer Herzen eine Wirklichkeit hat. So vom Wunderbaren und vom Grauenhaften, so vom Notwendigen und Zufälligen, so vom Ewigen und vom Zeitlichen ist diese Geschichte eines Volkes erfüllt, daß man ihr nicht nahen kann, ohne über alles Dogma der Religion hinweg im tiefsten Sinne gläubig zu werden.

So helfe Gott uns weiter.

 


 


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