Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Antisemitismus

Wenn wir dem Antisemitismus im Rahmen dieser Ideengeschichte ein besonderes Kapitel einräumen, so geschieht es, weil im Laufe der Jahrhunderte der Antisemitismus auch für die Juden ein Problem geworden ist. Man könnte beinahe sagen: für das Judentum. Es darf dabei nur nicht aus dem Auge gelassen werden, daß an sich der Antisemitismus natürlich das Problem des Nichtjuden ist, in dem er seine Beziehungen, Widerstände und Fremdheitsgefühle mannigfacher Art gegen den Juden, seine Religion, seinen Geist, seine Sitten, seine Fähigkeiten, überhaupt: gegen seine Existenz zusammenfaßt. Aber wenn es möglich ist, daß solche Problemstellung des Nichtjuden fast in der ganzen Welt, wenn auch nach Graden, Formen und Begründungen variiert, auftritt, so muß wohl in der Art oder im Wesen des Juden etwas liegen, was eine solche einheitliche Reaktion ermöglicht, und schon die Möglichkeit, 581 solche Reaktionen hervorzurufen, macht es notwendig, den Antisemitismus als ein passives Problem, als ein Folgeproblem des Judentums zu betrachten.

Über den Antisemitismus ist unendlich viel geschrieben und sind sehr feine und diffizile Betrachtungen angestellt worden. Wir glauben daher nicht, zu diesem Thema etwas grundsätzlich Neues sagen zu können, es sei denn, daß der Wille, die Dinge und Erscheinungen historisch, nach den Gesetzen ihres Gewordenseins zu betrachten, von selbst neue Ausblicke eröffnet. Denn man darf sich durch die Tatsache, daß der Begriff »Antisemitismus« eine Formulierung ziemlich jungen Datums ist, nicht an der Erkenntnis hindern lassen, daß es sich dabei eben nur um ein neues Wort für eine alte Sache handelt. In diesem neuen Wort ist im Verhältnis des Nichtjuden zum Juden nur das rassenmäßige Moment, die Differenz zwischen dem Semiten und dem Nichtsemiten betont. Das ist alles. In seinem Kern, in dem antijüdischen Gefühl, ist der Antisemitismus stets vorhanden gewesen von der Zeit an, in der das Judentum mit anderen Welten in mehr als nachbarlicher Feindschaft zusammenstieß. Zur Bestimmung seines jetzigen Gehaltes kann also nicht darauf verzichtet werden, seine historische Substanz zu untersuchen. Um dabei alle Erscheinungen bis in die Gegenwart einordnen zu können, referieren wir zunächst den weiteren äußeren Ablauf der jüdischen Geschichte und nehmen als Markierungspunkte den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und den Weltkrieg von 1914–1918.

Dieser genannte Zeitraum ist zugleich, von der Existenz des Antisemitismus ganz abgesehen, für die jüdische Geschichte von einer besonderen und schicksalhaften Bedeutung: bei aller vermehrten Abhängigkeit vom Tun und Treiben der Umgebung, bei einer fast forcierten Passivität der jüdischen Geschichte wird sie doch zugleich wieder aktiv, gestaltend, bewußt. Für weite Schichten des Judentums bedurfte es sogar erst dieser vermehrten Passivität, um sie in die Aktivität 582 ausweichen zu lassen. Dabei ging es allerdings um eine Passivität, das heißt: um eine Massierung des dem Juden zugedachten und bereiteten Schicksals, die sich, wenn man die Verschiedenartigkeit der Kulturstufen in Betracht zieht, nicht sehr vorteilhaft von den mittelalterlichen Zuständen unterscheidet. Denn bei der Wiederholung der mittelalterlichen Methoden steht der Zeit die Entschuldigung der mangelnden geistigen Reife nicht mehr zur Verfügung, sofern man ihren eigenen Aussagen über die von ihr erreichte Kulturhöhe glaubt. Aber es ist alles vorhanden: Ritualmordanklagen, Judenpogrome, Rechtsverweigerung, Ausnahmegesetze, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Boykott und antijüdische Propaganda, vom pseudowissenschaftlichen Standardwerk bis zur Schändung von Friedhöfen.

In den dreißig Jahren von 1882–1911 werden noch sechs Ritualmordprozesse veranstaltet, davon einer im Orient (Korfu 1891), zwei in Rußland (Blondes 1900 und Beilis 1911/13), einer in Ungarn (Tisza-Eszlar 1882), einer in Böhmen (Polna 1899) und zwei in Deutschland (Xanten 1892 und Konitz 1900). Einer von ihnen, der in Polna, endete mit dem Todesurteil gegen den Juden Hilsner, die anderen selbstverständlich mit Freisprechung. Einzelheiten darzustellen, erübrigt sich. Es genügt die Feststellung, daß diese Prozesse stattgefunden haben, daß sie möglich waren.

Die kompaktere Form der Judenverfolgung vollzog sich in den Pogromen. Man hat sich daran gewöhnt, bei dem Begriff Pogrom nur an Rußland zu denken. Das trifft nicht zu. Sofern man unter Pogrom spontane oder wohlvorbereitete Angriffe von Volksmengen auf die Juden versteht, setzt die Pogromwelle weiter westlich ein, nämlich in Deutschland. Im Sommer und Herbst 1881 und in direkter Folge der noch zu besprechenden Kampagne für die »antisemitische Petition« ereignen sich in Brandenburg und Pommern organisierte Überfälle auf die Juden, verbunden mit Mißhandlungen und Plünderungen, 583 bei denen von seiten der Regierung erst eingeschritten wird, als eine öffentliche Gefahr daraus zu werden droht. In Galizien treten die Judenhetzen im Verfolg der katholisch-polnischen Propaganda auf und verlangen Einsatz von Truppen zu ihrer Unterdrückung. In Böhmen und Ungarn sind sie nur die direkte Fortsetzung der schon erwähnten Ritualmordprozesse, und es ist charakteristisch, daß in Böhmen die Tschechen gemeinsam mit den Deutschen den Pogrom veranstalten, weil der angeklagte Jude verurteilt, und die Ungarn, weil die angeklagten Juden freigesprochen wurden. Ihr großes, erschreckendes Format bekommen die Pogrome aber erst in Rußland. Wir beschränken uns einstweilen auf die Referierung des Tatbestandes.

Die Pogrome setzen im April 1881 im russischen Süden ein, der erste in Jelisawetgrad. Daß er stattfinden würde, war lange vorher schon angekündigt. Es wird im wesentlichen geplündert. Das Militär rührt sich nicht. Die Pogrome greifen über auf den ganzen Kreis Jelisawetgrad. In Kiew ist ebenfalls lange vorher der Pogrom auf den 26. April angesetzt worden. Die Begründung lautet, die Juden hätten Alexander II. ermordet, und der Zar habe befohlen, mit den Juden abzurechnen. Das geschieht durch Verwüstung und Plünderung jüdischer Häuser, Mißhandlung und Totschlag von Juden und Schändung von Frauen. Nachdem das geschehen ist, greift am nächsten Tage, dem 27. April, Militär ein. Die Pogrome werden aber in der Umgebung, in 50 Dörfern und Flecken des Kiewer Gebietes fortgesetzt. Im Mai folgt Odessa mit gleichen Vorgängen und unter den gleichen Bedingungen.

Die Strafen, die die Pogromhelden von den russischen Gerichten bekommen, sind so milde und verraten so sehr die Unschlüssigkeit, ob man sie überhaupt bestrafen soll, daß im Juli 1881 eine neue Welle von Pogromen einsetzen kann. Dieses Mal werden sie schneller unterdrückt, aus der Erwägung, daß sie möglicherweise ein Teil der allgemeinen revolutionären 584 Bewegung sein könnten. Die Pogromisten setzen aber ihre Tätigkeit unterirdisch fort durch eine Reihe von Brandstiftungen. Im ganzen werden von der Kampagne des Jahres 1881 mehr als hundert Gemeinden und Siedlungen Südrußlands betroffen.

Im gleichen Jahre werden in der Ukraine durch die revolutionären Narodniki Pogrome veranstaltet, ebenfalls in Warschau (Dezember 1881) unter Anführung von Russen. Nachdem 1500 jüdische Wohnungen, Geschäfte und Betstuben zerstört, 24 Juden verletzt und ein Schaden von mehreren Millionen Rubel angerichtet worden ist, greift die Polizei am dritten Tage ein und liquidiert den Pogrom. Im folgenden Jahre, 1882, wird in Balta der Pogrom lange vorher auf die Ostertage angesagt und von der Behörde wohlwollend gefördert. 15 000 Existenzen werden vernichtet, viele getötet, verwundet, geschändet und durch das Entsetzen in den Irrsinn getrieben.

Da die Pogrome im Auslande zu viel Aufsehen erregen, werden sie verboten und durch gesetzliche Maßnahmen der Regierung ersetzt. Sie finden trotzdem noch statt, so Juli 1883 in Jekaterinoslaw und im Herbst in der Umgebung, ferner 1884 in Nishnij Nowgorod. Dann tritt eine längere, von gesetzlichen Unterdrückungen ausgefüllte Pause ein. Im Februar und April 1897 tauchen wieder Pogrome auf, unter Nikolaus II., dem bigotten Reaktionär. In der von ihm geschaffenen Atmosphäre der revolutionären Bereitschaft einerseits und eines hemmungslosen Kults mit dem »Väterchen Zar« andererseits sind erneute Pogrome in größtem Stil möglich. In Kischinew, wo die sachliche und geistige Vorbereitung sehr gründlich betrieben wird, verkünden Flugblätter vor Ostern 1903, daß der Zar durch einen Ukas die Abhaltung eines Pogroms für die ersten drei Tage der griechisch-orthodoxen Ostern gestattet habe. Das Zeichen zum Beginn wird am 6. April durch das Läuten der Kirchenglocken gegeben. Es wird geplündert, mit einbrechender Dunkelheit auch gemordet. Juden, die sich 585 wehren wollen, werden von der Polizei entwaffnet. Am nächsten Tage wird das Programm fortgesetzt. Taten von ungewöhnlicher Bestialität geschehen. Am Ende des zweiten Tages greifen die Truppen ein. Man zählt 45 Tote, 86 Schwer- und 500 Leichtverletzte und über 1000 ausgeraubte Läden und Wohnungen.

Die Juden bilden eine Selbstwehr, die von der Regierung sofort verboten wird. Wie im August 1903 die Stadt Homel ihren Pogrom veranstaltet und die jüdische Selbstwehr einschreitet, wird sie von den Truppen beschossen, die auch weiterhin darauf achten, daß der russischen Bevölkerung bei ihren Plünderungen und Morden nichts zuleide geschieht. Dennoch gibt es auf beiden Seiten Tote und Verwundete. Das Jahr 1904, das die Kräfte für den russisch-japanischen Krieg absorbierte, ist – bis auf die regelmäßigen Hetzen – frei von Pogromen. Aber 1905 setzen sie mit vielfacher Begründung und in großer Zahl wieder ein. Die »Schwarze Hundert«, das Instrument der zaristischen Regierung gegen Liberale und Juden, übernimmt die Regie. Sie veranstaltet zunächst überall kleinere Pogrome, dann einen größeren in Shitomir, Ostern 1905, der nach drei Tagen endet und bei dem 15 Juden getötet und 100 verletzt werden. Vom 18. bis zum 25. Oktober, als die Regierung gerade unter dem Druck des Generalstreiks die Einrichtung der Duma und die Anwendung eines demokratischen Wahlrechts versprochen hatte, läßt sie hinterrücks von neuem die »Schwarze Hundert« losbrechen, die sich in 50 Städten und fast 600 Ortschaften unter Beteiligung von Soldaten und Kosaken hemmungslos im Judenmord austobt. Allein Odessa hat 300 Tote und Tausende von Verletzten und Verstümmelten. Auch nach der Eröffnung der Duma und unter Teilnahme der Truppen werden die Pogrome fortgesetzt. Bialystock hat 80 Tote und 100 Verwundete aufzuweisen (1906). Nach der Auflösung der ersten Duma verwandeln sich die Pogromaktionen in behördlich organisierten Straßenterror gegen die Juden. Die Pogromisten dieser beiden Jahre werden entweder nicht bestraft 586 oder sofort begnadigt. Über die Teilnehmer der jüdischen Selbstwehr werden lange Zuchthausstrafen verhängt.

Auch der Weltkrieg unterbricht in Rußland die Judenverfolgungen nicht. Man kann vielmehr von einem Krieg der Russen gegen die Juden sprechen. Es werden nicht nur aus dem Kampfgebiet Hunderttausende von Juden vertrieben, weil man ihnen Deutschfreundlichkeit vorwirft, sondern es werden auch überall als Strafe für die Niederlagen der russischen Truppen Juden getötet. Nach der Revolution von 1917 wird wieder die Ukraine, das klassische Gebiet der Judenmetzeleien, Schauplatz wildester Pogrome. Im März und April 1918, wie die Ukraine sich selbständig macht, geht es an das Morden von Juden. Die späteren Kämpfe zwischen den Bolschewiki und den ukrainischen Separatisten führen endlich zu der größten Pogrombewegung seit dem 17. Jahrhundert. Vom Dezember 1918 bis April 1921 werden 887 große und 349 kleine Pogrome mit 60 000 Toten und mehr als 70 000 Verwundeten veranstaltet. Der für dieses Gemetzel im stärksten Maße verantwortliche General Petljura wurde am 25. Mai 1926 in Paris von dem Juden Schalom Schwarzbart erschossen. Das ist das einzige Mal, daß ein Jude gegen die Massenmörder seines Volkes die Selbstjustiz der Rache geübt hat. Gerade die Ukrainer haben seit je ihre Pogromisten als Nationalhelden besungen. Kein Jude wird Schalom Schwarzbart besingen. Aber was er gelitten hat, ehe er den Massenmörder erschoß, macht ihn zum Märtyrer und nicht den Getöteten.

Die Adepten der russischen Pogromisten finden sich in Rumänien und Polen. Rumänien hat als einen Teil seines Regierungsprogrammes ständig Judenhetzen aufzuweisen. Zu eigentlichen Pogromen verdichten sie sich 1907, wo die gegen die Bojaren gerichtete Bauernbewegung auf die Juden abgelenkt wird. Sie werden in dem Augenblick unterdrückt, als sie sich auch gegen die Gutsbesitzer wenden. Nach dem Weltkrieg ist die Veranstaltung von Pogrommorden in die Hände der national gesinnten 587 rumänischen Studentenschaft übergegangen. Der Pogrom in Warschau von 1881 ist bereits erwähnt. Der polnische Chauvinismus, das Korrelat mangelnder nationaler Reife, hält die Pogromstimmung am Leben. Sie entlädt sich, als Polen seine Selbständigkeit endlich wiedererhält, in Judenmorden, die von den polnischen Legionären veranstaltet werden – von den Unterdrückten von gestern.

Von der gleichen Intensität und Dauer wie die blutigen Pogrome sind die unblutigen, die je nach der Situation und Verfassung der einzelnen Länder sich in Ausweisungen, Rechtsverweigerungen, wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Unterdrückung äußern. Für diese Art der Judenverfolgungen bestehen zwei Zentren: Rußland als das der Praxis und Deutschland als das der Ideologie. Wir beschränken uns zunächst auch hier auf die Mitteilung des Tatsächlichen.

Der russische Kurs, wie er in den früheren Kapiteln dargestellt worden ist, wird fortgeführt, aber alle bisherigen Experimente der »Besserung« und der Angleichung an die Urbevölkerung werden aufgegeben zugunsten eines eindeutigen Systems der Unterdrückung und Ausrottung der Juden. Es wird ihnen in aller Deutlichkeit und ganz offiziell erklärt, daß man sie lossein will. Insbesondere nach den Pogromen von 1881 legt man ihnen dringend nahe, auszuwandern. Man zieht auch in Erwägung, sie zu Zwecken der »Kolonisation« samt und sonders in die Steppen Mittelasiens und Sibiriens zu verbringen. Da sich das nicht durchführen läßt, bemüht man sich um so mehr, sie in den Ansiedlungsrayons zusammenzuhalten und das Siedlungsgebiet noch künstlich zu verengern. Den Pogrom von Kiew beantwortet die Regierung mit der Massenausweisung von Juden. Durch das »provisorische Reglement« von 1882 (das 35 Jahre lang in Kraft blieb) wurde ihnen von neuem untersagt, sich außerhalb von Städten und Ortschaften niederzulassen und auf dem Lande Grundstücke zu erwerben oder zu pachten. Es werden überall, besonders in Petersburg, 588 regelrechte Razzien veranstaltet, um Juden zu erwischen, die sich vielleicht an einem Orte ohne genügende Legitimation aufhalten. Die Provinzialbehörden gehen dazu über, Ortschaften kurzweg als Dorfgemeinden zu erklären, was zur Folge hat, daß Juden sich dort nicht mehr niederlassen dürfen und solche, die dort nicht vor 1882 gewohnt haben, den Ort verlassen müssen. In Moskau, das zur Residenz gemacht werden sollte, wird vorab mit Hilfe von Polizei und Feuerwehr eine nächtliche Jagd auf Juden gemacht; späterhin werden die alteingesessenen Handwerker vertrieben. Insgesamt werden von dort etwa 20 000 Juden in die Rayons gejagt. Auch dieses Zusammenpferchen in den Rayons war nur ein Mittel der Vertreibung, denn das Zusammendrängen von sechs Millionen Menschen in den Städten einiger südrussischer Gouvernements mußte zu einer wirtschaftlichen Not führen, aus der nur das Verenden oder die Auswanderung einen Ausweg bot. Beide Lösungen waren der russischen Regierung angenehm. Das ergibt sich aus dem Umstande, daß die Veranstaltung der Pogrome im wesentlichen ihr Werk ist. Die Pogrome fanden, wie schon gesagt, nicht spontan, sondern nach jeweiliger Vorbereitung statt. In jedem Falle war die Obrigkeit instruiert. Fast überall waren Truppen zur Verfügung, aber entweder griffen sie grundsätzlich nicht ein oder erst, wenn sie die Plünderungen und Morde für ausreichend hielten. Zum Teil schützten sie auch die Pogromisten durch Entwaffnung der Juden, die sich verteidigen wollten, und durch die Beschießung der jüdischen Selbstwehr. In den offiziellen Regierungserklärungen wird die Schuld an den Pogromen den Juden zugewiesen. Ignatzew, der Innenminister Alexanders III., erklärt, es handle sich um eine Selbstjustiz des russischen Volkes, das von den Juden ausgebeutet werde. Die Juden befaßten sich mit unproduktiver Arbeit und hätten Handel und Industrie an sich gerissen. Zwei Jahre später stellt eine Kommission der Regierung fest, daß 90 Prozent aller russischen Juden mittellos seien. 589

An sich machte die Unterbindung der Pogrome der Regierung nicht die geringsten Schwierigkeiten. Als Ignatzew wegen des Aufsehens, das die Pogrome in der Welt erregt hatten, entlassen wurde, brauchte sein Nachfolger Dmitrij Tolstoj den lokalen Behörden nur in Aussicht zu stellen, daß er sie für Pogromunruhen verantwortlich machen werde, um sie zum Verschwinden zu bringen. Sie tauchen aber wieder auf, sobald die Regierung sich ihrer bedienen will. Das geschieht unter Nikolaus II., dessen Regime für alle Pogrome seit 1903 bis 1917 verantwortlich ist. Bei dem ersten Pogrom dieser Serie (Kischinew 1903) verbietet sein Innenminister Plehwe den Zeitungen jeden wahrheitsgemäßen Bericht und gibt seine eigene Erklärung in Druck, daß die Juden Anlaß zu den Pogromen gegeben hätten. Dagegen ist die »Times« in der Lage, ein Schreiben Plehwes zu veröffentlichen, in dem er – zwei Wochen vor Beginn der Pogrome – die Ortsbehörde anweist, die Truppen für den Fall von Unruhen nicht von der Waffe Gebrauch machen zu lassen. Auf ihn geht auch das Verbot der jüdischen Selbstwehrvereine zurück und der Befehl, auf sie zu schießen, wenn sie in Aktion treten würden. Daß Nikolaus II. sich der »Schwarzen Hundert« und ihrer Pogrome zu politischen Zwecken bediente, ist bereits erwähnt. Die erste Duma von 1906 wagt es, die Regierung über die Pogrome zu interpellieren. Sie erhält die übliche Antwort: »Die Juden sind selbst daran schuld.« Während der Session ereignet sich der Pogrom von Bialystock. Unter dem Eindruck des Gemetzels tritt Urussow, der ehemalige Gouverneur von Kischinew, in der Duma auf und gibt sein Wissen um den aktiven Anteil der Regierung an diesen Morden der Öffentlichkeit preis. Die Duma verlangt daraufhin Demission des Kabinetts. Der Zar antwortet mit der Auflösung der Duma, weil sie sich »der Untersuchung der Handlungen der Allerhöchst eingesetzten Behörden« schuldig gemacht habe.

Es liegt im Rahmen der Methode, daß alles Erdenkliche 590 geschieht, um die soziale Not der Juden zu steigern. Nach den ersten Pogromen und als Konsequenz der offiziellen Erklärung, daß die Juden das russische Volk ausbeuteten, läßt Alexander III. durch eine besondere Kommission untersuchen, »inwiefern die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden eine schädliche Einwirkung auf die Lebensverhältnisse der Urbevölkerung hat«. Eine der Folgen des erstatteten Gutachtens ist, daß die Juden an Sonntagen und hohen christlichen Feiertagen nicht Handel treiben dürfen. Damit wird der Arbeitsraum ihrer Woche auf 5 Tage verkürzt. 1884 schließt man ihnen ihre Handwerkerschulen, »da in den Städten und Flecken der Südwestmark die Juden die Mehrheit der Handwerker ausmachen und dadurch die Entfaltung des Handwerks unter der Urbevölkerung hemmen«. Aber auch die freien Berufe werden zurückgedrängt. Von 1889–1895 werden jüdische Advokaten durch die Handhabung der Verwaltung nicht mehr zur Ausübung ihrer Praxis zugelassen. Auch die Bildungsmöglichkeit der Juden wird unterbunden durch die Einführung der sogenannten Prozentnorm für die Mittel- und Hochschulen. Darnach dürfen die Juden in den Rayons nur 10 Prozent, außerhalb der Rayons nur 5 Prozent und in Petersburg und Moskau nur 3 Prozent der christlichen Schülerschaft darstellen. Unter Nikolaus II. werden diese Prozentsätze noch weiter heruntergesetzt. Er führt auch als eine direkte Aktion gegen die Juden das staatliche Branntweinmonopol ein und beraubt dadurch 250 000 Juden ihrer Existenz. Insgesamt verfügte Rußland gegen das Ende der zaristischen Regierung über einen Kodex von 650 Ausnahmegesetzen gegen die Juden.

In der Methode der unblutigen Pogrome und der gesetzlich legitimierten Repressalien kommt Rumänien an zweiter Stelle. Dort wird das juristische Unikum des »Einheimischen Fremden« zur Tatsache. Die Stellung des rumänischen Juden ist weit ungünstiger als die jedes Ausländers. Vom Hausierhandel bis zum freien Beruf gibt es keine Betätigung, die ihm nicht 591 entweder untersagt oder durch rechtliche Maßnahmen erschwert ist. Der Versuch, sie auch aus dem Handwerk zu verdrängen, unterblieb nur aus Respekt vor dem Protest Amerikas. Im Besuch der Mittel- und Hochschulen unterliegen sie Beschränkungen. Die Gründung eigener Schulen wird mit behördlichen Schikanen beantwortet. Irgendwelche tatsächlichen oder gesetzlichen Mittel, sich gegen ihre willkürliche Ausplünderung zu wehren, stehen ihnen nicht zur Verfügung. Wer Kritik übt, wird ausgewiesen. Einzig das Recht, für Rumänien in die beiden Balkankriege und in den Weltkrieg zu ziehen, hat man ihnen nicht verkürzt. Das Versprechen der Regierung, den Kriegsteilnehmern und den Juden der eroberten bulgarischen Gebiete die Gleichberechtigung zu erteilen, stieß auf eine wütende Opposition der nationalen Bevölkerung. Erst durch den Vertrag von Versailles, der Rumänien einen starken Zuwachs an Juden der Bukowina, Siebenbürgens und des Banats verschaffte, wurde es gezwungen, die Rechtsgleichheit herzustellen. Es reagiert darauf bis in unsere Gegenwart durch einen unablässigen Terror gegen die Juden.

Die Einheit, die Polen infolge der dreifachen Teilung seines Reiches einstweilen noch versagt war, stellt es schon lange vor dem Vertrag von Versailles in seiner Art dar, dort, wo es im Verhältnis zum Juden die Majorität hat, seine nationalen Ambitionen ihm gegenüber zur Geltung zu bringen. In dem zu Österreich gehörigen Galizien bildet sich in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Methode des Boykotts aus. Die »polnische Volkspartei« gibt die Losung aus: »Katholizismus und Volkstum.« Der Katholikentag zu Krakau 1893 erklärt: »Der griechisch-orthodoxe Glaube und das Judentum sind unsere Feinde.« Die Boykottbewegung hat ein offizielles Programm: »Es gilt, das Judentum mit christlichen Mitteln, durch rein wirtschaftliche Maßnahmen zu bekämpfen . . . Ein Katholik, der einem Juden ein Stück Land verkauft oder in Pacht gibt, unterwühlt damit den Wohlstand unserer Nation.« 592 Die Gründung von Genossenschaften diente ebenfalls der Durchführung des Boykotts und führte auf die Dauer zu einem Massenelend der jüdischen Bevölkerung. Die Zurückdrängung der Juden auch aus dem öffentlichen Leben war fast vollkommen. Auch der russische Teil Polens greift zum Boykott. Unter der Devise: »Es ist kein Raum für zwei Nationen an der Weichsel« wird sowohl die wirtschaftliche wie die politische Verdrängung angestrebt. An dieser Zielsetzung ist auch nach dem Weltkriege, als der Völkerbund die Garantie für die Rechte der Minoritäten, also auch der Juden, in dem neuen polnischen Reiche übernahm, nichts geändert worden. Der Wirtschaftskampf ist noch verschärft, die Fernhaltung von öffentlichen Ämtern geschieht durch stillschweigendes Übereinkommen innerhalb der Regierung, und der Numerus clausus für die Hochschulen kann trotz entgegenstehender Gesetze praktisch als durchgeführt gelten.

In den Ländern, die den Juden offiziell die bürgerliche Gleichberechtigung gewährt haben, können die unblutigen Pogrome im allgemeinen den Weg über das Ausnahmegesetz nicht gehen. Sie sind entweder auf die Auslegung der Gesetze angewiesen oder auf ihre stillschweigende Handhabung zu ungunsten des Juden oder auf die Praxis der Verwaltungen und Regierungen. In solchen Ländern wird sich auch, da es an einer rechtlichen Handhabe für die Bekämpfung der Juden fehlt, zuerst eine Ideologie entwickeln, die als Begründung dient. Als die Prototypen dieser Länder bieten sich bis zum Weltkrieg Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn dar, nach dem Weltkriege Deutschland und Österreich.

Die unausgeglichene Stellung des offiziellen Deutschland zum Juden und zur Judenfrage bekommt ihr besonderes Format und ihre besondere Begründung im wesentlichen nach dem Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71. Es entsteht eine Aggressivität gegen den Juden, die in fast allen Bevölkerungsschichten ihre Vertreter findet. Die Motivierungen 593 erscheinen sehr heterogen, ohne es aber im Grunde wirklich zu sein. Die Linie und Richtung der Angriffe läßt sich aus den Äußerungen der Zeit verfolgen. Wissenschaftler, Halbwissenschaftler, Politiker und Staatsvertreter geben ihre offiziellen Erklärungen ab, was nicht weiter verwundert, wenn man den traurigen Umstand bedenkt, daß Völker ihre Ideologien und Problematiken mit Vorliebe im Umkreis von Kriegen, sei es bevorstehender oder beendeter, gewonnener oder verlorener, entwickeln. Das Schwergewicht der zugleich wissenschaftlichen und populären Äußerungen liegt in jener Zeit bei Treitschke und Mommsen. Treitschke, der den Staat heiliggesprochen hat und in Staatsmännern und Feldherren die wahren historischen Helden erblickte, veröffentlicht 1879 und 1880 verschiedene Aufsätze, in denen er sich in wirklicher Besorgnis mit dem Emanzipationsproblem und dem Judenhaß auseinandersetzt. Vor allem bedrückt ihn die Frage, »wie wir dieses fremde Volkstum mit dem unseren verschmelzen können«. Im Judenhaß sieht er eine »natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzubreiten Raum eingenommen hat«. Die Lösung sieht er darin, daß die Juden sich bemühen müßten, gute und einwandfreie Deutsche zu werden und auf jeden Gedanken an eine eigene Nationalität zu verzichten. Nur in ihrer Eigenschaft als Religionsgemeinschaft sei ihnen die Gleichberechtigung gewährt, und jede andere Auffassung müsse dazu führen, die Juden zur Auswanderung zu veranlassen. Auch Mommsen, obschon ein Gegner des gehässigen Kampfes gegen die Juden, fordert als Lösung des Judenproblems das Aufgehen des Juden im Christentum. Christentum, meint der große Historiker, sei mit europäischer Kultur und Gesittung identisch, und da die Juden diese erstrebten, müßten sie auch jenes annehmen und sich »ihrer Sonderart« völlig entledigen. Ihm nahe in der Zielsetzung kommt der Philosoph Eduard v. Hartmann, der in seiner Schrift »Das Judentum in Gegenwart und Zukunft« (1885) 594 vor allem verlangt, daß die Juden ihr natürliches »Stammesgefühl«, ihr Bewußtsein von der Solidarität untereinander aufgeben und sich völlig dem Deutschen und der deutschen Kultur einordnen.

Bei dem »Philosophen« Düring beginnt diejenige moderne Literatur gegen die Juden, die auf die objektive Wertung eines Tatbestandes verzichtet und dafür das Werturteil einsetzt, wobei als Wertmaßstab der Wille genommen wird, das eigene Volkstum und den eigenen Glauben zum Maß aller Dinge zu machen. Das nicht vermeidbare Ergebnis ist, daß alles andere minderwertig sein muß. So kommt auch Düring in seiner Schrift »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage« zu dem Ergebnis, daß die Juden der minderwertigste Zweig der semitischen Rasse seien, daß sie geistig unschöpferisch seien und daß sie das, was sie geistig besäßen, anderen Völkern gestohlen hätten. Das Judentum erstrebe die Herrschaft über die Welt. Man müsse sie, um dem vorzubeugen, aus der Schule, der Presse und dem Wirtschaftsleben verjagen. Vor allem müsse man sich gegen die »Verjudung des Blutes« wehren, die durch die Mischehen herbeigeführt werde. Wenn in diesem Buche das abschätzige Urteil noch zu sichtbar als Selbstzweck hervortritt, so wird solcher Schönheitsfehler bald darauf korrigiert durch die »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« von H. St. Chamberlain, der den ganzen Verlauf der Kulturgeschichte auflöst in einen Kampf des vollwertigen Ariers gegen den unwertigen Semiten und der für seine Epoche darstellt, wie der Homo judaicus im Begriff sei, den Homo europaeus zu verderben. Dieses Buch, das wegen seines vorgesetzten Zweckes außerhalb jeder Diskussionsmöglichkeit steht und in dem die verantwortungsbewußte Sachlichkeit durch Belesenheit und eine Überfülle von Argumenten ersetzt wird, ist Hunderttausenden zum Evangelium ihres National- und Rassengefühls geworden.

Den gleichen Alarmruf wie Chamberlain stößt Wilhelm Marr aus in seiner Schrift »Der Sieg des Judentums über das 595 Germanentum«. Er beweist von Neuem die auf Weltbeherrschung ausgehenden Pläne der Juden, schildert das verjudete Deutschland und das besiegte Germanentum und ruft zur Bekämpfung der »sozialpolitischen Gefahr« auf, »um das deutsche Vaterland vor der vollständigen Verjudung« zu retten. Daß die Sachlichkeit und Haltbarkeit solcher antijüdischen Publikationen keineswegs als Voraussetzung für ihren Erfolg nötig war, beweist ferner der »Talmudjude« von August Rohling, Kanonikus und Theologieprofessor zu Prag, einer Schrift, die aus Talmudzitaten den gefährlichen, minderwertigen und verbrecherischen Charakter der Juden und des Judentums beweist. Daß der deutsche Gelehrte Franz Delitzsch die Ignoranz des Verfassers und vielfache Fälschungen und Entstellungen in einem Prozeß nachwies, hatte auf die Glaubensfreudigkeit der Leser dieses Buches keinen Einfluß.

Die soeben erwähnte Schrift des Marr führt von der literarisch-kulturellen zur politischen Propaganda über. Marr gründet 1879 die Antisemiten-Liga. In ihr und ihrer Einflußsphäre entsteht die sogenannte Petitionskampagne gegen die Juden. Sie motiviert sich wie folgt: Das jüdische Volkselement in Deutschland überwuchere das deutsche. Durch das Überhandnehmen des Judentums würden die nationalen Vorzüge des Deutschen zum Verkümmern gebracht. Die jüdische Rasse habe es verstanden, »ihren unheilvollen Einfluß beständig zu steigern, so daß derselbe heute nicht allein die wirtschaftlichen Verhältnisse und den Wohlstand des deutschen Volkes, sondern auch seine Kultur und Religion mit den ernstesten Gefahren bedroht«. Es werden zur Bekämpfung dieser gefährlichen Zustände von der Regierung vier Maßnahmen verlangt: Beschränkung der Zuwanderung ausländischer Juden; Reinhaltung aller verantwortlichen Staatsämter von Juden, insbesondere Entfernung aus den Ämtern als Einzelrichter; Einstellung von nur christlichen Lehrern in den Volksschulen und nur ausnahmsweise die Zulassung von Juden zu Lehrämtern in 596 den Mittel- und Hochschulen; und endlich Einrichtung einer besonderen Judenstatistik. Dabei muß erwähnt werden, daß die Petenten keiner Utopie nachjagten, sondern eigentlich nur einen in der Praxis der Verwaltungen längst verwirklichten Tatbestand referierten. Welche Motive in Wirklichkeit hinter dieser Petition standen, werden wir später sehen. Sie fand rund 300 000 Unterschriften und wurde im März 1881 Bismarck überreicht.

Die sowohl politische wie geistige Organisation des Antisemitismus erfolgte bald darauf auf dem »Internationalen Antisemiten-Kongreß« in Dresden, dessen Internationalität allerdings nur durch Vertreter aus Deutschland und Österreich-Ungarn gebildet wurde. Die geistige Leitung des Kongresses und der Bewegung hatte der Hofprediger Stöcker, der Vorkämpfer der konservativen Opposition gegen Bismarck. Er legt dem Kongreß eine Reihe von Thesen vor. Er betont darin die Notwendigkeit, gegen das Überhandnehmen des Judentums einen internationalen Verband zu gründen. Die Judenfrage sei nicht nur eine religiöse Frage und eine Rassenangelegenheit, sondern auch eine kulturhistorische, wirtschaftliche und sittliche; die Juden häuften Kapital an, um damit die christlich-soziale Ordnung zu untergraben; als eigene Nationalität könnten sie nie organischer Bestandteil der christlichen Umwelt werden; die Judenemanzipation widerspreche dem Wesen des christlichen Staates; die Juden seien gleichzeitig die Schrittmacher des Kapitalismus und des revolutionären Sozialismus.

Seine Politik wird ergänzt und teils als unzureichend bekämpft von Politikern von der Art eines Liebermann von Sonnenberg, Otto Böckel und Rektor Ahlwardt, populäre Lieblinge des deutschen Kleinbürgers, dem sie das Heil durch Bekämpfung der Juden verheißen. Für die von ihnen erhoffte Gesetzgebung lehnen sie sich an die mittelalterlichen Kirchenkanons an und demonstrieren ihren politischen Willen durch Radau.

Von dem Nachbarland Österreich gilt für die Grundhaltung, 597 besonders in Wien, das gleiche wie für Deutschland, nur mit dem Unterschied, daß die Regierung von der antisemitischen Bewegung nicht sehr erfreut war, während in Deutschland diese Bewegung unter stillschweigender, aber sehr betonter Duldung und Förderung Wilhelms I. und Bismarcks vor sich ging. Die Erfolge waren überall die gleichen, wie sie in den Forderungen der antisemitischen Petition dargestellt wurden. Mit den Jahren verbesserte sich zwar die Form, und der Antisemitismus wurde von der Straße in die Wohnstube verlegt, aber der Widerstand blieb, sowohl als Grundhaltung des deutschen Bürgers wie im Verhalten der Verwaltungen, die – bis auf Bayern – Militär, Justiz und Lehrämter nach Möglichkeit den Juden verschlossen. Nur einen Augenblick lang, zu Beginn des Weltkrieges, als man angeblich keine Parteien mehr kannte, gab man ihnen angesichts des Todes die volle Gleichberechtigung. Aber schon 1916 veranstaltete man in der deutschen Armee die »Judenzählung«, um festzustellen, ob das bisherige Verhalten des offiziellen und des inoffiziellen Deutschland gegenüber den Juden von ihnen auch mit der genügenden Anzahl von Blutopfern gedankt worden sei.

Zur Abrundung des Bildes, das wir uns von den Erscheinungsformen des Antisemitismus machen müssen, gehört noch der Bericht über die Bewegung, die sich in Frankreich im Anschluß an den Krieg 1870/71 entwickelte. Die Gegner der Juden sind hier im wesentlichen identisch mit den Gegnern der Dritten Republik. Auch sie wird als verjudet dargestellt. Edouard Drumont unternimmt den Nachweis in seinem sehr erfolgreichen Buche »La France Juive«. Es gibt nichts, wofür nicht eine Schuld der Juden nachzuweisen wäre. Vor allem bedrohen sie Frankreich. Die Juden und die Freimaurer stehen im Dienste Preußens, um Frankreich niederzuhalten. Zur Bekämpfung dieser Gefahr gründet Drumont die »Nationale Antisemitenliga Frankreichs«. Das war die Atmosphäre, in der sich der Dreyfusprozeß abspielte. In ihm wird der einzige Jude im 598 französischen Generalstab, Dreyfus, wegen Spionage zugunsten Deutschlands im Dezember 1894 von einem französischen Kriegsgericht zur Degradation und zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. Zwei Jahre später entdeckt der Oberst Picquart den wahren Schuldigen, den Major Esterhazy. Gegen die Aufdeckung des Justizmordes wehrt sich der Freund des Spions, der Eskadronchef Henry, der selbst durch Fälschung eines Schriftstückes an der Verurteilung des Dreyfus mitschuldig war. Das Kriegsministerium ist endlich, da sich die Öffentlichkeit der Sache bemächtigt hat, gezwungen, Esterhazy vor Gericht zu stellen. Er wird 1898 freigesprochen, weil man den Beweis seiner Schuld nicht erbringen will. Dagegen protestiert Zola in seinem berühmten »J'accuse«. Dafür wird er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Auch Picquart, der den Kampf fortsetzt, landet im Gefängnis. Henry gesteht endlich die Wahrheit und begeht im Gefängnis Selbstmord. Esterhazy flieht in das Ausland. Diese Entwicklung der Dinge beantworten die Klerikalen und Antisemiten mit wütenden Hetzen gegen die Juden. Es läßt sich aber nicht vermeiden, daß der Prozeß gegen Dreyfus 1900 wiederaufgenommen wird. Trotz der inzwischen erfolgten Enthüllungen wird er erneut zu 10 Jahren Festung verurteilt, allerdings zugleich begnadigt. Um weiteren Aufklärungen vorzubeugen, wird für alle, die sich in diesem Verfahren schuldig gemacht haben, ein Amnestiegesetz erlassen. Erst 1906, als Dreyfus, unterstützt durch das unablässige Bemühen von Männern wie Clémenceau und Jaurès, Revision des Prozesses verlangt, wird er durch Freisprechung rehabilitiert.

Die übrigen Länder kommen für diese Darstellung des Antisemitismus nicht in Betracht. Man mag noch Belgien erwähnen, das eine Zeitlang den Antisemitismus von Frankreich übernahm und wo im Juli 1898 der belgische Klerus eine feierliche Prozession veranstaltete zur Erinnerung an den Hostienprozeß, der im Jahre . . . 1370 stattgefunden hat; ein Beweis für das gute Gedächtnis der Kirche. 599

Nach dieser allgemeinen Sachdarstellung müssen wir uns einer Untersuchung der Motive zuwenden, deren sich der Antisemitismus für seine Begründung bedient. Sie teilen sich, so sehr sie auch unter sich variieren mögen, in zwei Kategorien, von denen die eine Motive des Zweckes umfaßt und die andere Motive der Verschuldung. Wir wollen dabei nicht aus dem Auge lassen, daß hier Motive und wahrer Grund durchaus nicht zusammenfallen, daß es vielmehr ein Wesensmerkmal des Antisemitismus ist, daß er seinen wahren Grund hinter einem Zweck- oder Verschuldensmotiv verschleiert.

Unter den Zweckmotiven nimmt die erste Stelle dasjenige ein, das uns schon bei der Frage der Emanzipation der Juden in Deutschland begegnete: Auflösung des jüdischen Bestandes in der umgebenden Mehrheit. Diese Auflösung wird verlangt, um die Homogenität der Bevölkerung des Staates darzustellen. Natürlich ist eine solche Homogenität nirgends erreichbar und auch nirgends unter der nichtjüdischen Bevölkerung eines Landes selbst zu finden; denn auch das Deutschland der Emanzipation, und besonders das Deutschland nach dem Deutsch-Französischen Kriege, bestand rassenmäßig, gesellschaftlich und politisch aus Extremen. Ja die deutsche Glanzzeit des Antisemitismus steht ausgesprochen unter dem Gesichtspunkt des erbitterten Kampfes von Machtgruppen gegeneinander. Trotz der Reichsgründung, trotz der Herstellung einer scheinbar machtvollen Einheit lebten die alten militärischen, dynastischen, kirchlichen, agrarischen und bürokratischen Gewalten noch fort. Mit ihnen sollte nach Bismarcks Plan geschehen, was mit den Juden geschehen sollte. Sie sollten so unter der Gewalt eines Kaisertums zu einer Einheit gezwungen werden, wie die Juden unter der Gewalt der deutschen Nation und Kultur zur Aufgabe ihrer Sonderart gezwungen werden sollten. Beides veranlaßt jene Kämpfe, in denen gegen die Juden praktisch und gegen Katholiken und Sozialdemokraten gesetzlich der rechtliche Ausnahmezustand hergestellt wird. Aber so wenig 600 es Bismarck gelang, aus den widerstrebenden Schichten des deutschen Volkes eine Einheit zu machen, so wenig konnte es dem Deutschtum gelingen, aus Juden und Deutschen eine Einheit zu machen. Dabei war der Widerstand der Juden gegen eine Verdeutschung im allgemeinen weniger stark als beispielsweise der der altkonservativen Deutschen gegen das »evangelische Kaisertum«.

Das gleiche Zweckelement in der Behandlung der Judenfrage haben wir bereits für Frankreich, Österreich-Ungarn und Rußland festgestellt. In der habsburgischen Monarchie liegen die Dinge besonders kompliziert, weil in diesem Konglomerat von Nationen jede einzeln die Tendenz hat, sich gegenüber den anderen Nationen und speziell gegenüber dem Juden als alleinherrschend durchzusetzen. Die Deutschen in Nieder- und Oberösterreich, die Tschechen in Böhmen und Mähren, die Polen in Galizien und die Magyaren in Ungarn stehen in ihren Gebieten in schärfster Kampfstellung zueinander, und von dem Juden wird jeweils seine unbedingte Hingabe an das nationale Ideal der Majorität verlangt.

Der so erstrebte Assimilationsvorgang setzt auch tatsächlich ein, am stärksten in Frankreich, am schwächsten in Rußland. Man kann sagen, daß die Assimilation umgekehrt proportional ist der Masse der Juden und der Dichte ihrer Siedlungen. Aber eine vollständige Assimilierung tritt dennoch nicht ein. Überall wird von ihr im wesentlichen nur eine finanzielle oder intellektuelle Oberschicht ergriffen, dagegen bleibt es für die Masse teils, wie in Deutschland und Österreich, bei einer starken Annäherung an die deutsche Kultur, teils, wie in Polen und Rußland, bei einer konsequenten Ablehnung jeder Assimilation. Aber mitten in diesen Vorgang sowohl der völligen wie der teilweisen Angleichung bricht eine Bewegung, die wir schon bei dem Kampfe der spanischen Gesellschaft gegen die zwangsgetauften Juden kennengelernt haben: der krampfhafte Versuch der Umgebung, sich gegen die Folgen der geforderten 601 Assimilierung zu wehren. Gegen diese lächerliche Minorität von Juden erhebt sich in Frankreich, Deutschland, Österreich, Polen, Rußland der Schreckensruf: Verjudung! Es macht keinen Unterschied, wie die soziale und kulturelle Situation der Juden sich in Wirklichkeit darstellt. Auch in Rußland, wo von 6 Millionen Juden 90 Prozent kaum wissen, wovon sie am nächsten Tage leben sollen, ertönt der Warnungsruf: »Der Jüd marschiert!« Das Verlangen der Umgebung nach Aufhebung der jüdischen Isolierung ist sicher in seinen Ursprüngen ernsthaft gemeint gewesen. Aber es erweist sich als nicht ausführbar. Die Umgebung selbst stellt es fest, indem sie den Ruf von der Verjudung erhebt und damit zum Ausdruck bringt, daß ihr etwas geschieht, ein Leid, ein Unrecht, etwas Gefährliches, Vernichtendes. Und zwar geschieht jeder Nation etwas Spezifisches, dem Franzosen etwas anderes als dem Deutschen und ihm wieder etwas anderes als dem Russen. Aber alle fühlen sich bedroht, und alle wünschen, daß der frühere Zustand der Isolierung der Juden wiederhergestellt werde.

Dabei ist es wichtig, festzustellen, daß diese Alarmrufe in einem zeitlichen und zugleich organischen Zusammenhang stehen mit besonders einschneidenden und wichtigen Vorgängen und Bewegungen im Leben der einzelnen Nationen. Der Antisemitismus in Frankreich entsteht nach dem verlorenen, der in Deutschland nach dem gewonnenen Kriege 1870/71; in Österreich-Ungarn tritt er auf im Verfolg der verschärften Kämpfe der einzelnen Nationen um ihre kulturelle und politische Selbständigkeit; in Rußland ist er ein direktes Ergebnis des reaktionären Regimes und seines Kampfes gegen die revolutionäre Bewegung im Volke. Immer ist also der Antisemitismus in der Nachbarschaft eines nationalen Problems, und es wird eine Relation hergestellt zwischen der Anwesenheit und Wirksamkeit des Juden und diesem jeweiligen nationalen Problem. Und hierbei geht es schon nicht mehr um die Herstellung einer objektiven Beziehung, sondern um eine wertende, 602 um eine negativ abschätzende, um die Aufstellung eines Schuldmotivs. Vor allem tragen die Juden die Schuld an den verlorenen Kriegen. Sie haben für Frankreich den Verlust des Krieges 1870/71, für Rußland den Verlust des Krieges mit Japan und für Deutschland durch den Dolchstoß von hinten den Verlust des Weltkrieges verschuldet. Wo es sich, wie in Deutschland nach 1871, einmal um einen gewonnenen Krieg handelt, bleibt dennoch ein Vergehen gegen die Nation bestehen; dasselbe tritt ein mit Bezug auf die Nationalitätenkämpfe der Polen, Tschechen, Deutschen und Magyaren in Österreich-Ungarn und in bezug auf die Teilnahme der russischen Juden an der freiheitlichen, beziehungsweise revolutionären Volksbewegung. Überall und in jedem Falle tritt eine negative Wertung des Juden in bezug auf die umgebende Nation ein.

Die Aussage darüber, worin dieses generelle Verschulden des Juden gegenüber der jeweiligen Nation besteht, fällt je nach ihrem Problem verschieden aus. Am einfachsten liegen die Verhältnisse noch in dem zaristischen Rußland. Die Devise Alexanders III.: »Rußland den Russen!« ist primitiv, aber aufrichtig. Sein und seiner Nachfolger Bestreben, alle freiheitlichen Elemente in ihren Kämpfen gegen das hemmungslose Selbstherrschertum zu knebeln, ist brutal, aber klar. Insoweit fallen die Motive und die wahren Gründe für den Antisemitismus zusammen. Aber schon taucht daneben ein Motiv auf, das sich mit den Tatsachen nicht deckt, das also unwahr, erfunden, zu einem bestimmten Zwecke konstruiert ist: der Jude bedroht das Russentum. Das heißt: er gefährdet oder vernichtet gar diejenigen Eigenschaften des Russen, die sein Spezifikum und seinen Wert ausmachen. Er tut das durch das »Eindringen in die christlichen Kreise«. Es verschlägt nichts, daß die christlichen Kreise den Juden fast hermetisch verschlossen waren und daß die Zahl derer, die – gerufen und also gekommen – wirklich »eindringen«, außerordentlich gering ist. Daß dennoch ein Volk von vielen Millionen in seinem 603 altererbten Kulturbestand durch einige zehntausend Juden mit der Vernichtung bedroht werden kann, muß sich entweder als Unwahrheit herausstellen oder aber unter eine Begründung gestellt werden, die man nicht zu beweisen, sondern nur aufzustellen braucht. Und das geschieht. Es geschieht durch die Generalidee von der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse. Nicht alle Völker sind so gründlich wie die Deutschen, die aus dieser Idee eine »Wissenschaft« gemacht haben. Für andere Länder genügt im allgemeinen die Behauptung selbst, und wir werden späterhin sehen, wie dieses Schuldmotiv seinerseits wieder zum Zweckmotiv wird. Rußland hat noch ein konkreteres Motiv zur Verfügung: die ganze Freiheitsbewegung im Lande ist eine jüdische Angelegenheit, und die Pogrome gegen die Juden sind ein Protest des Volkes gegen das Verlangen der Juden, Sozialisten und Sozialrevolutionäre nach einer Konstitution. Wir brauchen uns nur zu erinnern, daß die Regierung selbst die Veranstalterin dieser Pogrome war, um die Behauptung vom Volksprotest Lügen zu strafen. Aber auch die Freiheitsbewegung war – selbst für die Regierung erkennbar – nichts anderes als der Erfolg ihres eigenen Systems. Aber die selbstverständliche Beteiligung der Juden an der Freiheitsbewegung mußte dazu dienen, den offiziellen Regierungskurs von der Last seiner Verantwortung zu befreien und die allgemeine Unzufriedenheit auf die Juden abzulenken. In zwei anderen Motiven hingegen wird auf alle Heimlichkeit und Verschleierung verzichtet: in der Religion und in der Wirtschaft, diesen beiden Gebieten, die nichts miteinander zu tun haben und die sich immer wieder vermählen, wenn es gegen den Juden geht. Statt aller Einzelheiten möge eine Randglosse mitgeteilt werden, mit der Alexander III. noch im Jahre 1890 eine Denkschrift über die elende Lage der russischen Juden versieht: »Wir dürfen aber nie vergessen, daß die Juden unseren Heiland gekreuzigt und sein kostbares Blut vergossen haben.« Andererseits bringt der wirtschaftliche Erfolg der Juden selbst 604 gegenüber der geringen Menge, die ihn aufweisen kann, das Argument hervor, daß der Jude sich der russischen Wirtschaft bemächtige und die Bevölkerung ausbeute. Das wurde, wie wir sahen, auch der schwer um ihre Existenz kämpfenden Masse der armen und ärmsten Juden vorgeworfen.

Wie die Motivierungen in Polen verlaufen müssen, ist aus dem bisher über die polnische Geschichte Mitgeteilten schon ohne weiteres abzuleiten. Zu den Gegensätzen Religion und Wirtschaft wird für die Zeit des aufgeteilten Polen der nationale Gegensatz hinzugenommen. Überhaupt genügt für die Nationalitäten in Österreich-Ungarn die Tatsache der Existenz, der Anwesenheit der Juden, um sie zu Feinden und zu Verrätern an der Nation der Majorität zu stempeln. Es nützt dabei nicht einmal, daß sich die Juden, wie in Ungarn, so weit magyarisieren, als es eben gehen mag. Dennoch konnte Ungarn, als es nach dem Weltkrieg seine nationale Unabhängigkeit erhielt, ein Land des blutigsten Antisemitismus werden, und das heutige Österreich hat nach wie vor seine breite antisemitische Bewegung. Österreich hat allerdings einen Krieg verloren, während man von Ungarn und Polen fast sagen kann, daß sie einen Krieg gewonnen haben. Dennoch sind die Ergebnisse, soweit sie den Antisemitismus angehen, die gleichen.

Wenden wir uns jetzt den Motivierungen zu, die das klassische Land der antisemitischen Ideologie, Deutschland, zur Begründung seiner Judenfeindschaft in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hervorgebracht hat. Wir haben es da mit den Äußerungen eines Siegervolkes zu tun, in dem das Gefühl der Kraft hypertrophiert und dem die formell hergestellte Einheit des Reiches einen besonderen Begriff vom Wesen des Staates vermittelt. Staat ist unleugbar mehr als ein Zweckverband von Menschen. Er ist die Organisationsform für das Zusammenleben und die Kraftentfaltung von Menschen. Das Deutschland von 1870/71 machte aber etwas anderes daraus. Es begriff ihn als mit Leben erfüllten Selbstzweck. Alle politischen Kämpfe 605 im Inneren hinderten nicht das Wiederauftauchen der frühesten mittelalterlichen Idee von der sakrosankten Natur des Staates und von der Verbundenheit einer weltlichen mit einer kirchlichen Gewalt und Herrschaft. Die immer zärtlich umhegte Kaiseridee ist verwirklicht, nur daß ihr kein Papsttum koordiniert ist. Es wird ersetzt durch die Idee des »christlichen Staates«. Der Staat ist Persönlichkeit geworden. Sein Inhalt ist die Summe aller im Volke, in der Nation vorhandenen Kräfte. Nimmt man dazu, daß diese Nation gesiegt hatte, so versteht man, daß sie sich in ihrem Staate der Ausschließlichkeit verschrieb, sich mit ihm identifizierte und keine anderen Götter neben sich dulden konnte. In diesem Raume entfaltet sich die germanische Idee der Auserwähltheit, die – in der praktischen Auswirkung jedenfalls – die jüdische um ein Vielfaches übertrifft. Gegen alles, was die Einordnung in diesen sieghaften Nationalismus nicht restlos vornimmt, wird der Kampf angesagt. Daß er sich auch gegen den Juden richtet wie etwa gegen den Polen, ist nur konsequent. Aber sogleich stoßen wir wieder auf die vorhin festgestellte Erscheinung, daß gegen die Einordnung, die Angleichung und Assimilierung, sobald sie wirklich erfolgt, leidenschaftlicher Protest erhoben wird. Die schon referierten Äußerungen des offiziellen Deutschland zeigen, daß ein Teil für und ein Teil durchaus gegen eine Vermischung ist. Nirgends ist der Alarmruf von der Verjudung lauter erhoben worden als in Deutschland, und nirgends bedeutet er stärker als hier den Widerruf der einmal geforderten Assimilation. Man erkennt jetzt nicht nur die Unvereinbarkeit des Juden mit der deutschen Nationalität, sondern stellt fest, daß schon in den Rassen selbst eine Unterschiedlichkeit liege, die eine Angleichung ausschließt. Auf diese deutsche Rassenforschung kann ernsthaft um deswillen nicht eingegangen werden, weil sie zu ihrer Voraussetzung nichts hat als den vorweggenommenen Beweis, als den absoluten Willen, ein germanisches Ideal zu formen und nachträglich zu beweisen; vor allem 606 aber: weil von allem Anfang an mit dem Werturteil operiert wird. Auf diesem vorweggenommenen Werturteil basiert auch die Folgeerwägung, daß das Semitentum und insbesondere sein minderwertigster Zweig, der Jude, sich in stetem Kampf gegen das Germanentum befände.

Alle diese Motivierungen haben also ursprünglich zur Voraussetzung nichts anderes als die Existenz des Juden. Aber dabei behält es nicht sein Bewenden. Zu diesem gleichsam passiven Verschulden des Juden tritt sein aktives, und da taucht ein Argument auf, das uns auch nicht zum erstenmal in unserer Geschichte begegnet: der Jude will den Germanen besiegen; er will überhaupt die christlich-soziale Ordnung untergraben; er strebt nach der materiellen Herrschaft über die ganze Welt. Die Beweise dafür sind oft sehr mühsam, aber sie werden für alle erdenklichen Gebiete geführt. Vor allem wird die wirtschaftliche Verfassung der Juden untersucht und festgestellt, daß ihr Aufstieg nicht etwa die natürliche Auswirkung von Fähigkeiten ist, sondern Folgeerscheinungen einer »goldenen Internationale« der Juden in der ganzen Welt. Daß nach dem Aufhören der patriarchalischen Zustände im Wirtschaftsleben der wirtschaftliche Ausgleich sich im Kampf um die Leistung vollzieht, leugnet die Umgebung nicht. Aber daß der Jude im Kampf um die Leistung so oft der Stärkere bleibt, wird ihm dennoch als Verschulden und als zweckbewußtes Handeln zugerechnet. Es wird vor allem darauf hingewiesen, daß der Jude der Schrittmacher des Kapitalismus sei. Dabei wagt selbstverständlich niemand zu leugnen, daß der Kapitalismus eine notwendige Entwicklungsform der Weltwirtschaft darstellt, daß er folglich auch entstanden wäre, wenn die Juden sich in Handel und Industrie überhaupt nicht betätigt hätten. Damit nun das eigene Urteil nicht widersinnig werde, wird aus dem Arsenal der nicht beweisbedürftigen Werturteile das Argument geholt, daß der Jude – wie etwa im deutschen Urteil der Engländer – seinem Wesen, seiner ganzen seelischen 607 Veranlagung nach ein »Krämervolk« darstelle. Im gleichen Atem wird aber auch dem Juden vorgeworfen, daß er der Schrittmacher für das Gegenteil des Kapitalismus, für die sozialistische Arbeiterbewegung und die auf Weltrevolution gerichteten Bewegungen sei. Hier wird die Argumentation noch verwickelter, denn neben dieser Behauptung wird gleichzeitig – und gerade in der hier interessierenden Epoche des Bismarckschen Kulturkampfes – die These aufgestellt, in den Großstädten werde das Industrieproletariat »vom Kapitalismus und vom Judentum« unterdrückt, und es sei Pflicht des preußischen Königtums und der evangelischen Kirche, diesen Armen zur Hilfe zu kommen. Es nimmt nicht Wunder, daß Stöcker der Verfechter dieser These ist, denn in seinen Folgerungen haben wir bereits das letzte Argument gefunden, das allen diesen Widersprüchen die letzte und nicht beweisbedürftige Auflösung gibt: eben das Streben des Juden nach der Zerstörung der christlich-sozialen Ordnung. Aber die Anhänger der von ihm gegründeten »Christlich-sozialen Partei« haben seine Argumente weniger geistig als vielmehr praktisch ausgelegt und sich einer Formel von ungewöhnlich aufklärender Deutlichkeit bedient: Konkurrenz. Wo solche Folgerung aus Gründen der Schamhaftigkeit nicht angebracht war, blieb es bei dem geistigen Schlagwort. Daß die liberale Presse, die viele Juden zu ihren Mitarbeitern zählte, wegen ihrer lebendigen Gestaltung der konservativen Presse den Rang ablief, führte zu der bis heute existierenden Idee von der »Verjudung der Presse«. Daß Juden im öffentlichen Wirken und im Staatsdienst Fortschritte machten, verlangte gebieterisch nach ihrer Zurückdrängung und der Freihaltung des öffentlichen Lebens von einem nicht deutsch-christlichen Einfluß.

Bis hierher zusammenfassend, kann also schon folgendes gesagt werden: der Antisemitismus entnimmt seine Begründung dem Nationalen, dem Staatlichen, der Religion und dem Rassenmäßigen. Er paßt die Formulierung im Einzelnen den 608 jeweiligen Bedürfnissen an. Er bedient sich beweisbarer, unbeweisbarer und einander widersprechender Argumentationen. Er hat die sachliche Begründung so gut wie das Werturteil und das Ressentiment. Er belebt sich nach Siegen und nach Niederlagen so gut wie in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur und wirtschaftlicher Depressionen. Er wird damit erkennbar ein Problem der nichtjüdischen Umgebung, das sich wie folgt darstellt: Steigt die Kurve des nationalen, religiösen und rassenmäßigen Gefühls eines Volkes, so duldet das entstehende Hochgefühl den Juden nicht und verlangt seine Isolierung aus dem Gesichtspunkt der Minderwertigkeit und Schädlichkeit; sinkt die Kurve dagegen, so wird die Schuld daran dem Juden zugeschrieben und seine Isolierung aus Vorsorge und zur Strafe verlangt. Die bündige literarische Formel dafür hat der hellsichtige Lessing gefunden: »Tut nichts: der Jude wird verbrannt.«

Gleichwohl ist diese klassische Formulierung für das historische Begreifen unzureichend, denn sie umschreibt nur den Zustand, nicht seine Gesetzmäßigkeit, mit der allein wir es zu tun haben. In allem, was wir jetzt betrachtet haben, sind die Vergangenheiten eingefangen. Es ist alles im Ablauf der jüdischen Diasporageschichte schon einmal dagewesen, sowohl die Argumente wie die Tatsachen. Daß die christliche Religion das Judentum bekämpft, als Katholizismus, als griechisch-orthodoxer Glaube und als Protestantismus, ist seit Paulus ein Bestandteil der jüdischen Geschichte. So genau kopieren die Jahrhunderte einander, daß selbst im Rußland des 20. Jahrhunderts die Judenmorde noch mit Vorliebe auf das Osterfest verlegt werden; ein instinktmäßiger historischer Konnex. Daß der christliche Staat den Juden bekämpft, ist die allererste seiner Manifestationen seit seiner Entstehung unter Konstantin. Auch hier ist die Kopie getreu, und es ist kein Unterschied zwischen den zu Staatsgesetzen erhobenen Kirchenkanons, wonach der Jude kein öffentliches Amt bekleiden dürfe, das ihm 609 Autorität über einen Christen verleiht, und der Praxis einer modernen Verwaltung, eine solche Autorität auch ohne Ausnahmegesetz zu verhindern. Vom genau gleichen Alter ist der Kampf jedes Landes in jedem denkbaren Zustand seiner wirtschaftlichen Reife gegen den Juden wegen seiner wirtschaftlichen Betätigung. Und allen Zeiten seit der Entstehung der christlichen Welt ist die Behauptung gemeinsam, daß das Judentum sein Ziel in einer Vernichtung des Christentums erblicke.

Also ist eines klar: der Antisemitismus ist ein historisches Problem und zugleich ein zeitloses. Aber auch historische Zustände haben – über alle Imponderabilien ihrer Entstehung hinaus – einen Augenblick, in dem sie der Umwelt sichtbar werden. Wir haben diesen Moment bereits festgestellt. Er ist in dem Augenblick eingetreten, als Judentum und Griechentum einander begegneten, als die beiden extremen Möglichkeiten des Verhaltens zu Gott und zur Welt einander gegenüberstanden, als das Griechentum auf die andere Seite seines Selbst stieß, die ihm zugleich verhaßt und verweigert war. Völker haben ein Geltungsbedürfnis so gut wie der einzelne Mensch. Wird ihr Bedürfnis nach Anerkennung durch andere dadurch verletzt, daß ihnen die Erfüllung dieses Anspruches konsequent verweigert wird, so finden sie ihre Überkompensation im Haß und in der Entwicklung eines übermäßigen Selbstbewußtseins. Das ist es im Grunde auch, was lange unterdrückten Nationen – man denke an die Polen und die Ungarn – auch bei geringsten Kulturleistungen ihre überquellende, chauvinistische Selbsteinschätzung gibt. Daß der Jude den Griechen stillschweigend und ausdrücklich, durch seine geistig-religiöse Verfassung und durch sein nationales Verhalten ablehnte, negierte, als nicht gleichwertig weit und energisch von sich abhielt, und daß das Griechentum weder Mittel des Geistes noch der effektiven Macht hatte, dem Judaismus den Stempel des Hellenismus aufzudrücken, war die Geburtsstunde des 610 Judenhasses. Sogar sein primitivstes Argument, von Antiochus Epiphanes aufgestellt, daß die Juden in ihrem Tempel einen Griechen mästeten, um ihn ihrem Gotte als Opfer zu schlachten, hat seine Lebenskraft für die Dauer von 2200 Jahren bewahrt. In dem gleichen Zeitraum macht der Judenhaß eine Reihe von Wandlungen durch, ohne jedoch dieses Grundgefühl des nicht respektierten Geltungsbedürfnisses jemals zu verlieren. Rom, die Fortsetzung Griechenlands mit unzulänglichen Mitteln, entnahm seinen Judenhaß der verweigerten Anerkennung seines Imperiums und seiner zu Göttern avancierten Monarchen. Das Christentum, die religiöse Beschließung sowohl von Griechenland wie von Rom, schöpft seine ungeheure Kraft zu Angriff und Haß aus ebendieser verweigerten Anerkennung. Es ist ganz unbestreitbar, daß im Anfang der Entwicklung das Christentum dem Judentum als etwas Werbendes gegenübertritt, das von der Wahrheit und Einzigartigkeit seiner religiösen Erkenntnis durchdrungen ist. Aber das dauert – historisch gesehen – nur eine Sekunde. Dann wird die Front gegen das sich Versagende, gegen den Juden und den Heiden gebildet. Der Heide wird unterworfen, der Jude bekämpft. Es bildet sich alsbald eine religiöse Tradition heraus, die ihre Stabilität in dem Augenblick bekommt, in dem die christliche Religion zur Kirche erstarrt. Denn damit erwuchs ein Machtproblem, und von neuem wurde ein Gegensatz sichtbar, der wiederum und für Jahrhunderte zu der Verweigerung einer Anerkennung führte: eben das christlich-kirchliche Problem der Macht gegenüber dem jüdischen Problem der Gewaltlosigkeit. Macht aber kann nur Machtergebnisse aus sich entlassen und kann in Zeit und Ewigkeit keine andere Begründung finden als sich selbst, als fortwirkend Gewalt. Darum ist die christliche Umwelt nicht nur an ihre Tradition des Judenhasses gebunden, sondern findet auch den Ausweg nicht. Er wäre gefunden worden, wenn es in dem Ablauf von fast zwei Jahrtausenden nur ein einziges Mal einen Augenblick gegeben hätte, in dem die 611 Diskrepanz zwischen Leben und Religion nicht bestanden hätte. Aber sie bestand und besteht. Darum ist der Anspruch der christlichen Welt, daß der Jude sich ihr bedingungslos unterordne, alle Zeit illegitim gewesen. Das muß im Unterbewußtsein aller Zeiten deutlich empfunden worden sein, denn nur von dort aus ist das unsterbliche Argument zu verstehen, daß das Judentum es in allen seinen Bestrebungen auf die Vernichtung des Christentums abgesehen habe. Das ist nichts anderes als ein Reflex des schlechten Gewissens, das »Haltet den Dieb!« dessen, der den Gedanken an die Vernichtung des Judentums von ungezählten Generationen her ererbt hat. Die letzte Herausbildung von alledem, das Fremdheitsgefühl, ist also kein sachliches, sondern ein persönliches Problem, keines, das in greifbaren Dingen, sondern eines, das in geistigen Veranlagungen und geistigen Möglichkeiten beschlossen liegt. Das wird oft nicht klar erkannt, weil die Fülle und Bedenkenlosigkeit der antijüdischen Argumente sich jedes beliebigen Tatbestandes zu bedienen vermag. Darum haben sogar vielfach Juden die Auffassung vertreten, der Jude selbst könne am konkreten Tatbestand des Antisemitismus etwas ändern. Das ist unrichtig, denn er ist kein konkreter, sondern ein abstrakter Tatbestand, und er ist nicht das Problem des Juden, sondern das des Nicht-Juden. Der Jude kann an Bestand und Wesen des Antisemitismus nichts ändern. Daran kann nicht einmal der Zionismus etwas ändern, insoweit er von der Aufhebung der Diaspora für den Kern des Judentums ein Schwinden des Antisemitismus erwartet. Das würde nur zutreffen, wenn das antijüdische Gefühl durch die Diaspora entstanden wäre. Aber es ist vorher entstanden. Die Diaspora hat nur dazu dienen können, es in Permanenz zu erklären und ihm seine zeitlose und für das Erdulden des Juden furchtbare Aktualität zu geben. Hier erst setzt der wahre Anteil der Judenheit am Problem ein: in seinem Erdulden. Bis in unsere Gegenwart schlägt man Menschen tot, weil sie Juden sind. Die geistvollste Begründung 612 des Antisemitismus wird diese Erscheinung nicht aus der Welt schaffen. Nur in seinen Auswirkungen ließe sich der Antisemitismus vermindern und eindämmen, sobald es nicht mehr ungefährlich wäre, die unzufriedenen Instinkte von Menschen und Nationen auf eine Minderheit zu entladen.

Wenn es je zu einer Auflösung des antijüdischen Gefühls kommen sollte, so müßte es von daher erfolgen, von wo wir seinen Ursprung feststellten. Und der liegt im Menschlichen. Es gibt im Leben des Einzelnen und der Völker Vorstellungen, Gefühle und Reaktionen, die wider die bessere Erkenntnis gepflegt und beibehalten werden. Sie bedeuten für den Einzelnen und für die Nation nicht das, was ihnen verweigert ist, sondern das, was sie sich selbst verweigern. Der Antisemitismus ist eines der Fremdheitsgefühle, dessen sich die Menschheit bedient, um zwischen sich und der letzten Erfüllung ihrer menschlichen Verpflichtungen eine Schranke aufzurichten.

 


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