Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Mosche

In den Mittelpunkt des Geschehens stellt der biblische Bericht die Gestalt des Mosche, zu deutsch: Moses. Er ist zweifellos eine historische Figur. Aber was ist er und was will er? Er ist kein Religionsstifter. Es gibt keine Religionserzeuger, so wenig wie es einen Revolutionserzeuger gibt. Es gibt immer nur den Menschen, der das verschlossene Gefäß sprengt, in dem die neuen Kräfte schon unter Druck stehen. Mosche ist auch nicht Volksbefreier. Kein Volk bricht in die Freiheit aus, wenn nicht in ihm von langer Hand schon alles für das Erlebnis der Freiheit vorbereitet ist. Aber Mosche war der äußerste, feinfühligste Exponent der Volkskräfte. Welche das sind, lehrt der historische Kern dessen, was über Mosche überliefert worden ist.

Von seinen persönlichen Eigenschaften heben die Quellen nur eine hervor: Sanftmut. Sanftmut ist Güte. Güte ist das Hauptattribut des freien und gerechten Menschen. Unfreiheit und Ungerechtigkeit sind verschwistert. Mosche, der Mann mit dem ägyptischen Namen, der den Hof von Memphis so genau gekannt hat wie seine eigene Stammesgruppe, sieht diese beiden verbündeten Feindseligkeiten in ihrer besonderen Ausprägung als Ergebnis einer Religionsform, fast als notwendige Attribute von Glaubensvorstellungen, die nicht die seinen und nicht die seines Volkes sind. Zu allem Anfang seines Weges muß diese erstmalige Erkenntnis von der Verschiedenheit der Auffassungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Glauben gestanden 18 haben. Zum ersten Male in der greifbaren Geschichte der Menschheit entsteht hier aus dem bewußten Vergleich die Erkenntnis, aus der Erkenntnis die Verpflichtung und aus der Verpflichtung die Zielsetzung.

Zweifellos war die ägyptische Auffassung von Welt und Gottheit schon sehr ausgebildet und kompliziert, während die Bne Jisrael über nicht viel mehr verfügten als über eine stark ahnungsmäßige Vorstellung, daß außer ihnen noch göttliche Kraft existiere, schlechthin das Walten einer Macht, von der ihr Geschick im Guten wie im Bösen abhängig sei. Aber in solcher Unbestimmtheit liegen unendliche Möglichkeiten. Mosche hat seinem Volk diejenige enthüllt, von der seine religiöse Kraft erspürte, daß sie die letzte und endgültige sei. Er hat ihnen ihren Gott benannt und ihn damit erkennbar gemacht. Gott rief Mosche, sagt die Quelle. Rief nicht vielmehr Mosche nach einem Gott? Es rief in ihm, daß der Mensch nicht Tier, der Freie nicht unfrei, der Hinaufblickende nicht der Kriechende werden dürfe. Indem er diese Unabhängigkeiten in eine heilige Abhängigkeit von Gott brachte, dokumentierte sich in ihm zum ersten Male der Begriff der Einordnung und Unterordnung in Freiheit, in Freiwilligkeit. Damit umriß er die Grundbegriffe der jüdischen Theokratie. Er ist der erste Mensch, dessen Idee eine Aktualität von 4000 Jahren besitzt.

Nichts tat er und nichts erdachte er, was seinem Volke nicht gemäß gewesen wäre. Sonst wäre es ihm nie gefolgt. Ein anderes ist es, ob sie sein Denken und Handeln, ob sie die Idee, die sie jetzt zu leben begannen, sogleich in ihrer ganzen Ausdehnung begriffen. Sie taten es nur zögernd und schrittweise; aber wie sie es taten, beweisen sie, daß sie den richtigen Weg einer organischen Entwicklung eingeschlagen hatten; und daß sie es überhaupt taten, beweist die endgültige Qualität Mosches als eines Führers kat' exochen.

Führerschaft ist der eigentliche Sinn seiner Persönlichkeit. Die Quellen nennen ihn einen Propheten. Auch das ist richtig, 19 denn in seinem Denken und Handeln ist die vorausblickende Schau. Der Augenblick, in dem schweifende Völker seßhaft werden, entscheidet über ihr kulturelles Schicksal. Im Entwicklungsgang der Bne Jisrael war der innere Trieb zur Seßhaftigkeit und damit der Beginn ihres kulturellen Geschicks überreif geworden. Aber Mosche erkennt: so, wie der Beginn jetzt gemacht ist, in Gosen und unter seinen örtlichen und geistigen Bedingungen, muß die Entwicklung notwendig fehlerhaft werden. Darum unterbricht er den Siedlungsprozeß. Er reißt das Volk von der kaum erworbenen Scholle fort. Er macht sie willig dazu, indem er ihnen ein Ziel setzt: Landnahme in Kanaan. Eine scheinbar einfache Lösung, denn zahllose andere Semiten- und Hebräergruppen hatten dort gesiedelt. Aber eben diese fortgesetzten Siedlungen hatten das Land überfüllt. Jede neue Siedlung mußte auf Gewalt und kriegerischen Einbruch begründet werden, bedeutete Kampf gegen engere und weitere Stammesgenossen. Gerade diesen Kampf setzt er ihnen als Aufgabe. Er gibt ihnen auch die Begründung: das altererbte Recht der Vorfahren. Es verschlägt nichts, daß die tatsächlichen Verhältnisse in Kanaan dieses Recht längst überholt und illusorisch gemacht haben. Gegen die Tatsachen spielt er eine Idee aus: ein eigenes, unabhängiges, isoliertes Dasein unter einem eigenen, von allen anderen Gottheiten verschiedenen Gotte leben und entwickeln.

Unmöglich, daß das Volk diese Idee sogleich ganz begreift. Aber daß es die Eignung dazu in sich hat, beweist es dadurch, daß es seinem Führer folgt. Es zieht mit ihm in die benachbarte Sinai-Wüste. Dort, in einem der Hochtäler, die von lange her Stätten lokaler Kulte gewesen sein müssen, gibt er ihrem Ziel den Sinn einer Sendung durch die Entfaltung eines grandiosen religiösen Symbols: durch die Schließung eines Bundes mit ihrem Gott.

Wer war dieser Gott? Wie begriffen sie ihn? Die Antwort muß lauten: sie begriffen ihn gar nicht. Die Juden haben nicht 20 explosiv einen Gott aus sich geschaffen; sie haben ihn über viele lichte Höhen und durch viele dunkle Tiefen mühsam und leidvoll aus sich herausgelebt, durch nichts anderes als die Tatsache, daß sie immer von neuem sich zum Menschlichen hinneigten und aus der Summierung aller Erlebnisse und Erfahrungen zu der Erkenntnis vordrangen, daß das nackte Leben an sich, auch wenn es jede Befriedigung und jeden Wohlstand verschafft, nicht Selbstzweck sein könne. Die Möglichkeit, das zu ahnen, hatten sie schon am Sinai. Darum trägt das, was ihnen dort als Norm ihres Verhaltens verkündet wurde, zunächst einmal das Gepräge ethischer Vorschriften, den Sinn von Anweisungen, die den Vorgängen des täglichen Lebens einen geistigen Grund geben; mehr noch: sie unter eine sittliche Verpflichtung stellen. Die Zehn Gebote (der Dekalog) und das »Bundesbuch«, auf die sie sich damals verpflichteten, waren nicht in jeder Einzelheit etwas schlechthin Neues und Originelles. Sie tragen zum Teil Übereinstimmung und Ähnlichkeit mit dem Kodex des babylonischen Königs Hammurapi und ähneln hier und da Formulierungen aus dem ägyptischen Totenbuche des XVI. Jahrhunderts. Aber in Zielsetzung, Ausprägung und Nutzanwendung ist es ihr freies Eigentum. Während noch im ägyptischen Totenbuch die Seele des Abgeschiedenen sich vor dem Gotte Osiris verteidigt: »Ich habe nicht getötet«, brechen aus dem Dekalog die Imperative des sittlichen Verhaltens: Morde nicht! Buhle nicht! Stiehl nicht! Ehre Deinen Vater und Deine Mutter! Begehre nicht das Haus Deines Genossen! Und zu alledem kommt ein Gebot von atemberaubender Wichtigkeit: die Heiligung des siebenten Tages, die Einfügung einer Zäsur in den Ablauf der Alltagsfron, die grundsätzliche Überwindung des Fluches der Arbeit durch das Recht auf Feier und Besinnlichkeit, die Grundlage einer unsterblichen Idee.

Das alles sind Anfänge. Aber sie bekommen ihre entscheidende Entwicklungsmöglichkeit durch einen weit vorausgreifenden Gedanken, dessen Geburtsstunde die Symbolhandlungen 21 am Sinai sind und der das Gesicht der Welt gewandelt hat: durch die Proklamation eines einzigen, nicht sichtbaren und nicht bildlich darstellbaren Gottes. In einer Welt der vielen Götter und Gottheiten entläßt das Judentum aus sich den Monotheismus als Idee und zugleich als Ziel seiner Entwicklung. Damit sind die Bne Jisrael für alle Zeiten aus den umgebenden Völkergruppen abgesondert. Der Isolierungsprozeß hat einen weiteren, entscheidenden Schritt getan.

Wir können uns nicht dazu entschließen, ein präzises, persönliches, göttliches Walten vorauszusetzen. Wir können nur aus dem Ablauf der Tatsachen einen Sinn abstrahieren. Einen Sinn in seiner Bedeutung als: innerer Grund. Gott hat nicht dieses Volk und diesen Sinn des Volkes gewollt. Das Volk wollte diesen Gott und diesen Sinn. Sucht aber einer zu erklären, woher menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften, woher Bemühungen und Zielsetzungen überhaupt kommen, landet er entweder beim toten Wort oder bei einem Begriff von Gott. So schließt sich der Kreis.

 


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