Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Zweiter Teil

Von der Begegnung mit Griechenland bis zur Begegnung mit dem Christentum

 

Griechenland und Judäa

Die politische Belanglosigkeit der jüdischen theokratischen Republik gibt ihr zwei Jahrhunderte Ruhe, sich mit ihrer inneren Konsolidierung zu befassen. Dann setzt ein Vorgang ein, von dessen gewaltiger Erschütterung auch Judäa ins Schwanken gerät: der Zusammenstoß des Morgenlandes mit dem Abendland. Griechenland bricht in den Orient ein.

Bis zu diesem Punkte seiner Geschichte ist das Judentum schon vielen Völkern begegnet. Bei jeder Begegnung gab es noch diese oder jene Gemeinsamkeit, sei es in der semitischen Abstammung, der Sprachverwandtschaft, der Gewöhnung aus dem nachbarlichen Zusammenwohnen oder aus dem geschichtlichen Schicksal. Diese letzte Spur von Gemeinsamkeit hört auf, wie Juden und Griechen einander begegnen. Sie sind zwei verschiedene Komponenten des menschlichen Geistes. Sie stehen an den entgegengesetzten Polen der menschlichen Möglichkeit und Entscheidungsfähigkeit. Gerade diese Tiefe des Gegensatzes macht es den Juden unmöglich, auszuweichen oder die neue Macht zu ignorieren. Vor die Alternative gestellt, in dieser Begegnung ihre Individualität zugunsten des Griechen aufzugeben oder sie in erneuter Abgrenzung zu behaupten, stellt sie das Schicksal zugleich vor eine neue Aufgabe, die streng logisch auf dem Wege ihrer Entwicklung liegt: sich nicht nur in ihrer eng abgegrenzten Gemeinschaft, sondern auch in der Welt als Menschen theokratischer Verfassung zu behaupten.

Das erste Auftreten des Griechentums nehmen die Juden gleichgültig hin. Sie konstatieren ohne besondere Erregung, daß sie wieder einmal unter eine neue politische Oberhoheit gekommen sind. Sie erfahren, daß Alexander, Sohn des Mazedoniers Philipp, im Begriffe sei, den Traum eines Europa, Asien und Afrika umfassenden Weltreiches unter der Hegemonie der Griechen und des griechischen Geistes zu 124 verwirklichen. Das persische Reich bricht vor diesem Anstoß zusammen. Alexander richtet seinen Zug weiter nach Süden, nach Ägypten. Auf dem Wege dahin, als beiläufiges Ergebnis, wird Judäa kampflos in den Kreis der Eroberungen einbezogen.

Wie nach Alexanders Tode (323) seine Diadochen sich um die Erbschaft des großen Eroberers schlagen, kommt Judäa zusammen mit einem Teil Cölesyriens unter die Botmäßigkeit des Ptolemäus Lagi, der Ägypten besetzt hat und von Alexandrien aus regiert. Vom Libanon bis an die Ufer des Indus richtet ein anderer Diadoche, Seleucus, ein mächtiges Reich auf. Das bedeutet für Judäa einstweilen nur, daß seine nördliche Diaspora politisch von ihm getrennt ist, während die südliche, ägyptische, einen ungewöhnlichen Aufschwung nimmt. Von ihr muß später gesondert gesprochen werden, nicht nur wegen der Verschiedenartigkeit ihres Schicksals, sondern auch um deswillen, weil Judäa und die südliche Diaspora auf den Angriff des Griechentums völlig verschieden geantwortet haben. Judäa paralysierte den griechischen Angriff. Die Diaspora zersetzte das Griechentum.

Judäa ist ein Jahrhundert unter der Botmäßigkeit der Ptolemäer, und es vollzieht sich in dieser Zeit die Begegnung mit dem griechischen Menschen. Der Jude hatte damals schon Kenntnis von seiner Existenz. Er wußte bereits aus den Propheten von den »Söhnen Javans«, den griechischen Sklavenhändlern von den ionischen Inseln her. Jetzt rücken ihm Griechen und griechische Mischlinge in schnellem Tempo näher. Rings um Judäa entsteht ein Kranz griechischer Kolonien. Judäa wird eine Enklave in einer Umgebung, in der die griechische Sprache und griechische Lebensformen sich täglich ausbreiten, nicht nur durch die ständig wachsende Zahl der Kolonisten, sondern auch durch die übergroße Bereitwilligkeit, mit der die nichtjudäische Umgebung sich diesem Ansturm einer neuen Kultur unterwirft. Judäa als geschlossenes Gebiet bleibt zunächst davon unberührt, aber seine 125 Abhängigkeitsbeziehung zum ptolemäischen Ägypten bringt es mit Art, Haltung und Inhalt dieses neuen Kulturkreises in Berührung und läßt zum mindesten die Auseinandersetzung mit der Lebensform der Griechen auch für Judäa praktisch werden.

Die Lebensformen, die bei dem Judäer Anstoß erregten: die Verehrung vieler Götter, das leichte, zügellose Leben, Trinkgelage, Homosexualität, erotische Unbedenklichkeit auch auf anderem Gebiete, luxuriöses Leben, Befassen mit weltlichen Dingen und Wissenschaften und letztlich Turnen und Wettkämpfe nackter Männer und Jünglinge besagen natürlich als solche nichts, solange man nicht die seelische Grundhaltung bestimmt hat, aus der sie kamen. Die Judäer waren schon ein viel zu differenziertes Volk, als daß sie nicht hinter diesen äußeren Vorgängen deren tragenden Grund erkannt hätten. Sie erkannten hinter dem griechischen Künstler, dem griechischen Philosophen, dem Lebemann, dem erotischen Verschwender, dem heiteren Trinker, dem pessimistisch-höhnischen Gottverächter das Gemeinsame: den griechischen Menschen.

Hier ist eine grundsätzliche Bemerkung einzuschalten: es ergibt sich eine eigene geschichtliche Perspektive, wenn man einmal darauf verzichten muß, historische Abläufe nach künstlerischen, ästhetischen, literarischen Gesichtspunkten zu betrachten, und sie demjenigen Gesetz unterstellt, das für Wert und Entwicklung der Menschheit eine seit Jahrhunderten gleichbleibende Bedeutung besitzt: dem der menschlich-sittlichen Haltung. Vor solcher Betrachtung zerfallen die phantastischen Gebäude gutwilliger und zweckbetonter Geschichtskonstruktion in ein Nichts. Eine andere Art der Beurteilung ist aber dem Juden nie möglich gewesen. Er hat sie jedem Volk gegenüber zur Anwendung gebracht. Das macht ihn ungerecht gegenüber den einzelnen Erscheinungsformen, aber im höchsten Maße gerecht gegenüber ihrem Sinn.

Wer ist nun dieser griechische Mensch? Als was sieht ihn der Jude? Er kann ihn, wie jedes Volk das andere, nur aus dem 126 Vergleich begreifen, und da ergeben sich lauter Gegensätze, selbst da, wo beide Völker von der gleichen Grundhaltung ausgehen.

Es ist die Grundhaltung beider Völker, daß ihr Leben vom Diesseits ausgeht und daß sie mit vollem Bewußtsein in dieser Welt leben. Aber was sie daraus gestaltet haben, liegt an den entgegengesetzten Enden der Möglichkeiten, wohin man auch sieht. Schon die primärste Organisation eines diesseitigen Lebens, die Errichtung eines Staates, verläuft bei den Griechen in einer Summe chaotischer Versuche. Alle ihre Staatsformen sind Experimente, die dadurch, daß sie bis zur überspitzten Konsequenz geführt sind, sich selbst ad absurdum führen. Ob sie eine Aristokratie, eine Tyrannis, eine Demokratie oder einen spartanisch-militärischen Kommunismus als Staatsform versuchen: immer vergewaltigen sie sich letzten Endes selber, immer wird auf einen Teil des Volkes Zwang und Bedrückung ausgeübt, immer ist das – oft geistvolle – Spiel mit der Staatsidee stärker als das Bemühen, eine Grundidee ihres Daseins in einer Staatsform zu realisieren. Mit Recht nennt Nietzsche sie die »Staatsnarren der alten Geschichte«. Die Spanne zwischen der Brutalität der Aristokratie, die das Volk zu einer dumpfen Hintergrundmasse herabzwängt, bis zum verbrecherischen Unfug des Ostrakismus zeigt nicht etwa eine Linie der Entwicklung, sondern die Gegenpole aus der Gesinnung einer Gemeinschaft, in der sich keiner durch den anderen und keiner durch den Begriff der Gesamtheit verpflichtet fühlt.

Dem steht in Judäa gegenüber eine zwar unfarbige und phantasielose, aber aus einer ungewöhnlichen Steigerung des Gemeinschaftsgefühles organisch und in klaren, übersichtlichen Linien erwachsene Staatsform, und, was wichtiger ist: der Wille zu einer Staatsform, die wirklich repräsentativ ist für Inhalt und Bemühen der Gemeinschaft.

Griechen und Judäer hatten weiter das Gemeinsame, daß sich bei ihnen Staat und »Kirche« in einem ungewöhnlichen Umfange deckten. Für die Griechen gilt, daß ihr Staat zugleich 127 ihre Kirche war. Für die Juden: daß sie ihre Kirche im Staat realisierten. Aber aus den Funktionen dieses Staates ergibt sich bei den Griechen eine grenzenlose Willkür, die immer mit dem Gespenst der Anklage wegen Gottlosigkeit droht und die es vermag, Sokrates, Protagoras und Anaxagoras, die drei größten Denker des perikleischen Zeitalters, zu fällen, während in Judäa die besten Geister der Nation darauf bedacht waren, Staat und Kirche, Glauben und Gemeinschaftsform zu einer wirklichen und lebendigen Übereinstimmung zu bringen.

Was hier im Untergrunde den tiefen Unterschied ausmacht, ist die religiöse Begabung der beiden Völker und dementsprechend ihre religiöse Produktivität. Dabei ist der gröbste Unterschied nur der, daß aus dem Judentum der Monotheismus erwachsen war, während die Griechen aus ihrer gestaltenden Phantasie den Himmel mit einer Unzahl von Göttern bevölkerten, die, abgesehen von ihren genau abgezirkelten Machtbefugnissen, die Lust und die Unlust, die Vollkommenheit und die Unvollkommenheit, die Sauberkeit und die Gemeinheit des Lebens auf der Erde über den Wolken des Olymp getreulich und in vergröbertem Maßstabe kopierten. Ihr Respekt vor den Göttern war Dämonenfurcht. Dabei durchzog ihre Religion, ganz wie bei den Judäern, ihr gesamtes Dasein. In jedem Vorgang des öffentlichen und privaten Lebens waren die Götter leitend und mitwirkend. Aber eben dadurch bekamen sie die Funktion und die Wertung alltäglicher Gebrauchsgegenstände. Sie griffen sich ab, weil keine überragende und verpflichtende Idee hinter ihnen stand. Aber das Entscheidende war, daß aller Dienst vor den Göttern sie nicht daran hinderte, im Grund ihrer Seele an ihrer Existenz überhaupt zu zweifeln. Man war schon dazu übergegangen, sich die Entstehung ihrer Götter zu erklären, das heißt: ihre Götter rationalistisch zu begründen und ihnen damit den Todesstoß zu versetzen. Während die platonische Schule sich noch mit der ausweichenden Haltung beschied, es sei möglich, daß die 128 Götter existierten, aus welchem Grunde es empfehlenswert sei, bei der bisherigen Götterverehrung zu verharren – erklärt Euhemeros die Götter als Menschen der Urzeit, die für hervorragende Taten in den Olymp versetzt seien, während die Stoiker in den Göttern Allegorisierungen der Naturkräfte erblickten.

Fremd wie das Wesen ihrer Religion und ihrer Gottheiten war zwischen Judäern und Hellenen auch der Sinn ihrer Theologie. Die der Judäer ist hier schon oftmals umrissen worden. Die der Griechen kann sowohl in den eleusischen Mysterien wie in der orphischen oder dionysischen Religion gefunden werden. Aber weder die handgreiflichen Versprechungen von Eleusis – glückliches Dasein und Befreiung vom Hades – noch die verhaltene Schwermut der von Pythagoras verkündeten orphischen Weisheit waren im wirklichen Sinne Volksreligion. Sie waren Angelegenheit einer Gruppe geistiger Menschen. Der griechische Mensch, als einer aus der Masse, also als der wirkliche und wichtige Träger der Religion, war seinem halben Zweifel an der Existenz der Götter und seiner halben Verzweiflung an ihrem Wert, ihrem Nutzen und ihrem göttlichsten Attribut, der Gerechtigkeit, schonungslos ausgeliefert. Seine wirkliche religiöse Begabung bestand in der Fähigkeit, religiöse Unruhe zu empfinden. Diese Haltung des griechischen Menschen war um so begreiflicher, weil schon seinen geistigen Führern, die doch über das Regulativ der Einsicht und der Erkenntnis verfügten, letztlich nur noch die Kraft zum Anklagen, zur Resignation und zum Nihilismus blieb. Von Theognis über Sophokles bis Euripides und Hippokrates geht die Linie des Zweifels, des Sophismus und der Resignation. Die erschütternde Aussage des Chors im Ödipus zwingt noch heute, diese Verzweiflung nachzufühlen: »Wie soll der Mensch in solcher Zeit die Brust vor Frevelmut bewahren? Wenn solches Handeln Ehre bringt, was tanzen wir noch vor den Göttern?« 129

Von hier aus begegnen sich in dem Griechen und dem Juden die Auflösung der Götterwelt und die Konsolidierung der Gottwelt.

Alle diese Differenzen erzeugen zusammengenommen eine Verschiedenheit, die bei der Begegnung von Völkern besonders in die Augen springen muß: die Verschiedenheit der inneren und der äußeren Lebensform. Über den Einfluß des Glaubens auf die Lebensform von Gemeinschaften braucht nichts Besonderes gesagt zu werden. Der griechische Mensch empfing wohl aus seiner Götterwelt entscheidende Einflüsse auf sein Tun und Lassen, aber er konnte von ihnen, da sie so zerrissen, so zwiespältig, so durchaus ihm und allen seinen Instinkten ähnlich waren, kein Regulativ empfangen. Die Lebensform des Judäers, im privaten wie im öffentlichen Zusammenhang, war Dienst an der Idee der Sichbewährung vor dem göttlichen Auftrag. Wem diente letztlich der Grieche? In jeder Form und in jeder Verkleidung: sich selbst; sich selbst in seiner Lebensfreudigkeit, seiner Not, seiner Heiterkeit, seinem Kunstwillen, seinem tiefen Denken und seiner tiefen Ohnmacht vor dem Sinn der Welt und des Lebens. Was ihn regulierte und hemmte, war außer der Dämonen- und Gespensterfurcht nur der Machtbereich des Nebenmenschen, der gleichfalls sich selbst diente. An ihn wurde kein sittliches Gebot, keine Forderung zur Eingliederung in die Interessen des Nächsten und der Gemeinschaft gestellt. Darum besaß der Grieche weder eine Ethik noch eine Moral.

Dieses Volk der subtilen, geschliffenen Denker, dieses Volk einer unerhörten wissenschaftlichen Aktivität, dem in seinen besten Geistern über dem Tun und über dem Ding immer die Idee des Tuns und die Idee des Dinges stand, hat nicht die Kraft und die Möglichkeit gehabt, die Idee einer ethischen Wirklichkeit zu begreifen. Sie besaßen eine ungewöhnliche Begabung für die Harmonie des Leibes, der Sprache, der Bewegung des Raumes, der Form. Sie besaßen nicht die Spur 130 einer Begabung für die sittliche Harmonie. Daß einige ihrer Denker den Sinn einer persönlichen und sogar einer sozialen Ethik erkannt hatten, hinderte nicht, daß die Amoralität einen entscheidenden Charakterzug des griechischen Menschen bildete. Durch nichts gebunden und verpflichtet, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Dekalog hatte, konnte ihre Sprache nicht einmal ein besonderes Wort für das ausbilden, was sittlich verwerflich ist. Es kommt hier nicht darauf an, über Moral zu räsonieren, sondern festzustellen, daß die Judäer, das Volk des stärksten moralischen Bemühens, dem Volke begegnen, das für das gesamte Altertum der Prototyp der Verlogenheit, Grausamkeit, Verleumdungssucht, Hinterlist, Faulheit, Eitelkeit, Bestechlichkeit, Habgier und Ungerechtigkeit war. Die Griechen sind das inhumanste Volk der Antike gewesen. Ihr aus dem Geschmack, dem Wissen, dem Intellekt gewiß begründeter Hochmut gegenüber den »Barbaren« hinderte sie nicht an der wildesten Barbarei in der Behandlung von Gegnern und Ländern, sei es fremden, sei es stammesverwandten. Die Eigenschaften, die ihnen ein Sokrates predigte und mit denen er die zwar ungemein farbige und brillierende, aber gänzlich orientierungslose Form des griechischen Lebens auffangen wollte: Tugend und Vernunft, blieben ihnen versagt.

Im übrigen fand die Begegnung der beiden Völker noch unter einem besonderen Aspekt statt, der in der zeitlichen inneren Situation des Griechentums begründet war. Das Hinaustragen der griechischen Kultur aus der Geschlossenheit des heimatlichen Bezirks in die Welt des gesamten Orients war zwar ein Zeichen der Fülle, aber es war eine nervöse, gereizte, labile Fülle, keine Fülle der Kraft und Sicherheit. Es war eine Explosion der Unruhe, nicht eine gelassene Ausbreitung schöpferischer Kraft. Den Judäern, die immer noch in einem mühevollen, oft harten und glanzlosen Aufbau ihrer Existenz und ihrer Formen begriffen sind, begegnet der Grieche, der 131 Hellene, als übersättigter, überreizter, nihilistischer Mensch mit allen Anzeichen der Ermüdung und der Dekadenz. Sie hatten tausend Dinge in die Welt hineingedacht und geformt und erlebt. Die Welt hatte ihnen nichts zurückgegeben, weil der Himmel sich ihnen versagt hatte. Und da sie aus der Unruhe und aus der Unverbundenheit mit einer wahrhaften Gläubigkeit den Himmel einrissen, mußte auch die Erde unter ihren Füßen zerbrechen. Daß sie in dieser Situation einem Volke mit einer gelassenen, zuweilen hölzernen und skurrilen Sicherheit des inneren Besitzes begegneten, Barbaren ohne Skulptur und Lebensart, mußte ihrer Verachtung notwendig einen Einschuß von ohnmächtigem Zorn geben. Aus dieser Haltung des Hellenen mußte folgerichtig das antijüdische Gefühl, der Antisemitismus, geboren werden.

Alle diese Feststellungen sind ohne Werturteil gemeint. Die griechische Kultur konnte, gerade als sie dem Judaismus begegnete, zwar Weltkultur werden. Aber sie vermochte diese eine Kultur, die judäische, die ihr in Palästina und in der ägyptischen Diaspora entgegentrat, nicht zu erobern und aus ihrer Position zu verdrängen. Darum rannte sie, auf ihre überlegene militärische und wirtschaftliche Macht gestützt, mit einem Unmaß von Hohn, Lüge und Grausamkeit dagegen an. Sie ist gleichwohl der unterlegene Teil geblieben.

Das Zusammentreffen des hellenischen und des judäischen Kulturkreises erschöpft sich nun nicht etwa im Angriff des einen und in der Verteidigung des anderen, um zum Schluß den Status quo zu hinterlassen. Wenn Kulturen sich begegnen, muß selbstverständlich etwas daraus entstehen. So bleibt auch der Jude von dieser Begegnung nicht unberührt. Dadurch, daß die griechische Lebensform ihm nicht nur auf Schritt und Tritt begegnete, sondern ihm auch durch nackte Gewalt aufgedrängt werden sollte, wurde in ihm ein Widerstand ausgelöst, der logisch zu Ende gedacht wurde. Da alles das, was für den gemeinschaftsunfähigen Griechen nur Formproblem 132 des Einzelnen oder bestenfalls einer Summe von Einzelnen ist, von dem Juden immer gleich auf die Gemeinschaft als solche bezogen wird, wird ihr eigenes Formproblem: Theokratie oder weltlicher Staat, noch einmal zur Entscheidung und Nachprüfung gestellt, noch einmal einem leidenschaftlichen Austrag anheimgegeben. Bisher handelte es sich um die Bewährung des theokratischen Systems innerhalb des eigenen Umkreises. Durch den Widerstand gegen die gewaltsame Gräzisierung wird die Frage der Bewährung der Theokratie in einer anders gearteten Umwelt praktisch. Es siegte letztlich der Geist der Religion, aber die weltlichen Elemente der unter dem Einfluß der griechischen Kultur eingesetzten Entwicklung gingen dabei nicht verloren. Insbesondere die ägyptische Diaspora hielt sie am Leben. So empfing das Judentum bei Wahrung seiner Eigenart vom Griechentum den Zugang zur Weltlichkeit und konnte von da aus über den Bestand des Griechentums hinaus sich die zeitliche Dauer in der Welt sichern.

Der erste Angriff des Griechentums, von Ägypten her importiert, wirkt in Judäa zunächst ohne aggressive Tendenz, lediglich durch die Tatsache der Anwesenheit griechischer Lebensform. Die Reaktion darauf durchläuft alle Grade, von der leidenschaftlichen Ablehnung über das wohlwollende Interesse bis zur begeisterten Zustimmung und zur Nachahmung griechischer Sitten. Es geht dabei von allem Anfang an schon ein unbewußter Zug zur Entscheidung und Sonderung durch das Volk; es entsteht schon der Keim für die Parteien, die sich später so bitter bekämpften. Während sich auf der einen Seite die Zahl derer mehrt, die sich zu der nasiräischen Lebensform aus der Zeit des Propheten Elijahu bekennt und die sich selbst die Strengfrommen, die Chassidäer nennt, entsteht um den Steuerpächter Tobias ben Joseph der Kreis derer, die in der Art des Griechen, sein Leben zu gestalten und zu genießen, ein schönes und wünschenswertes Ziel erblicken. Das bedeutet 133 hier selbstverständlich mehr als nur die Annahme fremder Gewohnheiten, und das ist von den Judäern auch klar erkannt worden. Es bedeutet hier ein Sichbekennen zu dem Sinn, den diese Sitten in sich tragen, und die Aufdeckung einer Differenz, die diese Formulierung hat: verpflichtendes oder unverpflichtendes Leben, das Hingeben der Interessen für das Nichts oder für das Etwas, die Wendung des Geistes zum Ich oder zum Du.

Für die wirklich in der Theokratie lebenden Menschen war hier die Frage nach der Berechtigung eines solchen Lebensgenusses gestellt. Sie selber waren ja in allen, auch den geringsten Lebensäußerungen, auf die Enthaltsamkeit verwiesen, und zwar nicht aus der Askese, sondern aus dem biblischen Begriff der »Reinheit« und der »Heiligkeit«. Wenn man hinzunimmt, daß auch bei den Judäern, die sich wegen ihrer Sympathien stolz jüdische Hellenisten nannten, die Nachahmung der griechischen Sitten notwendig eine unvollkommene sein mußte (weil man schließlich eine fremde Art, die organisch zu Entwicklungsgang und Eigenschaften eines Volkes gehört, nicht einfach übernehmen kann), so wird um so mehr begreiflich, daß in der Masse des Volkes sich die Widerstände zu ungeahnten Energien zusammenballen mußten. Es wurde richtig erkannt, daß die Nachahmung griechischer Sitten ein Doppeltes bedeutete: Aufgabe der verpflichtenden Lebensart und damit Auflösung einer der entscheidenden Bindungen an das jüdische Volkstum, sodann, soweit religiöse Momente in Frage kamen, Rückfall in ein Magiertum, in eine längst überwundene Stufe geistig-religiöser Entwicklung.

 


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