Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Austreibung aus dem Westen

Das christliche Abendland, mit Italien als der einzigen Ausnahme, hat gegenüber dem jüdischen Problem, das sich ihm darstellte, keine andere Lösung gefunden als die, die Träger, die Objekte des Problems zu vertreiben. Am Ende des 13. Jahrhunderts vertreibt England seine Juden, am Ende des 14. Jahrhunderts Frankreich, am Ende des 15. Jahrhunderts Spanien und Portugal, und in der ganzen Zwischenzeit ist Deutschland der Schauplatz freiwilliger und erzwungener Auswanderung.

Immer ist es ein Komplex von Gründen, nie ein präziser Einzelgrund, der diese Vertreibungen verursacht. Aber deutlich in ihrer Verknüpfung bleiben zwei Faktoren: der Glaube und die Wirtschaft; und diese beiden Faktoren sind wieder unter sich unlösbar verbunden. In zahllosen Fällen lassen sich die religiösen Skrupel durch Geld beschwichtigen, und in ebenso vielen Fällen maskiert sich der wirtschaftliche Grund mit Argumenten des Glaubens. Unter allen Umständen aber gibt es eine radikale Lösung des Problems, die auch überall in gleicher Weise von der Umgebung angestrebt wird: den Übertritt des Juden zum Christentum. Von Paulus bis Martin Luther geht dieses fanatische Missionsbestreben durch alle Grade der Überredung und Gewalt. Aber nicht allein der Jude wurde davon betroffen, sondern auch jeder von der offiziellen Lehre abweichende Christ und jeder Andersgläubige, der unter die christliche Herrschaft fiel. So stellt sich das jüdische Schicksal in 391 dieser Zeit, von der passiven Seite aus gesehen, von neuem dar als ein politisches Problem der christlichen Umwelt. Eine andere Ausdrucksform für die Herrschaft als die der Machtanwendung gab es nicht. Und selbst um die armseligen Ergebnisse der Macht nicht zu verlieren, muß die Macht sich selber steigern bis zu einer Grausamkeit, die man heute als Sadismus, jedenfalls als eine schwere psychische Erkrankung bezeichnen würde. Das demonstriert die Inquisition, die als Organisation das letzte Machtmittel der katholischen Kirche und als System die letzte Möglichkeit menschenwidriger Behandlung darstellt.

Die Vertreibung der Juden aus England ist bereits dargestellt worden. In den letzten Nöten der Bedrückung und Ausweisung entfaltete sich die Werbung der »Predigenden Brüder« und konnte eine, wenn auch geringe Ernte für die Kirche einbringen. Frankreich hatte ein gleiches Ergebnis aufzuweisen, nur daß an Stelle des indirekten der direkte Zwang trat. Was für England der große Franziskaner Johannes Duns Scotus, wegen seiner subtilen Geistigkeit »doctor subtilis« genannt, vorschlug: den Juden ihre Kinder mit Gewalt wegzunehmen und sie zu taufen, fand auch in Frankreich Anklang. Dort entsteht von neuem eine Judenfrage. Die Austreibung der Juden im Jahre 1306 hatte sich nämlich nicht bewährt. Die Einziehung der jüdischen Forderungen war so schwierig, daß Philipp der Schöne sich Juden zur Unterstützung kommen lassen mußte. Seine Art der Eintreibung war so rigoros, daß das Volk sich die jüdischen Gläubiger zurückwünschte, zumal es ihm an dem für die Wirtschaft nötigen Kredit fehlte. Auch die Staatskasse war leer. Darum begann Ludwig X. schon 1315 mit den vertriebenen Juden in Verhandlungen zu treten. Sie verlangten Garantien. Es kommt ein eigenartiger Vertrag zustande, bemessen auf 12 Jahre mit einjähriger Kündigungsfrist. Die Juden bekommen freies Recht der Niederlassung, des Handels und des Gewerbes, ein Neuntel der noch nicht vom König eingezogenen Außenstände, ferner die ihnen abgenommenen 392 Bücher, mit Ausnahme des Talmud. Synagogen und Friedhöfe, soweit sie noch vorhanden sind, können sie zurückkaufen. Aber sie müssen auf Disputationen mit Laien verzichten. Die Rückberufung der Juden entsprach gemäß dem Inhalt des Vertrages der »commune clamour du peuple«, der allgemeinen Volksstimme.

Es ist grotesk und zugleich erschütternd, daß so etwas wahr sein kann und daß zugleich diese clamour du peuple, wird sie nur richtig aufgerufen, das Mordgeschrei anstimmt. Es ist eben niemand da, der ihnen zeigt, wo der Weg zwischen Mensch und Mensch verläuft. Es sind nur Kräfte da, die ihrer unwissenden Ruhelosigkeit ein Objekt zeigen.

So entlädt sich von neuem auf den Juden, der mühsam und kümmerlich eine neue Existenz aufbaut, alles, was im Volk an wildem Aberglauben, religiösem Fanatismus, wirtschaftlicher Not und an panischer Angst vor äußerem Unglück vereinigt ist. Es versteht sich, daß Ritualmordprozesse und solche wegen Hostienschändung fortdauern und mit Verbrennungen enden. Sie werden aber in dieser Zeit zum Ausgangspunkt einer Reihe von Katastrophen, die hätten vermieden werden können und die nicht vermieden zu haben das Schuldkonto der christlichen Kirche ungeheuer belastet.

1320 verbreitet sich das Gerücht, Philipp V. werbe zu einem neuen Kreuzzug. Gleich sind alle Unruhen und Erregungen wieder da, die das Volk vor solchen Unternehmen empfindet. Ein junger Hirte erzählt den Bauern, ihm sei eine Jungfrau erschienen und habe ihm aufgegeben, ein Heer zu sammeln. Und er sammelt ein Heer: aus Hirten, Bauern, Landstreichern, Bettlern. An die Spitze dieses Heeres, der »Pastorellen«, stellen sich zwei aus der Kirche ausgestoßene Geistliche. Es wird ein »innerer« Kreuzzug, der sich in Südwestfrankreich gegen die Juden austobt, sie massenweise erschlägt (soweit sie es nicht, wie in den deutschen Kreuzzügen, vorziehen, sich selbst zu töten), ihnen die Kinder stiehlt und sie zu Christen macht und 393 120 Gemeinden zur Strecke bringt. Papst Johann XII. greift erst ein und läßt die »Kreuzfahrer« zerstreuen, wie ihr Rauben und Morden auch für die Geistlichkeit und den Adel gefährlich zu werden beginnt.

Zur gleichen Zeit sind Epidemien im Lande, vielleicht die Vorläufer des »Schwarzen Todes«. In Südfrankreich erkranken und sterben Menschen nach dem Genuß von Wasser aus Brunnen und Flüssen. Das Volk begreift nur einen Grund: das Wasser ist vergiftet. Wer kann das getan haben? Man verfällt auf die Aussätzigen, die weit draußen vor den Städten ein elendes Leben führen. Man fängt einige und foltert ihnen das Geständnis ab, Brunnen und Flüsse vergiftet zu haben. Man foltert weiter, bis man den Beweis der eigenen Vermutung hat: die Juden haben sie dazu angestiftet. Die Kette der Beweise wird geschlossen durch die Produktion gefälschter Briefe, nach denen maurische Fürsten aus Granada und Tunis den Juden Geld und Gifte geschickt haben, um die Christen auszurotten. Auch die Juden gestehen auf der Folter und werden der verdienten Strafe zugeführt. Allein in Chinon werden 160 Brunnenvergifter verbrannt. Im ganzen erlitten an die 5000 Juden diesen Tod. Da das Vermögen der Verurteilten dem Staat zufällt, ordnet der König in Tours eine genaue Nachprüfung an. Das Urteil lautet: die Anklagen sind völlig unbegründet. Daraufhin wird den Juden eine Geldstrafe von 150 000 Livres auferlegt. Auch ihre Unschuld verdient Strafe. Die Einziehung dieser gewaltigen Summe treibt die Mehrzahl der Juden aus dem Lande (1322).

Das war ein unerwünschtes Ergebnis, besonders für die Staatskasse, die durch den englischen Sukzessionskrieg erschöpft war. Das Volk, übermäßig ausgebeutet, ist in Aufruhr. (Die Jacquerie.) Der Dauphin, später Karl V., sieht die Rettung in erneuter Zulassung der Juden. Der Vertrag, der mit ihnen abgeschlossen wird, charakterisiert ihre Lage und Lebensbedingungen: sie dürfen für 20 Jahre zurückkommen, um den 394 verrotteten Finanzen wieder aufzuhelfen. Dafür gewährt man ihnen das Recht auf Handel und Kreditgeschäfte und verspricht ihnen Schutz gegen die Willkür königlicher und richterlicher Beamten. Es wird ein gardien général des juifs zu diesem Zwecke eingesetzt. Im übrigen sind die steuerlichen Belastungen von Anfang an so schwer, daß nur sehr reiche Juden sich den Luxus der Rückkehr leisten können, und angesichts der Leistungen, die von ihnen für den Staat verlangt werden, bleibt nur das nackte Wuchergeschäft als Mittel, sich zu erhalten. Daneben preßt die Regierung das Volk aus, daß es endlich in Paris revoltiert und den Staatsschatz beraubt. Im Anschluß daran wird das Judenviertel überfallen. Viele Juden werden ermordet und viele jüdische Kinder zwangsgetauft. Die Juden verlassen in Scharen Paris. Der Rest steht unter dem steigenden Druck von Steuern und der Hetze des Klerus. Da sie aber unter diesen Umständen keinen ausreichenden Gewinn mehr abwarfen, wurden sie wegen »Vergehens gegen den heiligen Glauben und Mißbrauch der Privilegien« im September 1394 aus den königlichen Provinzen Frankreichs ausgewiesen. Verschont blieben nur die Dauphiné, ein Teil der Provence und das päpstliche Avignon. Hierhin flüchtet ein Teil der Auswanderer, der Rest nach Savoyen, Italien, Deutschland und Spanien. Aber das sind unständige Aufenthalte. Wie die Dauphiné Frankreich angegliedert wird (1456), wandern die Juden freiwillig aus. In der Provence, in der uralten Judensiedlung schon aus gallischen Zeiten her, bewirkt der Zustrom einen verschärften wirtschaftlichen Kampf mit der Umgebung, besonders in Marseille. Die Geistlichkeit tut das ihrige. Sie betreibt unter den Immigranten eifrige Mission, verbunden mit Wegnahme und Zwangstaufe jüdischer Kinder. Die Abtretung des Landes an Ludwig XI. und die Einbeziehung in den Geist der französischen Kronlande wirkt sich alsbald in Massenausschreitungen aus, der viele Einzelne und Gemeinden zum Opfer fallen. Die freiwillige Auswanderung setzt ein. Den Rest weist Karl VIII. 395 (1496) aus, nachdem er sie durch Erlaß der christlichen Schulden wirtschaftlich ruiniert hatte. Damit ist Frankreich bis auf weiteres judenrein.

Auch das, was sich in dem gleichen Zeitraum in Deutschland abspielt, tritt nach außen und den Juden gegenüber mit einer Brutalität, Dummheit und Barbarei auf, daß es dem historisch Betrachtenden fast den Blick auf die Ursache verstellt: auf die Fieberstimmung des mittelalterlichen Menschen, der eine Zeit zu Ende gehen spürt, ohne für eine neue Zeit, für die Neuzeit, gerüstet zu sein. Aber alle Erkenntnis von diesem unbewußten Ringen, alles Verständnis für die Krankheitssymptome einer der Auflösung anheimgegebenen mittelalterlichen Denk- und Lebensform befreit den Juden nicht von der Feststellung, daß die Schmerzen solcher Geburtswehen, die ihn nichts angingen, sich gegen ihn entluden, ihm zum Schicksal wurden, ihm eine schaurige Wirklichkeit bedeuteten und in seiner Seele die Spuren einbrannten, die zu verwischen man ihm dann selber überließ und die nicht völlig verwischen zu können ihm die Erben jener mittelalterlichen Menschen zum Vorwurf anrechnen.

Der Jude im Deutschland des 14. und 15. Jahrhunderts steht in der unlösbaren Kette von Druck und Gegendruck. Immer ungezügelter toben sich gegen ihn die suchenden Instinkte der Umgebung aus. Immer von neuem müssen sie dagegen den Schutz ihrer »Vormünder«, der Könige, anrufen. Immer höher lassen sich die Herrscher ihr von Rom ererbtes nobile officium bezahlen. Von allen Ständen und Zünften ausgeschlossen und doch in einer primitiven Wirtschaft noch als Kreditgeber notwendig, bleibt ihrem Beruf, dem Geldhandel, nur die Form des Wuchers übrig. Gegen den Wucherer richtet sich der Haß derer, die gegenüber der Unzulänglichkeit ihrer eigenen Wirtschaftsform beim jüdischen Kredit Zuflucht suchen mußten. Diese fortgesetzten Entladungen eines undifferenzierten Hasses treiben den Juden immer weiter in die Absonderung und Isolierung, und diese Isolierung läßt den Argwohn und das 396 Mißtrauen, die abergläubische Furcht und die beschränkte Gutgläubigkeit der Umgebung in wilden Hetzen explodieren. Es ist ein geschlossener Kreis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Alles, was geschieht, muß der Jude wehrlos über sich ergehen lassen. Nirgends findet er Zuflucht als in seinem Glauben, und er macht ihn, wie er sich tiefer und tiefer hineinwühlt, hineinverkriecht, aus der einstmaligen Klarheit zu einem Irrgarten, zu einem talmudischen Labyrinth. Jetzt bewährt der Talmud eine seiner stärksten Funktionen, und um dieser Funktion willen ist alles, was in ihm enthalten ist, tausendfach und gegen jeden Widerspruch gerechtfertigt: der Talmud wird der psychische Rückhalt des Juden gegen die übermäßige Verunglimpfung durch die christliche Kirche und gegen die übermäßigen Roheitsexzesse einer in Gährung begriffenen Umwelt. Wenn die Umwelt ihn verneinte, fand er sich im Talmud immer von neuem bestätigt und bejaht. Der nackte Raum zum Leben, draußen verwehrt, wird in die vier Wände verlegt. Und da sitzt das Volk, mit einer Lehre, die das Leben abriegelt, verengt, umschnürt, aber in seiner Verengung noch mit einer tragischen Unerschütterlichkeit der Hoffnung und des Selbstgefühls, in seinen messianischen Erwartungen vom Hauch der Zeitlosigkeit umwittert. War das Leben des Christen provisorisch in der Erwartung eines Himmelreiches, so war das Leben des Juden provisorisch in der Erwartung eines Gottesreiches. Mit gleichem Richtungssinn von der Idee her: welche weltentiefe Verschiedenheit in der Wirklichkeit!

In dieser Wirklichkeit sahen die Juden nichts, was nicht gegen sie gerichtet war. In Franken wüten die »Judenschläger«, Exekutoren eines inneren Kreuzzuges (1336). Im Elsaß sammelt der Schankwirt Zimberlin Leute mit einem »Armleder« um sich, um »Rache für den Gekreuzigten« zu nehmen. Verwüstung elsässischer Gemeinden, Selbstmorde und Zwangstaufen dauern 1337 und 1338 an, bis die feudalen Herren, selber bedroht, Halt gebieten. Zur gleichen Zeit bricht eine neue Epidemie der 397 Hostienprozesse aus, in Bayern, Österreich, Böhmen. Die geschäftliche Seite dieser Veranstaltungen wird gar nicht mehr bemäntelt. Ein Versuch Benedikts XII., durch eine nochmalige Untersuchung das Grundsätzliche dieser widersinnigen Anklage zu klären, scheitert am Widerstand des Klerus und der Stadtbehörden. Die Stadtbehörden ziehen daraus einen doppelten Verdienst: sie nehmen die Juden jeweils gegen hohe Zahlungen in Schutz und gewähren den Mördern gegen Zahlung Amnestie. Ein eindringliches Dokument der Zeit ist der Vertrag, den Ludwig der Bayer mit den elsässischen Städten wegen der Ermordung der Juden schließt: »Für den Verzicht auf alle unsere Ansprüche, die wir gegen sie wegen der Ermordung von Juden von Mülhausen oder der diesen zugefügten Verluste und Schäden geltend machen könnten, stellen sie uns tausend Pfund in alter Baseler Münze zur Verfügung. Um indessen den bezeichneten Bürgern die Aufbringung des von ihnen zu leistenden Betrages zu ermöglichen, überlassen wir ihnen das ganze Hab und Gut der in der Stadt ermordeten Juden: Haus, Hof, Pfänder und sonstiges Gut . . .« Auch andere Städte erhalten in dieser Weise Absolution.

Unter solchen Bedingungen nähert sich das Martyrium des Juden allmählich seinem Höhepunkt, wie sich neben der Epidemie des menschlichen Geistes eine andere, aus der Natur geborene über ihn entlädt. Der »Schwarze Tod« rast über Europa, das »große Sterben« an der Pest, die Krankheit, die so erschreckend in das Bild jenes europäischen Menschen, seines Geistes, seiner Lebensform, seiner religiösen Gebrochenheit, seiner Dumpfheit und seiner Panik sich einfügt. Sie kam vielleicht aus dem Orient und war vielleicht die Bubonenpest. Sie hielt keinen bestimmten Weg inne, sondern sprang schlagartig hier und dort auf, erlosch, kam wieder, tauchte in weiten Zwischenräumen auf, überschlug Städte und einzelne Häuser und war in dieser Ungewißheit des Erscheinens ebenso fürchterlich und Entsetzen erregend wie in der Ernte, die sie hielt: an die 398 25 Millionen Menschen. Eine Panik ergriff die Welt. Woher dieses Unheil? Sie ahnten mit ganz richtigem Instinkt, daß auch solche kosmischen Katastrophen nicht Zufall sind, sondern im Rhythmus irgendeines Geschehens stehen. Aber sie verlangten, um überhaupt etwas von dem Unglück begreifen zu können, nach einem faßbaren Kausalzusammenhang, nach einer Schuld. Sie fanden viele Gründe: die Sündhaftigkeit der Welt, die Stellung der Gestirne, die Verdorbenheit des Klerus und die Juden. Aber die Sterne kann man nicht zur Verantwortung ziehen, und für den einzelnen Geistlichen gilt, was Innozenz III. für sich und allen Klerus stabilierte: er ist als Träger heiligen Amtes sakrosankt, auch wenn er als Mensch das Verwerflichste tut. Hingegen sich selbst als den sündigen Menschen konnte man angreifen, sich selber strafen, sich selber Buße auferlegen. So wälzen sich Züge von Flagellanten durch das Land, religiös aufgewühlte Menschen, Exaltierte des Glaubens, Hysteriker, Bettler, Verbrecher, Geisteskranke, die sich bis aufs Blut geißeln und zur Buße aufrufen. Aber sie rufen auch auf zur Bestrafung des anderen Schuldigen, der so leicht und gefahrlos zu erreichen ist: des Juden. Wieder steht, wie so oft in der Geschichte der Religion, neben dem religiösen das erotische Moment. In dem Wüten gegen sich selbst ist es noch deutlich Selbstquälerei; aber in dem Wüten gegen den Juden wird es jetzt zur Bestialität.

Der Grund zur Judenverfolgung war schnell gefunden und noch schneller bewiesen. Die Juden haben Brunnen und Quellen und Flüsse vergiftet, um alle Christen auszurotten. (Vom »Schwarzen Tod« bis zu den »Weisen von Zion« ist ein Weg.) Man erwog nicht, daß die Pest auch wütete, wo es keine Juden gab, und daß da, wo es Juden gab, auch Juden an der Pest starben. Das begriff man nur in den nichtchristlichen Ländern, die von der Epidemie heimgesucht wurden. Unter den christlichen Ländern liefert den ersten Beweis der Herzog Amadeus von Savoyen. Er foltert den Chirurgen Belavigny so lange, bis er die Vergiftung des Wassers zugibt und darüber 399 hinaus die Zusammensetzung des Giftes. Es bestand aus einer Mischung von Schlangen, Fröschen, Skorpionen, Hostienoblaten und Christenherzen. Nach dieser Aufklärung werden massenweise Juden verbrannt. Als nächstes Land rächt die Schweiz das jüdische Verbrechen. In Zürich, Konstanz, Schaffhausen, Überlingen und anderen Städten am Bodensee werden Juden verbrannt, gerädert, gehenkt. Das Verfahren greift auf Deutschland über. Nur wenige Städte wehren sich gegen dieses Morden. In anderen dienen sie dazu, alte Differenzen auszutragen. So im Elsaß, wo unter den Parteien Streit herrscht über die Begleichung der Schulden, die durch die Ermordung von Juden entstanden sind. Eine Versammlung der Magistrate, des Adels und der Geistlichkeit beschließt (Januar 1349): die Juden sind vogelfrei; sie sind aus den elsässischen und rheinischen Städten zu vertreiben. Das geschieht. In Straßburg werden 2000 Juden in einen Holzverschlag getrieben und verbrannt. Das jüdische Vermögen wird unter die christlichen Bürger verteilt. In Colmar, Schlettstadt, Benfeld, Mülhausen, Oberehnheim werden Juden verbrannt, ihr Vermögen verteilt, die Synagogen zum städtischen Eigentum erklärt. Die Gemeinde Speyer wird fast vernichtet. In Worms werden alle Juden zur Verbrennung verurteilt. Sie verbrennen sich vorher in ihren Häusern selbst. In Mainz kämpfen die Juden, bis sie nicht mehr können. Dann verbrennen sich an die 6000 selbst. In Köln und Erfurt werden die Judenviertel vernichtet. In Frankfurt a. M. stecken sie ihr Viertel in Brand und werfen sich zu Haufen in die Flammen. So geht es weiter, durch ganz Bayern, tief in Deutschland hinein bis nach Breslau und Königsberg. Im ganzen sind bei Beendigung der Seuche fast 300 jüdische Gemeinden endgültig vernichtet und ihre Mitglieder erschlagen oder verbrannt. Ein Strom von Juden flüchtet nach Österreich, Böhmen und Polen. Es ist der Beginn der Räumung des Westens. Der Zug nach dem Osten setzt ein.

Im Osten bleiben die meisten Flüchtlinge, auch als nach 400 Beendigung der Epidemie dem Staate der jüdische Steuerzahler und dem Volke der Kredit fehlte und man daher vielerorts die Ausweisungen widerrief. Überall bewerben sich Städte, Feudalherren und Bischöfe um das Recht, »Juden zu besitzen«, das heißt: Leibeigene, die ihnen statt Naturalleistungen Geld liefern. In der Goldenen Bulle von 1356 wird den Kurfürsten das Recht auf Ausbeutung von Juden neben dem Recht auf Ausbeutung von Erz- und Salzgruben verbrieft. Die Bedingungen der Rückkehr übten geringen Anreiz. Sie durften keinen Grundbesitz mehr erwerben, waren beschränkt in Tätigkeit und Aufenthalt, hatten hohe Abgaben zu leisten und mußten selbstverständlich auf Ersatz des ihnen zugefügten Schadens verzichten. Den Sinn der erneuten Zulassung enthüllt das Statut des Magistrats München von 1400: »Die Juden dürfen sich mit nichts anderem als mit Ausleihen von Geld gegen Zinsen befassen . . .« So weit geht dieses Bedürfnis nach dem Besitz der jüdischen Hörigen, daß zum Beispiel der König Wenzel mit den Vertretern von 38 rheinländischen und schwäbischen Städten einen Vertrag schließt, wonach sie das Recht bekommen, Juden mit Gewalt an ihren Wohnort zu binden, und die Vertragsparteien sich gegenseitig die Auslieferung von geflüchteten Juden verbürgen. Dieses Privileg war den Städten 40 000 Gulden wert, die sie an Wenzel zahlten. (Ulm 1385.)

Die Fortexistenz der Juden in Deutschland ist unter solchen Umständen nur das Ergebnis eines Zufalles und zugleich eines blinden Heroismus, der in Wirklichkeit die Dumpfheit der Verzweiflung ist. Der Zufall drückt sich darin aus, daß jede Konstellation in der Umwelt jede mögliche Auswirkung auf die Juden haben konnte. Was das ausgehende 15. Jahrhundert in Deutschland an Geistigem erzeugte, was Reuchlin, Sebastian Brant, Thomas Murner, Hans Sachs sagten und sangen, was Adam Krafft, Martin Schongauer, Matthias Grünewald, Dürer formten und malten, was Thomas a Kempis und Nicolaus Cusanus philosophierten – stand gewiß im Zeichen schöpferischen 401 Menschentums; aber selbst das, was darin nicht rückwärtig gebunden, sondern zukunftweisend war, gestaltete und formte und milderte nicht um das geringste diejenige Wirklichkeit, die dem Juden zugänglich war. Er, als dem Alltag seiner Umwelt verhaftet, stand in einem fortschrittsfeindlichen Bürgermilieu, das engherzig und intolerant und einem sittlich überaus verkommenen Klerus anhänglich war. Von diesen Bürgern und diesem Klerus konnte jede feindselige Wirkung ausgehen, und sie ging von ihm aus, mit Hostien- und Ritualmordprozessen, mit Erpressungen und Ausweisungen, alles das in einem Umfange und mit einer Vehemenz, daß zu Beginn der sogenannten »Neuzeit« Deutschland nur noch einen geringen und zerstreuten Bestand an Juden aufzuweisen hat.

200 Jahre war dieser Vernichtungskrieg über sie hinweggegangen. Er hatte auch ihre geistige Existenz völlig in den Raum der Selbsterhaltung zurückgedrängt. Nicht die Spur schöpferischen Denkens ist nachzuweisen. Sie hatten genug zu leisten, um nur das Bewußtsein aufrechtzuerhalten, daß sie trotz allem ein in der Religion begründetes Volksleben zu führen hatten. Nur mit einem einzigen Gewinn gingen sie aus dieser Zeit hervor: sie lernten den verstärkten und vertieften Zusammenhang untereinander kennen. Niemand war auf der Welt, auf den sie sich verlassen konnten, als ihre eigenen Genossen. So verlassen und verstoßen ist nie ein Volk auf der Erde gewesen. Selbst der Paria hatte ein Stück Boden, auf dem er hauste. Der Jude hatte, auch wenn er heute alles besaß, nichts gesichert. Es ist die grauenhafteste Heimatlosigkeit, die je aus Ursachen der Geschichte und des Menschenherzens ihren Weg in die Wirklichkeit gefunden hat.

Am schärfsten und präzisesten tritt die Problematik so der Juden wie der nichtjüdischen Umwelt in diesen beiden Jahrhunderten in Spanien in die Erscheinung. Die subjektive Geschichtsgewalt, die die Juden dort unter den günstigen Lebensbedingungen des muselmanischen und anfangs auch der 402 christlichen Reiche entfalten konnten, erwies sich, als die christlichen Reiche (Aragonien, Kastilien, Portugal, Novarra) zur Ausbildung einer eigenen nationalen Politik und Wirtschaft übergingen, als belastet mit dem ewigen Mangel ihres Geschickes: der Heimatlosigkeit, der Fremdheit, dem Fehlen eines Rückhaltes in irgendeinem staatlichen Gefüge. Das ergab sich ganz deutlich, als der spanische Adel im Verein mit dem spanischen Klerus und unter seiner Leitung den »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen im Lande predigte. Da ging es an sich gegen die Juden und gegen die Mauren. Aber die Vorsichtigen unter den Christen begriffen, daß die Mauren immer noch in Granada und in Nordafrika eine tatsächliche Macht darstellten und daß sie, wenn ihren Volksgenossen in Spanien etwas geschah, sich zur Wehr setzen könnten. Darum rührte man den Muselmanen nicht an. Aber den Juden konnte man ohne jedes Bedenken anrühren. Man hatte von niemandem auf der Welt Repressalien oder auch nur Vorwürfe zu befürchten. Daher der heldenhafte Mut in diesem heiligen Kriege.

Zwar waren die Juden mit dem Wirtschaftsleben Spaniens sehr eng verbunden. Aber ihre wirtschaftliche Stärke trug eben doch die Belastung der Fremdheit, stand doch in Abhängigkeit nicht von der Wirtschaft als solcher, sondern von der Einstellung der Bevölkerung zur Wirtschaft. Was verstand der Spanier des 14. und 15. Jahrhunderts davon, was seiner Wirtschaft nützte und was ihr schadete? Nichts. Er begriff nur, wie er sich aus der Wahrnehmung seiner Interessen zu Ständen zusammenschloß, daß gegenüber diesen Standesinteressen jeder Landfremde das Feld zu räumen habe. Die Städte schlossen sich zu Verbänden, Hermandades, zusammen. Der Adel fand in den Cortes seine Interessenvertretung und seine ständische Repräsentation. Jene bekämpften die Wirksamkeit der Juden im allgemeinen Wirtschaftsleben, diese die Stellung des Juden in der Staatsverwaltung, in Finanz und Politik. Dabei war es gerade die Stellung der jüdischen Staatsfinanziers, die aufwies, 403 daß es ein einheitliches jüdisches Problem im Verhältnis zur Umwelt gar nicht mehr gab. Gewiß: die spanischen Könige brauchten die jüdischen Finanzminister. Selbst ein Judenschlächter wie Heinrich II. mußte die Regelung des Steuerwesens durch einen Juden besorgen lassen. (Was ihn nicht hinderte, Juden zwecks Geldbeschaffung als Sklaven zu verkaufen!) Auch Aragonien, das alle antijüdischen Kirchenkanons treu befolgte, hielt sich für die Ordnung seines Staatshaushaltes an den Juden. Aber die nicht zu leugnende Machtstellung solcher jüdischen Staatsbeamten ist eine völlig isolierte. Sie stehen nicht als Spitzenerscheinung in einer soziologischen Gemeinschaft, sondern bedeuten im Wettbewerb einer Minderheit um ihre Existenz innerhalb einer größeren Gruppe das schneller, besser, machtvoller Vorwärtsgekommen-Sein. Ihre Position ist also nicht die höchste Stufe einer Schichtung, sondern der Erfolg des Außenseiters. Die Juden in ihrer Gesamtheit hatten nichts von diesen Glücksrittern; nichts als das, was sie bis in unsere Gegenwart davon haben: die Belastung für ihre Verfehlungen.

So nähert sich die Stellung des spanischen Juden der des Juden in Deutschland: er wird Objekt eines Wirtschaftskampfes. Seine geistige Problematik, seine Auseinandersetzungen mit der von Maimonides eingeleiteten Bewegung, ist längst im reaktionären Sinn entschieden. Wie in Vorahnung der kommenden Ereignisse und unter dem Einfluß der aus Deutschland zugewanderten Rabbiner verfällt jede spekulative Theologie, zieht alles Denken sich in den Bereich der Gesetzesstrenge zurück, in den Talmud, der schon nicht mehr talmudisches Lehrgebäude ist, sondern Rabbinismus. Verpönt ist alles freie Denken. Ein Chasdai Crescas predigt ihnen, woran sich auch ein Mensch in äußerster Not klammern konnte und viele Tausende sich klammern mußten: zwischen der Vernunft, die das menschliche Gehirn erzeugt, und der Offenbarung, die vom Himmel gegeben wird, gibt es keine Verständigung und keinen Ausgleich. Die 404 Vernunft des Menschen hat sich dem Vernunftwillen Gottes zu fügen. Die Beziehung zu Gott liegt nicht in der intellektuellen Erkenntnis, sondern in der tätigen Liebe. Der sittlich vollkommene, nicht der geistig vollkommene Mensch kann näher zu Gott finden.

Solche Lehren waren nicht nur die Vorbereitung für die kommende Leidenszeit, sondern die Folge der Erkenntnis, daß der steigende wirtschaftliche Druck und der aus dem maimonidischen Gedankenkreis erwachsene Liberalismus eine Assimilation erzeugten, der nur durch vermehrte geistige Absperrung zu begegnen war. Diese geistige Enge, die aber zugleich geistige Beharrlichkeit ermöglichte, war auch der unfreiwilligen Assimilation gegenüber das einzige Mittel, gegenüber dem ständigen Versuch der Geistlichkeit, durch Mission und Propaganda und Disputation neue Christen aus den Reihen der Juden zu gewinnen. Denn wie Adel und Bürgerschaft sich ständisch organisierten und sich zum Angriff gegen den wirtschaftlichen und politischen Konkurrenten rüsten, begann auch der spanische Klerus sich in seiner Eigenschaft als Stand mit politischer Zielsetzung zu betätigen. In den Anfängen der Reiche Kastilien und Aragonien hatte er viel gegen den Widerstand der Könige zu kämpfen, die das Aufblühen der Staaten nicht kirchlicher Erwägung zum Opfer bringen wollten. Aber mit dem 14. Jahrhundert erobert sich der katholische Klerus allmählich die kastilische Gesellschaft und beherrscht in steigendem Maße Aragonien. Das ist auf keine religiöse Entwicklung zurückzuführen, sondern war die Fortsetzung der schon früher dargestellten Machtpolitik der Kirche. Nur hatte sich in Spanien leichter als in anderen abendländischen Reichen die Möglichkeit ergeben, das Internationale mit dem Nationalen zu verknüpfen, nach Rom zu tendieren und doch eigene Interessen der Herrschaft, der Politik zu vertreten. Die »Heilige Inquisition«, an sich schon ein Machtinstrument kirchlicher Politik, wird hier in Spanien ganz einfach Werkzeug im Kampfe eines 405 nationalen Standes, der sich, soweit diese seine Position in Frage kommt, in steigendem Maße von Rom unabhängig macht und sogar Rom die Stirn bietet.

Da es sich bei der klerikalen Politik um eine Mischung wirtschaftlicher, politischer, kirchlicher und religiöser Elemente handelt, konnte ihre Betätigung natürlich nicht so unkompliziert sein wie die der anderen Stände. Sie manifestierte sich in vielen Schichtungen; in den Konzilien als Faktoren der Gesetzgebung, am Hofe in der Tätigkeit als Berater und Beichtvater, in der Gesellschaft als Beeinflussung, Intrige und verwandtschaftliche Einwirkung, im Volke, unterirdisch oder mit hemmungsloser Offenheit, als Aufreizung der Instinkte, in den Missionen als Überredung und Verlockung, und endlich in den immer wieder erzwungenen Disputationen als Versuch, auf dem geistigen Schlachtfelde zu siegen.

Was alle diese einzelnen Betätigungen zusammenhielt, war die von der Geistlichkeit ausgegebene und vom Adel aufgenommene Parole des einheitlichen christlichen Spanien, eine vorweggenommene Monroe-Doktrin: das christliche Spanien den christlichen Spaniern. Es wiederholt sich die geistige Einstellung der westgotischen Zeit in der Idee und im Mittel. Die Geistlichkeit hatte aus dem produktiven Zusammenleben dreier Rassen und Religionen nichts gelernt. Was an Verständigung aus dem Menschlichen her zwischen Juden, Christen und Mohammedanern im Laufe von Jahrhunderten möglich gewesen war, ist durch ihre aktive und aggressive Politik immer wieder und mit allen Mitteln der kirchlichen und weltlichen Macht unterbunden und vernichtet worden. Vom Ausschluß vom Gottesdienst bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen mußte jede denkbare Strafe als Sühne für die Zwischenwirkung von Mensch zu Mensch dienen. Und gab es für die Idee vom einheitlichen Staat eine andere Motivierung als die, Herrschaft, Macht, Gewalt ausüben zu können? Acht Jahrhunderte muselmanischer Besetzung und acht Jahrhunderte Zusammenleben 406 mit ihnen und mit den Juden schaffen doch historische Fakten. Oder schaffen sie es nicht? Ist das Nationale, wenn es sich einem religiösen Prinzip unterordnet, jenseits aller realen Wirklichkeit? Das ist in der Tat der Fall, sobald eine Religion sich und ihr eigentliches Wesen verleugnet, um sich, statt im Glauben, im Herrschen darzustellen.

Das Streben nach dem Einheitsstaate wird so betätigt, wie es immer geschieht: nicht durch organische Einfügung des Abweichenden, sondern durch seine Vernichtung. Spanien predigt den »Heiligen Krieg« gegen Mauren und Juden im eigenen Lande. Es ist schon dargelegt, aus welchen Gründen man sich nicht an die Mauren wagte. Gegen die Juden wurde der Krieg mit der Parole »Tod oder Taufe« eröffnet. Sein Propagator ist Ferrand Martinez, Archidiakonus von Sevilla. Er predigt den Terror. Rom verbietet ihm diese Agitation. Er predigt weiter. Er wird zur Strafe seines Amtes entsetzt. Die spanischen geistlichen Behörden ernennen ihn zum Trost und als Belohnung zum stellvertretenden Erzbischof von Sevilla. In dieser Eigenschaft sendet er Rundschreiben an seine Diözese, die Synagogen zu zerstören und ihm die kultischen Geräte als Zeichen des Sieges zu bringen. Das geschieht an vielen Orten. Für Sevilla leitet er das Unternehmen selbst (März 1391). Es mißlingt, weil die Juden und die Stadtbehörden Widerstand leisten. Nach drei Monaten wird der Versuch wiederholt; dieses Mal mit vollem Erfolg. Eine Gemeinde von rund 30 000 Köpfen ist zerstört, darunter 4000 Tote, viele Zwangsgetaufte, viele »Gefangene«, die als Sklaven verkauft werden. Ein Rest kann sich durch die Flucht retten.

Nach diesem beispielhaften Sieg gibt Martinez weithin seine Kriegsorder: die Juden, die nicht Christen werden wollen, totschlagen. So wird es gehalten. Die Kriegsfurie führt dem Christentum neue Bekenner zu. Es wird in ungewöhnlichem Umfange geplündert. Viele Juden begehen Selbstmord. 70 Gemeinden werden vernichtet. Dann greift die Agitation nach 407 Aragonien über: Valencia, Barcelona, Gerona, Lerida, bis nach Mallorca. Auch da das gleiche Ergebnis: Tote, neue Christen, Selbstmorde, Plünderungen. Die Zahl der in diesem heiligen Kriege zum Christentum »Bekehrten« betrug einige Zehntausend.

Das war Politik. Aber das war zugleich Religion. Für eine historische Perspektive genügen die Elemente aus Zeit und Umgebung nicht immer. Dem Einzelnen wie der Gesamtheit wird doch eines Tages zugerechnet, auch was sie aus der Ungunst verfehlt haben. Vor dem Sinn des Weltgeschehens muß es ihnen zugerechnet werden. Dem Juden ist es stets zugerechnet worden, besonders von denen, die es sich nicht zurechnen lassen wollen.

Mit dem Teilsieg der spanischen Politik war allerdings ihr Endziel nicht erreicht. So wurde der Krieg fortgesetzt durch Zwangstaufen, Austreibungen und soziale Bedrückung. Der Dominikaner Vicente Ferrer zieht mit einer Schar Flagellanten durch Kastilien und Aragonien, predigt den »heiligen Haß« gegen die Andersgläubigen und zwingt in zahlreichen Städten die Juden durch den brutalsten Terror zur Annahme des Christentums (1412–1413). An die 20 000 Juden werden getauft. Zugleich setzt die Pression durch wirtschaftliche und bürgerliche Entrechtung ein. Der Rabbiner Salomo Halevi, 1391 getauft und in schnellem Aufstieg zur Würde eines Bischofs und Mitglied des Regentschaftsrates für den minderjährigen Juan II. gelangt, ist der geistige Urheber der »Ordonnanz der Donna Catilina«, einer Verordnung, die durch Abschluß des Juden von der Umgebung und durch Drosselung seiner wirtschaftlichen Freiheit ihn zu einem verarmten und verachteten Geschöpf macht. Das einzige Hilfsmittel, das dem Juden zur Verfügung stand, die Auswanderung, wurde in dieser Ordonnanz unterbunden.

Aber weder der heilige Krieg noch der heilige Haß vermochten die Folge zu vermeiden, die sich aus dieser brüsken Störung 408 der nun einmal entstandenen und bestehenden Lebensordnung ergab. Die einzigen, die wirklich davon profitierten, waren die Plünderer. Aber die Verarmung der Juden, ihre massenweise Abwanderung, ihr Verschwinden aus Handel und Industrie beseitigte eine unerwünschte Konkurrenz, ohne daß Mittel und Kräfte zur Verfügung standen, den Ausfall zu ersetzen. Viele spanische Städte, viele Industrien und Handelszweige sind ruiniert, und vor allem: die Staatskassen sind leer. Das macht es nötig, den heiligen Haß einstweilen zurückzustellen. Maria, die Reichsverweserin von Aragonien, sucht mit allen Mitteln und Versprechungen, die Juden im Lande zu halten. Kastilien setzt sie – unter Juan II. – wieder in ihre alten Rechte ein. Aber diese aus der Not geborene Restauration nützt weder den Juden, noch bewahrt sie Juden wie Christen davor, sich plötzlich vor einer Situation zu sehen, in der sich die Unbestechlichkeit und ausgleichende Gerechtigkeit des Weltgeistes enthüllt und darüber hinaus ein seelisches Phänomen von tragischer Wucht enthüllt.

Durch die politische Säuberungsaktion war der Bestand der spanischen Juden erheblich vermindert, zugleich aber war der spanischen Gesellschaft ein nicht unbedeutender Zuwachs an Bekehrten, Conversos, an Neuchristen beschert. Diese Conversos erschienen zunächst für das Volk und für die Gesellschaft als eine einheitliche Gruppe, in denen besonders Adel und Klerus Zeugen ihres Sieges erblicken und die sie darum in dem ersten Elan stolzer Genugtuung in ihre Kreise aufnehmen. Conversos betreten in Massen die offenen Türen, die in die spanische Gesellschaft und den spanischen Klerus führen; und wie es bald noch kaum eine Adelsfamilie gibt, die nicht mit jüdischem Blut durchsetzt ist, tauchen auch auf den hohen und höchsten Posten der klerikalen Organisation ehemalige Juden, Conversos, auf. Auch an den königlichen Höfen und in den Cliquen, in denen die Politik des Landes gemacht wird, tauchen sie auf. Das war an sich eine natürliche und normale 409 Entwicklung, ein Ergebnis, das ja gerade durch den heiligen Krieg und den heiligen Haß angestrebt worden war. Die Conversos waren gleichberechtigte Mitglieder der spanischen Gesellschaft geworden; aber in dieser Eigenschaft verloren sie keineswegs ihre Qualitäten von gestern. Sie hatten gestern ihre besonderen Fähigkeiten als Kaufleute, Industrielle, Finanziers und Politiker erwiesen. Sie erwiesen sie auch heute, nur mit dem Unterschied, daß sie das alles innerhalb und nicht außerhalb der spanischen Gesellschaft betätigten. Man hatte sie gezwungen, zu kommen. Man wollte dadurch einen gefährlichen Außenseiter erledigen. Jetzt saß er im neuen Hause. Das Problem war von außen nach innen verschleppt. Was hatte denn schließlich der Akt der Taufe bewirkt? War er etwa geeignet, die geistigen oder wirtschaftlichen Fähigkeiten zu ersticken? War er etwa dazu angetan, die Haltung der Nächstenliebe so hypertrophieren zu lassen, daß sie dem anderen keine Konkurrenz mehr machten? Hatte doch gerade das Christentum zur Zeit eines Vicente Ferrer geistig eine ungewöhnlich geringe Anziehungskraft. Die Taufe war nicht höher anzuschlagen, als der Sinnspruch eines jüdischen Apologeten jener Zeit es ausdrückte: »In drei Fällen ist das Wasser unnütz vergeudet: das Wasser bei einer Judentaufe, das Flußwasser im Meer und das Wasser im Wein.«

Aber die Folgen griffen noch tiefer. Gerade diejenigen Conversos, die den Akt der Zwangstaufe als einen endgültigen und abschließenden hinnahmen, waren durchaus gewillt – und mit vollem Recht – aus der neuen Situation den denkbar größten Nutzen für sich zu ziehen. Sie suchten ihn da, wo auch ihre Überzwinger ihn fanden: in der hohen Gesellschaft des Hofes, des Adels und der Geistlichkeit. Ihr Ziel war weniger wirtschaftliche als gesellschaftlich-politische Einwirkung. Die Entrechteten von gestern als die Einflußreichen von heute: das war etwas, was alle Kreise der Bevölkerung mit einer geheimen Unruhe erfüllte. »Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht 410 los.« Man begriff den einfachen und logischen Zusammenhang nicht, und wo man ihn begriff, insbesondere in den Reihen des Klerus, wollte man ihn nicht begreifen, wollte man in der peinlichen Ernüchterung unter allen Umständen den Folgen des eigenen Tuns entgehen, wollte man sich mit allen Mitteln von dem Vorwurf reinigen, gerade dieses Ergebnis herbeigeführt zu haben.

Die Möglichkeit, hier von neuem Alarm zu rufen, ergab sich aus der geheimen Tragik jener Zwangsbekehrten, die nicht ihren Frieden mit der Welt und dem Katholizismus machen wollten, die in der grauenhaften Not des Terrors und des Blutvergießens nicht die Kraft zur Selbstaufopferung, sondern nur die zu der rettenden Gebärde gefunden hatten, den Akt der Taufe zu erdulden. Das Leid, das sie für diese Notlüge eintauschten, war schwerer und dauernder als das Leid aus einer Sekunde des Selbstmordes. Sie dachten mit dem Ertragen der Taufe wenigstens in die Freiheit des äußeren Lebens eintreten zu können. Sie gerieten in eine mittelalterliche Folterkammer, im übertragenen und wirklichen Sinn des Wortes. Sie waren Bekenner einer Kirche geworden, aber nicht Bekenner eines Glaubens. Aus unlösbarer Verbundenheit mit Jahrtausenden religiöser Entwicklung trugen sie ihr Judentum heimlich, aber unzerstörbar tief weiter mit sich. Sorgsam verborgen vor den Augen der neuen Glaubensgenossen hielten sie die Riten und Gesetze, die Feiertage und Bräuche ihres Glaubens, erkämpften sich täglich in Furcht und Heimlichkeit das Recht dazu, lebten ein doppeltes Leben, jedes eine doppelte Last.

Es war die Mehrzahl der Conversos, die eine solche Haltung des duldenden Heroismus einnahm. Sie konnte auf die Dauer unmöglich verborgen bleiben. Für die katholische Kirche war das eine niederschmetternde Entdeckung, zugleich aber der Punkt, an dem sie ansetzen konnte, um zu verschleiern, daß jeder Sieg über einen »Ketzer« eine Niederlage des Siegers war. Eine neue Parole wird ausgegeben: Die Kirche ist in Gefahr! 411 Der Jude ist in die Kirche und in die Gesellschaft eingedrungen, um sie von innen her zu untergraben. Es wird – notwendiges, aber widersinniges Ergebnis – der Kampf gegen den »inneren Feind« angesagt. Zur Durchführung dieses Kampfes rüstet sich der Klerus mit den Mitteln der Inquisition, ruft er das Volk auf, intrigiert er bei Hofe, wirkt er in der adligen Gesellschaft. Aus den Conversos, der Trophäe national-religiöser Politik, werden Marranos, ein Vulgärwort, etwa mit der Bedeutung Verdammter, Schwein. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen wirklichen Neuchristen und Scheinchristen. Marranen sind sie alle, und der Kampf gegen sie ist – wie alles, was da in der Kirche geschieht – durchaus nicht nur religiöses Problem, sondern genau so ein wirtschaftliches und ein gesellschaftliches. Das stellen Vorgänge wie die in Toledo (März 1449) ganz klar. Der Stadt war von der Regierung aufgegeben worden, Beiträge zur Kriegführung gegen die Mauren zu leisten. Die Stadt wehrt sich. Die Steuereinnehmer, die in der Mehrzahl Marranen sind, bekommen Auftrag, die Steuer einzutreiben. Ein normaler Vorgang der Exekution. Das Volk rebelliert. Auch ein selbstverständlicher Vorgang. Es stürmt und plündert die Häuser der Marranen und ermordet viele von ihnen. Und endlich wird der Zweck des ganzen Vorganges klargestellt: die Stadtverwaltung beschließt, daß Marranen nicht mehr zu öffentlichen Ämtern zugelassen werden dürfen. Terror und Mord als Mittel, den Converso zu gewinnen; Terror und Mord als Mittel, ihn als Marranen wieder loszuwerden.

Uneinheitlich wie die Reaktion auf das Marranenproblem sind auch zunächst die Lösungsversuche. Das Volk war schlechthin in panischer Stimmung. Das Hereinbrechen des Konkurrenten, den man glaubte beseitigt zu haben, die abergläubische Furcht vor dieser immer wieder auftauchenden Lebenskraft, die Alarmrufe des Klerus von dem in Gesellschaft und Kirche eingedrungenen Feind machten ihn blind und scheu und machten ihm zur Abwehr nur die gewohnten illegalen Mittel 412 verständlich. Unter dem Adel war die Meinung geteilt. Es schieden sich Konservative und Liberale, jene durch Abschluß gegen die Marranen, diese mit dem Bemühen, sich die neuen Mitglieder zu assimilieren. Für sie war in der Tat ein schweres gesellschaftliches Problem entstanden, das man nicht einfach mit Gewalt lösen konnte. Aber die Kirche ignorierte dieses gesellschaftliche Problem geflissentlich. Sie mußte es ignorieren, weil sie ihre Aktion als Religion maskiert hatte und diese Maske nicht fallen lassen durfte. Sie befand sich schlechthin in einem Paroxismus der Wut. Sie hatte das Marranenproblem weder in seiner Schwere noch in seinem Umfange erwartet. Mittel, es zu lösen, es wirklich aufzulösen, hatte sie nicht. So muß sie in ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit zur Folter greifen. Da sie den Geist nicht besiegen kann, muß sie ihn totschlagen. Und darüber hinaus muß sie sich fortgesetzt der bewußten Lüge ausliefern, denn indem sie die Marranen in ihrer Gesamtheit bekämpft, prätendiert sie den Kampf für ein religiöses Prinzip selbst da, wo erkennbar keines vorhanden war, sondern ein wirtschaftliches und ein gesellschaftliches. Aber die Mittel, die sie in diesem Kampf anwandte, waren nach den von ihr geschaffenen Begriffen »legal«.

Die Inquisition bestand in Spanien längst, aber für die spezielle Aufgabe, die der spanische Klerus sich gestellt hatte, genügte sie wegen ihrer Abhängigkeit von Rom nicht. Schon lange hatten sich die Dominikaner um eine »nationale« Inquisition bemüht. Es trat jetzt eine politische Konstellation ein, die ein solches Verlangen begünstigte. Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien vereinigten ihre Reiche durch Eheschließung. Ein Absolutist von mittelalterlicher Grausamkeit und eine Schwärmerin von fanatischer Glaubensseligkeit hatten den einheitlichen Staat hergestellt und wollten in ihm die einheitliche Form des Glaubens verwirklichen. Es ist ihnen unter entsetzlichem Blutvergießen und unter Herbeiführung des wirtschaftlichen Ruins ihres Landes gelungen. 413

Der Papst ist auf Ansuchen der spanischen Regierung bereit, ihr eine nationale Inquisition zu bewilligen, aber unter Teilnahme eines päpstlichen Legaten. Das diente weniger der Einhaltung von Rechtsgarantien als der Sorge für den Verbleib der beschlagnahmten Vermögen. Darum wehrt sich Ferdinand gegen diese Bedrohung seiner finanziellen Interessen. Unter dem Einfluß des Thomas Torquemada, Beichtvaters der Königin, bewilligt der Papst in einer Bulle vom November 1478 die nationale Inquisition. Sie konnte sich, da sie zunächst gegen erheblichen Widerstand der Cortes zu kämpfen hatte, erst im Jahre 1480 konstituieren. Gesetzlich aufgehoben wurde sie nach 330 Jahren, im Jahre 1810. Dem Geiste nach ausgeglichen wurde sie erst in unserer Gegenwart, im Jahre 1931, als das republikanische Spanien seine Klöster stürmte.

Das erste Tribunal tritt in Sevilla zusammen. Es besteht aus zwei Dominikanern, einem Abt, einem königlichen Fiskal und zwei anderen königlichen Beamten, die die Beute, das Vermögen des Verurteilten, in Empfang zu nehmen hatten. Irgendwelche Rechtsgarantien für das Verfahren waren nicht gegeben. Grundlage der Anklage war fast ohne Ausnahme die Denunziation. Eine Nachprüfung der Beschuldigung fand nicht statt. Kläger und Angeklagter wurden einander nicht gegenübergestellt. Die Aussage des Anklägers wurde nur, soweit es dem Gericht gut schien, dem Angeklagten mitgeteilt. Beweismittel war die Folter aller Grade. Eine Berufung gab es nicht. Die Strafe schwankte zwischen Kerker und Scheiterhaufen. Unter allen Umständen aber wurde das Vermögen eingezogen, bei Kerkerstrafe mindestens der größte Teil. Der Angeklagte konnte lebendig, abwesend oder tot sein. Der abwesende Angeklagte wurde in effigie verbrannt, der tote Angeklagte wurde ausgegraben und verbrannt. Das Vermögen wurde bei seinen Erben beschlagnahmt. Und das war auch wohl der Sinn der Übung, besonders mit Rücksicht darauf, daß man überwiegend reiche Erblasser unter Anklage stellte. 414

Gegenstand der Anklage war das »Judaisieren«, das heißt: das heimliche Bekenntnis zum Judentum. Worin dieses Bekenntnis bestand, war aus einer Liste zu ersehen, die 37 Merkmale des Judaisierens umfaßte. Es genügte dafür, daß ein Marrane am Sabbat einen besseren Anzug oder ein reines Hemd anlegte, um in den Verdacht der Judaisierung zu geraten. Jeder Christ hatte die Pflicht, solche Vorkommnisse, wenn sie ihm bekannt wurden, zur Anzeige zu bringen. Er blieb anonym und ohne jede Verantwortung. Ob der Angeklagte gestand oder leugnete, war gleichgültig, denn entweder zwang ihm die Folter ein Bekenntnis ab, oder sein Leugnen bewies seine bösartige Verstocktheit.

Unter solchen Umständen nahmen die Bespitzelungen, Denunziationen, Haussuchungen und Verhaftungen von allem Anfang an riesige Ausmaße an. Im ersten Anlauf wurden 15 000 Marranen verhaftet. In den unterirdischen Gängen der Klosterfestung Sevilla beginnt die Folter zu arbeiten. Das Entsetzen ist selbst unter der christlichen Bevölkerung groß. Sie ahnten, daß sich dieses Instrument eines Tages, wenn es keine Marranen zu martern gab, gegen sie selbst richten würde. Eine Gruppe von Marranen verschwört sich zur heimlichen Ermordung der Mitglieder des Tribunals. Der Anschlag wird entdeckt. Aber der Widerstand des Volkes und diese Verschwörung sind doch eine Warnung für das Tribunal. Darum legt es sich in der Zahl der Todesurteile noch Zurückhaltung auf. Bis November des Jahres 1481 werden im Bezirk von Sevilla nur 300 Menschen verbrannt, im Erzbistum Cadix allerdings 2000, vornehmlich Reiche. Aber viele Tausende werden zu zeitlichem oder lebenslänglichem Kerker und zu anderen Strafen verurteilt. Der Ertrag an beschlagnahmten Vermögen ist sehr groß.

Für den Vollzug der Todesurteile erweist sich die Gestellung eines besonderen Platzes, des Quemadero, als notwendig. Der Platz ist geschmückt mit Standbildern der jüdischen Propheten. Zu solchem »Akt des Glaubens«, Autodafé, finden sich alle 415 Schichten von Hof und Adel und Geistlichkeit und Volk als Zuschauer ein. Den Henker stellt die weltliche Behörde, denn die Kirche mordet nicht. Sie verabscheut Blutvergießen. Darum werden auch die Urteile unblutig vollstreckt, sine effusionis sanguine, ohne Blutvergießen, durch Verbrennung des lebendigen Menschen. Nur wer im letzten Augenblick seine Reue darüber bekundet, kein guter Christ gewesen zu sein, wird aus Gnade vorher erwürgt. Dann wird der Kadaver verbrannt.

Nach dieser ersten Session des Tribunals wird eine Pause eingelegt. Das Sanctum officium kündet für eine gewisse Frist denjenigen, die freiwillig zu ihr kommen und ihre Sünde bekennen, Absolution an. Bedingung ist natürlich, daß sie auf einen Teil ihres Vermögens zugunsten der Inquisition und des Königs verzichten. Es kommen sehr viele, schon aus dem Grunde, um endlich ihren doch nicht vermeidbaren Prozeß mit der Inquisition hinter sich zu haben. Aber da enthüllt sich die verheißene Absolution als Trick von brutalster Gemeinheit. Das Tribunal verlangt, daß die Reumütigen auch ihre Verwandten und Freunde angeben, die heimlich zum Judentum halten; sonst werden sie, da sie ja ihre Sünde selbst gestanden haben, wie Ketzer behandelt. Diejenigen, die wirklich nichts zu gestehen haben, sind verstockte Leugner und ebenfalls wie Ketzer zu behandeln.

Das Entsetzen über diese Hinterlist ist so groß, daß selbst ein Papst wie Sixtus IV., ein Wüstling und Geldraffer, sich empört gegen diese spanische Methode wendet. Er durchschaut ganz richtig, daß die meisten Prozesse nicht »vom Glaubenseifer und von der Sorge um das Seelenheil, sondern von Gewinnsucht bestimmt« sind. In seinem Verlangen, dem Tribunal bischöfliche Vertrauensmänner beizuordnen und den Verurteilten das Berufungsrecht nach Rom zu gewähren, erblickt Ferdinand eine Bedrohung seiner bedeutenden Einnahmequelle und, da es sich um eine »nationale« Institution handelt, einen Eingriff in seine Souveränitätsrechte. Er ist vielmehr für eine erhebliche 416 Erweiterung der inquisitorischen Tätigkeit, die sich bis jetzt, durch den Widerstand der Cortes gehindert, nicht über das ganze Land, besonders nicht in Aragonien ausbreiten konnte. Sixtus IV., um Geld für alles zu haben, bewilligt dann auch die Einrichtung von sieben neuen Tribunalen und die Schaffung eines »Höchsten Inquisitionsrates«, einer Institution, die die organisatorische Zusammenfassung, die bürokratische Spitze des Unternehmens darstellte. General- oder Großinquisitor wird Torquemada (September 1483). Die Inquisition ist damit zur Entfaltung ihrer ganzen Kraft gerüstet.

Von dem nun einsetzenden Grauen darf man keine Einzelheiten mitteilen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, an irgendwelche Instinkte der Sensation appellieren zu wollen. Keine Zeit, kein Volk, keine Kirche hat je wieder Derartiges an blutrünstiger Menschenquälerei vollbracht, es sei denn, man denke an die Abschlachtung der Inkas durch die spanischen Conquistadores. Hekatomben fallen dem Wüten zum Opfer. Es schien, als sei die Zahl der Marranen unerschöpflich, als gebe es überhaupt keinen zum Christentum bekehrten Juden, der nicht heimlich doch Jude geblieben sei. Vor jeder Session wird eine Gnadenfrist für die freiwillig Bekennenden gewährt. Aber die »Versöhnung mit der Kirche« ist wieder an die schmähliche Bedingung geknüpft, Gesinnungsgenossen zu verraten. Die Strafe ist zudem mit einer öffentlichen Demütigung und selbstverständlich mit Vermögensabgabe verknüpft. Aber selbst diese »Gnade und Milde« ist noch überschattet von der Infamie, daß das Tribunal nach freiem Ermessen entscheidet, ob die Reue eines Marranen echt sei oder nicht. Wo es dem Tribunal gefiel, war die Reue nicht echt. Der Bußfertige landete auf dem Scheiterhaufen.

In Aragonien stand die neue Periode der Inquisition unter der Leitung des Kanonikus Pedro Arbuez. Er gewährte die »Gnadenfrist« nicht, weil dadurch zu viele Vermögen dem Zugriff entzogen wurden. Zahlen wie diese geben einen Begriff 417 von seiner Tätigkeit: in Toledo wurden (1486) verbrannt am 12. Februar 750 Ketzer, am 2. April 900, am 7. Mai 750. Unter den Marranen bricht die Panik aus. Verschwörer aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft verschwören sich gegen Arbuez und erschlagen ihn in der Kirche zu Saragossa. Dadurch gewinnt die Kirche einen Märtyrer, das Tribunal 200 Opfer für den Scheiterhaufen und das Vermögen von weiteren Hunderten, die zu lebenslänglichem Kerker verurteilt werden, und die Inquisition im ganzen das Recht, ihr Verfahren noch zu verschärfen.

Diese Verschärfung entfesselt tatsächlich die Hölle auf Erden über die Marranen, und selbst der voreingenommene Betrachter muß sich die Frage vorlegen, ob in diesem Stadium des Wütens die kalte politische Berechnung des Anfanges noch vorwaltet, oder ob nicht vielmehr diese Inquisitionsjustiz sich in ihrer eigenen Terminologie, in ihren eigenen halben Wahrheiten und verschleierten Zwecken so zwangsläufig gefangen und verstrickt hatte, daß sie an die Notwendigkeit und Heiligkeit ihres Tuns selber glaubte. Gewiß aber ist eines: je weiter die Inquisition vorschritt, desto mehr enthüllte sich die Niederlage zugleich einer Politik und eines Glaubens; darüber hinaus aber eine fast tragische Situation der Kirche. Sie sieht ein, daß sie in fast 100 Jahren Zwangstaufe und Inquisition nichts Endgültiges erreicht hat. Aber die Gewalt, der sie sich einmal bedient hatte, als sie ihrem Glauben mit Gewalt neue Mitglieder zuführte, muß fortzeugend Gewalt aus sich entlassen, weil im Gegensatz zu allen anderen Völkern der Jude als einziger sich bei dem aufgezwungenen Glauben nicht beruhigt. So kann sie von ihren eigenen Mitteln nicht mehr zurück, muß sich selbst immer tiefer und entsetzlicher desavouieren und verneinen. So bleibt ihr am Ende nichts als die Gewalt und die Herrschaft, ein trauriger Besitz für eine Religion.

Die Verfangenheit im Kampfe gegen die Marranen ist so tief, daß für geraume Zeit der Kampf gegen den noch 418 ungetauften Juden vergessen wird. Aber man konnte ihn – das ist die immer gleiche tragische Ironie im Ablauf der jüdischen Diaspora – auch nicht entbehren. Man brauchte den Steuerzahler und Finanzmann, weil der wieder aufgenommene Krieg gegen das maurische Granada Geld kostete. Der Jude Isaak Abravanel mußte zum Verwalter der Staatsfinanzen eingesetzt werden, um die Mittel aufzubringen. Mit dem fortschreitenden Erfolg der spanischen Waffen in diesem Kriege wird aber zugleich die einheitliche Lösung sowohl des Juden- wie des Marranenproblems angebahnt. Denn es wurde jetzt immer deutlicher, was schon zu Anfang ganz deutlich war, was aber der Klerus nicht sehen wollte, um seine Niederlage nicht zugeben zu müssen: daß das Problem Jude mit dem Problem Marrane unlösbar verknüpft war. Von der Idee der Einzigartigkeit des katholischen Glaubens besessen, begriffen die Judengegner nicht, daß sie in Wirklichkeit einem seelischen Phänomen gegenüberstanden; daß die Hartnäckigkeit des Juden der tiefste nationale Heroismus war, der nur vorstellbar ist; daß seine Verstocktheit und Resistenz die Unsterblichkeit einer wahrhaft aus tiefstem Leben erwachsenen Religion bezeugte . . . und daß Blut sogar Scheiterhaufen zum Erlöschen bringt. Nichts sahen sie, als was ihre Spitzel ihnen an äußeren Zusammenhängen zutrugen. Aber das genügte für sie. Sie sahen, daß die Juden die Verbindung mit den Marranen immer noch aufrechterhielten, daß sie ihre Kinder, die schon im christlichen Glauben geboren waren, in der jüdischen Religion unterwiesen, daß sie den Erwachsenen Gebetbücher verschafften, ihnen die Festzeiten mitteilten, geheim in Winkeln und Kellern mit ihnen die Andachten verrichteten. Und das noch, während schon die vierte Generation von Neuchristen heranwuchs!

Es half nichts, daß Torquemada mit grausamster Schärfe die völlige Trennung zwischen Juden und Marranen durchführen ließ. Er schaffte nur eine geheime Verschwöreratmosphäre, in der Juden und Marranen sich immer von neuem in der 419 gemeinsamen Treue gegen das Erbe im Blute begegneten. So mußte notwendig der Plan in ihm reifen, die Juden, diesen seelischen Rückhalt der Marranen, aus dem Lande zu schaffen. Dagegen bestanden, wie ihm völlig bewußt war, aus der vielfachen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verknüpfung erhebliche Widerstände im Lande. Er greift darum zu den alten Requisiten der Hostienschändung und Ritualmorde, um die Stimmung im Lande vorzubereiten. Die äußeren Vorgänge kommen ihm zu Hilfe. 1491 wird Granada besetzt. Das alte westgotische Ideal: ein Staat und ein Glaube, ist in seinem ersten Teil verwirklicht. Um es in seinem zweiten Teil zu verwirklichen, bedarf es nichts als der Vertreibung der Juden.

Am 2. Januar 1492 zieht Ferdinand in Granada ein. Am 31. März 1492 erläßt er den Befehl, daß alle Juden binnen vier Monaten Kastilien, Aragonien, Sizilien und Sardinien verlassen müßten. Sie durften ihr ganzes bewegliches Vermögen mitnehmen, außer Gold, Silber, Münzen und denjenigen Gegenständen, deren Ausfuhr untersagt war. Das heißt: sie durften so gut wie nichts mitnehmen. Hier die Begründung: »In unserem königlichen Gebiet gibt es nicht wenig Judaisierende, von unserem heiligen katholischen Glauben abweichende böse Christen, eine Tatsache, die vor allem in dem Verkehr der Juden mit den Christen ihren Grund hat . . . Nach den Berichten, die uns die Inquisition erstattet hat, unterliegt es keinem Zweifel, daß dieser Verkehr der Christen mit den Juden, die sie zu ihrem verdammten Glauben verleiten, den allergrößten Schaden anrichtet . . . alles dieses hat auch die Unterwühlung und Erniedrigung unseres heiligen katholischen Glaubens zur unausbleiblichen Folge . . . Wir haben daher den Beschluß gefaßt, alle Juden beiderlei Geschlechts für immer aus den Grenzen unseres Reiches zu weisen . . .«

So rüsteten sich an die 300 000 Menschen, deren Ahnen im Lande gewohnt hatten, schon ehe das Christentum es berührte, die die wesentlichsten Träger der Kultur und der Wirtschaft 420 waren, zum Auszug. Auf die verhetzten und verarmten Wanderer ergießt sich noch einmal ein Strom von Missionaren. Sie haben sehr geringe Ernte. Am Schicksal der Marranen hat der Jude gelernt, was ihn erwartete, wenn er sich in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche flüchtete. Bis zu der vorgeschriebenen Frist, Ende Juli 1492, war die Räumung vollzogen. Der ganze Mittelstand des Landes war fort. Städte verarmten und verödeten. Alle Entwicklung bewegte sich rückwärts. Eine Zeitlang konnten die Marranen diese Bewegung, die aus der Zerstörung eines sozialen Organismus entstanden war, noch aufhalten. Mit ihrer massenweisen Flucht im 16. Jahrhundert hört auch ihr Einfluß auf. Aber die Scheiterhaufen bleiben und brennen für jeden Denker, jeden Ketzer, jeden nach Freiheit Lüsternen. Was übrigbleibt, ist die Einöde der Mönche.

Ein kurzes Nachspiel hat diese Katastrophe in Portugal; es hat das Format Dantescher Höllenvision. Juan II., um Durchwanderung und vorübergehende Niederlassung angegangen, gewährt sie auf 8 Monate, gegen Bezahlung einer Gebühr von 8 bis 100 Goldcruzados pro Kopf. Unter den 100 000 Flüchtlingen, die so nach Portugal kommen, brechen Epidemien aus. Juan zwingt sie zu vorzeitiger Abreise. Die Bestialität, mit der die Flüchtigen auf den Schiffen behandelt werden, ist nicht wiederzugeben. Diejenigen, die infolge der überstürzten Abreise den Anschluß versäumen, werden zu Leibeigenen des Königs erklärt und von ihm verschenkt oder verkauft. Die Kinder dieser Sklaven werden zwecks christlicher Erziehung nach der jüngst entdeckten Verbrecherinsel Sankt Thomas verschickt, wo die meisten krepierten, soweit die Mütter sich nicht vorher mit ihren Kindern zusammen ins Meer warfen. Juans Nachfolger, Manuel, stellt zwar die Freiheit der Juden wieder her, beschließt aber auf Verlangen des spanischen Königspaares, dessen Tochter Isabella er heiraten will, die Vertreibung aller Juden aus Portugal. Das Edikt vom 25. Dezember 1496 befiehlt die Auswanderung binnen zehn Monaten. Seine Hoffnung war, 421 die meisten Juden würden sich vorher taufen lassen. Das geschieht nicht. Er ordnet an, daß alle jüdischen Kinder zwischen dem 14. und 20. Jahre zu Ostern 1497 zwangsweise getauft werden sollen. Sofort setzt die Auswanderung verstärkt ein. Die Beute an Seelen ist in Gefahr. Darum wird die Zwangstaufe schon am 19. März ausgeführt. Zahlreiche Eltern töten sich samt ihren Kindern. Der Rest wird unter grauenhaften Szenen getauft.

Im Hafen von Lissabon drängen sich über 20 000 Juden zusammen, um auszuwandern. Manuel stellt keine Schiffe und hält sie zwangsweise fest, bis ihre Frist abgelaufen ist. Dann erklärt er sie als seine persönlichen Sklaven, setzt sie gefangen, läßt Missionare auf sie los, unterwirft sie der Aushungerung, um Seelen für das Christentum zu gewinnen, läßt sie mit Stricken und an den Haaren zum Taufbecken schleifen, soweit sie sich nicht selber umbrachten . . . und züchtet ein neues Geschlecht von Marranen. Den Rest, den er mit keinen Mitteln zu Christen machen konnte, ließ er im folgenden Jahre, 1498, in ein ungewisses Schicksal hineinziehen.

So enden diese drei Jahrhunderte mit der Vertreibung der Juden aus England, Frankreich, Spanien, Portugal und einem großen Teil Deutschlands. Hunderttausende von Toten, um der Treue zu ihrem Volke willen im Namen Christi erschlagen, gehängt, verbrannt, gerädert, blieben auf der Strecke. Es ist ein Schuldkonto angewachsen, zu dessen Begleichung bis heute nichts geschehen ist.

 


 


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