Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Landnahme

Jetzt erst, in der Wüste, beginnt Mosche eine Tätigkeit, die nur bewußt als eine erzieherische verstanden werden kann. Die Oasenstadt Kadesch, die schon durch ihren Namen (kodesch – heilig) auf eine Kultstätte hinweist, wird der Mittelpunkt von vierzig Jahren eigenartiger Entwicklung. Das Volk wächst an Zahl. Geschlechtergruppen, die in nächster Verwandtschaft zu den Bne Jisrael stehen, werden aufgenommen. Es entsteht eine neue ethnische Einheit, aus der allmählich, in den vierzig Jahren Wanderung zwischen Kadesch und dem Meerbusen von Ailat, alle diejenigen aussterben, die sich noch erinnern können, daß sie in Ägypten Sklavenbrot gegessen haben. Ein neues Nomadengeschlecht wächst heran, aber nicht eines, das morgen wieder zu schweifendem Leben 22 in die Steppe ausbrechen könnte, sondern eines, über dem der gestaltende Wille des Führers Mosche ruht. Er gibt ihrem Landhunger die Richtung: Kanaan. Er sublimiert den natürlichen Drang nach Seßhaftigkeit durch eine Idee: Kanaan ist verheißenes Land. Er gibt ihnen kein Versprechen, sondern stellt ihnen eine Aufgabe: Eroberung eines Landes unter göttlicher Sanktion.

So wächst dieses Volk auf mit einer eigenartigen Beziehung zu einem Lande, das noch keiner von ihnen gesehen hat und das sie gleichwohl als ihre Heimat ausgeben und begehren. Hier entsteht der Begriff Heimat nicht aus dem Wachstum von Generationen auf einer Scholle, sondern aus einer Idee, aus dem Glauben, daß der zugewiesene göttliche Auftrag nur in diesem bestimmten Lande erledigt werden könne. Dadurch werden Land und religiöses Bewußtsein unlösbar miteinander verkoppelt, eine Verbindung, die bis auf unsere Tage intakt geblieben ist. Sonst wachsen Völker mit ihrer Landschaft und zu einem großen Teil durch sie. Hier wächst ein Volk, das seine entscheidende seelische Grundlage schon empfangen hat, einem Lande zu. Der primitiv naturhafte Teil des Wachstums wird übersprungen. Erst ist die Idee des Landes da, dann erst das Land. Darum spielt das Landschaftliche, das Klimatische eine untergeordnete Rolle. Die Juden haben daher später in jedem Lande und jedem Klima leben können, ohne die Grundzüge ihres Wesens aufzugeben oder zu verlieren.

Dem Lande, das sie erstrebten, könnte man die Bezeichnung »seelische Mittellage« geben. Es ist durch seine Gebirge und durch den Lauf des Jordan fast streng nordsüdlich orientiert und durch die Meeresküste, die fruchtbaren Ebenen und die jenseitige Wüste ebenso streng westöstlich. Auf einem Gebiete von kaum 500 Quadratmeilen sind Bergkuppen mit ewigem Schnee und Gesenke mit subtropischer Wärme, sind saftgrüne Ebenen und sandgraue Wüsten; aber alles ohne den panischen Schrecken »großer« wilder Natur und ohne den 23 Überschwang göttlicher Schönheit. Der Mensch braucht dort weder zu verkümmern noch zu entarten. Wie er dort werden will, ist seiner eigenen Entschließung anheim gegeben.

Dieses Land sucht Mosche mit dem geringsten Aufwand an Mitteln und Kräften zu erreichen. Da fremde Stämme ihm den kürzesten Weg nach Norden sperren, umgeht er den Süden des Landes in einem großen Bogen und gelangt mit der Mehrzahl der Stämme zwangsläufig in die transjordanische Ebene. Aber der Stamm Jehuda bleibt zurück. Es gelingt ihm, in den Süden Kanaans einzubrechen und sich bis in die Nähe des späteren Jerusalem, das im Besitz der Jebusiter blieb, anzusiedeln. Mit ihm geht der Stamm Schimeon. Den übrigen Stämmen in Transjordanien bleibt, wenn sie jetzt nicht in die syrisch-arabische Wüste abgedrängt werden wollen, nichts übrig, als alles zu bekämpfen, was ihnen im Wege steht. Das geschieht mit einem solchen Elan, daß sie in kurzer Frist ganz Transjordanien in der Hand haben. Nun ist der Weg frei für die Eroberung Kanaans. Aber da setzt sich der Spaltungsvorgang fort. Die Stämme Gad, Rëuben und ein Teil des Stammes Manasse erklären, daß sie in Transjordanien bleiben wollen. Das äußerste Zugeständnis, zu dem Mosche sie bewegen kann, ist, daß sie für die Aktionen jenseits des Jordan Mannschaften stellen. Im übrigen beginnen sie ihr eigenes Schicksal und ihre eigene Entwicklung. Mosche erlebt den Übergang über den Jordan nicht mehr. Die Führung geht über auf Jehoschua ben Nun (Josua), den Feldherrn. Er setzt über den Jordan, sprengt die Koalitionen amoritischer und nordkanaanitischer Fürsten und bringt eine vehemente, aber unvollkommene Eroberung zustande. Es sind drei Siedlungsgebiete entstanden. Jehuda, im äußersten Süden, ist von allen übrigen jisraelitischen Stämmen durch eingesessene Stämme völlig getrennt. In Transjordanien ist ein geschlossenes Siedlungsgebiet, aber der Jordan grenzt es ab und isoliert es. In der Mitte des Landes, bis zum Norden, dem späteren Galiläa, siedelt der Rest der Stämme, 24 teils zwischen den eingesessenen Kanaanitern, teils sogar in Abhängigkeit von ihnen. Das nördliche Küstengebiet gehörte den semitischen Phöniziern und blieb ihnen. Das südliche Küstengebiet war von Philistern besetzt, Zuwanderern von den ägäischen Inseln her.

Entscheidend für den Abbruch des Eroberungszuges waren aber nicht eigentlich die Widerstände der eingesessenen Völkerschaften, sondern das überschnelle Auseinanderbrechen der Stammesverbände. Mit einer ungewöhnlichen Gier stürzen sie sich auf jedes Stück Land, das sie besetzen können, wie besessen von der Idee, endlich zur Ruhe zu kommen. Jeder Stamm läßt den anderen im Stich, sobald er Land hat. Von gemeinsamen Aktionen ist keine Rede mehr. Sie haben es so eilig, Bauern zu werden, daß sie sich nicht einmal die Mühe nehmen, das eingenommene Gebiet zu sichern. Sie machen den verbliebenen Insassen, wenn sie sich von dem ersten Überfall erholt haben, lieber jedes Zugeständnis, als daß sie von neuem zu den Waffen gegriffen hätten.

In einem solchen Verhalten manifestiert sich ein hemmungsloser Individualismus. Aber er hat eine mächtige Kompensation in der konträren Eigenschaft: einem intensiven Kollektivgefühl. Untergründig sind sie sich bei allen Eigenbröteleien der bewegenden gemeinsamen Idee stets bewußt. Das wird bewiesen durch eine Reihe von präzisen Umständen, die man vergeblich soziologisch zu deuten versucht hat.

Einer der Stämme, Lewi, hat überhaupt kein Land bekommen. Er war auch nicht unter das Patronat eines anderen Stammes gegangen, wie etwa Schimeon unter Jehuda. Er hatte auch nie Ansprüche auf Land erhoben. Im Gegenteil: alle Stämme sind sich darüber einig, daß er kein eigenes Siedlungsgebiet haben soll, daß aber seine Angehörigen das Recht haben, sich in jedem Stamme aufzuhalten, in dem sie wollen. Diesen Lewiten weisen sie priesterliche Funktionen zu, und indem sie ihnen die Landnahme verwehren und damit die Möglichkeit des 25 Erwerbes, übernehmen sie die selbstverständliche Verpflichtung, durch Abgaben für ihren Unterhalt zu sorgen. Sie erkennen also damit im weitesten Umfange an, daß diese priesterlichen Funktionen eine Sache der Gesamtheit bedeuten, die durch keine eigenmächtige Siedlung und Absonderung aufgehoben wird. Es kommt hinzu: wann immer in der Folge sie Krieg führen, um ihren Besitz zu erhalten oder zu erweitern, ob sie nun allein kämpfen oder in größeren Verbänden, bezeichnen sie ihn nicht als Krieg dieses oder jenes Stammes, sondern als »Krieg Jahves«. Wenn es ernst wird, wissen sie um die verpflichtende Gemeinsamkeit der Idee. Der Inhalt dieser Idee war die Verwirklichung der Theokratie.

 


 << zurück weiter >>