Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Rechte und Ideologien

»Das vaterländische Interesse ist nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt; es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich.«

(Schiller an Körner)

Die französische Revolution, wie alle wahren Ideen, war den Möglichkeiten der Zeit, sie zu verwirklichen, weit voraus. Darum mußte auf ihren Elan der Rückstoß der verharrenden Kräfte folgen. Gegen den Geist der Revolution und gegen die durch die napoleonischen Kriege geschaffene Ordnung erhebt sich die Reaktion. Für die Juden wirkt sie sich darin aus, daß man ihnen die unfreiwillig gewährte Gleichberechtigung kurzerhand wieder entzieht – wie in den »freien« Hansestädten, den meisten italienischen Ländern und natürlich auch im Kirchenstaat – oder daß man bei formeller Aufrechterhaltung der Gesetze sie praktisch auf dem Verwaltungswege aufhebt – wie in Preußen – oder daß man die lästige Judenfrage nach mehr oder minder lebhaften Debatten verschleppt und vertagt – wie in Bayern, Württemberg, Hannover, Baden – oder, wie in Rußland, die Wucht einer fanatisch reaktionären Gesinnung verdoppelt auf die Juden entläßt. Nach dem Choc, den der Begriff »Freiheit« den europäischen Herrschern versetzt hatte, 556 und nach dem Entsetzen, das sie vor der napoleonischen Umwerfung aller ängstlich gehüteten Landesgrenzen empfunden hatten, zogen sich die Regierungen energisch auf sich und ihre noch vor kurzem bedrohte Herrschergewalt zurück. Der Staat als ihr Herrschaftsgebiet wurde heilig. Die Nation als der geistige Inhalt des Staates wurde ausschließlich und sakrosankt. Die Bindung von beiden unter ein geistiges Prinzip schuf das Ideal der »christlichen Nation« und des »christlichen Staates«. Darüber thronten die Herrscher als von Gott eingesetzt. Sie betrieben den Schutz von »Thron und Altar« unter Mißbrauch der Energien, die der Idealismus der Freiheitskriege ihnen eingetragen hatte. Auf dem Wiener Kongreß (1814–1815) besiegelte die »Heilige Allianz« diesen Zustand. Dabei war die Judenfrage gerade wichtig genug, dem Vertreter einer hanseatischen Kleinstadt Gelegenheit zur Entfaltung juristischer Formulierungskunst zu geben. Der »Judenparagraph« hatte die folgende Fassung bekommen: »Die Bundesversammlung wird in Beratung ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sei und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Übernahme aller bürgerlichen Pflichten in den Bundesstaaten werde gesichert werden können; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben in den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte erhalten.« Bei dem letzten Halbsatz griff die Spitzfindigkeit ein und änderte das Wort »in« zu dem Worte »von«. Von den Bundesstaaten waren aber die Gleichheitsrechte nicht dort gegeben, wo sie von der Revolution oder von Napoleon eingeführt waren. Aufatmend und mit gutem Recht konnten diese Staaten nunmehr den Juden in seinen Zustand der Rechtsminderung zurückversetzen. Preußen erreichte dieses Ziel praktisch durch die Sabotage des Ediktes von 1812 und dadurch, daß es dieses Edikt auf die neuerworbenen Landesteile nicht anwandte. Das 557 ergab für die Juden des preußischen Staates achtzehn verschiedene Rechtsgebiete und Rechtslagen, vom »Staatsbürger« bis zum »Schutzjuden«.

Jede Regierungsform, auch die reaktionärste, hat ihre geistigen Claqueure, zumeist auf den Kathedern. Auch das reaktionäre Deutschland hatte sie, und es kann somit nicht fehlen, daß Professoren der Geschichte, der Philosophie und der Theologie sich der Judenfrage bemächtigen, Definitionen darüber abgeben, was Judentum sei, und dementsprechend ihre antijüdischen Vorschläge in den Dienst der Sache stellen. Die gefälligere Literatur folgte ihnen auf diesem Wege, und ein Machwerk wie die »Judenschule« war immerhin imstande, dem Theaterpublikum allabendlich Stürme des Beifalls zu entlocken. Daß die patriotische Studentenschaft in Würzburg noch im August 1819 einen regulären Judenpogrom veranstalten kann, rundet das Bild ab.

Es sind aber nicht diese Tatsachen, die geschichtsbildend sind, sondern die Reaktion der Juden darauf. Wie ein Berliner oder Heidelberger Professor das Judentum definiert, ist natürlich gleichgültig. Wichtig ist allein, ob die Polemik im Bewußtsein des Juden Störungen hervorruft oder nicht; und weiter, ob das Gesamt des jüdischen Volkes imstande ist, diese Störungen zu überwinden. Denn eine falsche Ideologie vermag das Geschick eines Volkes weder zu formen noch zu verändern. Sie kann aber für Zeiten Schaden anrichten; und das hat die Ideologie, die jetzt entsteht, in vielfacher Weise und mit einer bis heute reichenden Wirkung getan. Der Versuch des Juden, sich und sein Judentum in die bis dahin verschlossene Umwelt einzuordnen, ist verbunden mit einem Verlust des historischen Augenmaßes. Zum erstenmal seit unendlicher Zeit vor die Möglichkeit gestellt, als Subjekte in den Rahmen einer fremden Geschichte einbezogen zu werden, und angesichts der Tatsache, daß diese Einbeziehung zusammenfällt mit der Möglichkeit, das Martyrium ihres äußeren Geschickes zu 558 erleichtern, entfällt ihnen spontan das Bewußtsein dafür, was der Sinn ihres Bemühens bis dahin gewesen ist: als Objekte der Geschichte doch die Direktive zu behalten; ihr Judentum zu gestalten und es nicht fremden Anforderungen nachzubilden.

Der bedeutendste Vertreter dieser Anschauungen, noch heute von vielen Juden als Vater ihrer jüdischen Lebensidee gefeiert, ist Gabriel Rießer (1806–1863), ein politisierter Mendelssohn, von der Idee der Zugehörigkeit zum Deutschtum so eingefangen wie Mendelssohn von der Idee der Zugehörigkeit zur Welt des Humanen, wie jener von einem oft leidenschaftlichen Pathos, makellos in seinen Absichten, unermüdlich in seinen Bemühungen um die Gleichstellung der Juden, ein großer Verfechter der Freiheit des Juden und ein großer Verfälscher der Idee des Judentums. Das Grundthema, das er verficht, ist in seiner schon 1830 erschienenen Schrift »Über die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland« angeschlagen und wird in seinen späteren Schriften wiederholt und variiert. Es geht ihm um die Frage der Gleichberechtigung, um den Kampf gegen den Judenhaß, um den Anspruch auf das Heimatsrecht der Juden in Deutschland und um die Verteidigung des Judentums gegen den Vorwurf, es sei eine Nation und werde bei Zuerteilung der Gleichberechtigung auch weiterhin eine Nation in der Nation bilden. Er kann nicht leugnen, daß das Judentum aus der Einheit von Nation und Glaube gewachsen ist; aber er behauptet, dieser Zusammenhang bestehe nicht mehr. Es gebe nur noch eine Stammesverwandtschaft. Die Gemeindeautonomie sei ein Ergebnis der Rechtlosigkeit der Juden, »ein fauler Fleck des jüdischen Lebens«. Der innere Sinn dieser autonomen Form, das, woraus sie eigentlich lebte: der nationale Wille, und das, was sie eigentlich bezweckte: Erhaltung der Art und ihrer Sitten, und das, was ihre schwerste Belastung ist: in der Fremde mit der Fiktion der Heimat leben zu müssen, kommt ihm also 559 schon nicht mehr zum Bewußtsein. Er verwechselt den Ausdruckswillen mit dem Ausdruck, und zwar geschieht das nicht mit dem Dolus eventualis der Fälschung, sondern schon zwangsläufig unter der Assimilation an die deutsche Denkart und Begriffswelt. Rießer ist selbst schon Produkt der Assimilation. Er verneinte die jüdische Nation nicht, weil die Umgebung das verlangte, sondern weil er sie nicht mehr sah. Er sah sie nicht, nicht, weil sie nicht vorhanden gewesen wäre, sondern weil die Begriffe, die der Umwelt für die Definition einer Nation zur Verfügung standen, von ihm dazu benützt wurden, sie zu leugnen. Was bei anderen Juden, die das gleiche taten, der Utilitätstrieb bewirkte, bewirkt bei ihm das Ressentiment. Aber auch das edelste Ressentiment ist eine schlechte Grundlage der Erkenntnis. In seinem Kampf für die Gleichstellung äußert Rießer einmal den entscheidenden Satz: »Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf eine Heimat; wir sind entweder Deutsche oder wir sind Heimatlose.« Die Prämisse ist richtig, die Konklusion ist falsch und sentimental verzerrt. Die Auffassung der Umgebung vom Wesen des Staates, des Bürgers, der Nation hat abgefärbt. Akzeptiert man die Begründung der Umgebung als richtig, dann ist Rießers Schluß auch richtig. In Wirklichkeit sind beide falsch. Darüber wird später des Näheren zu sprechen sein. Hier wird nur eine grundsätzliche Feststellung wichtig, von der wir auch für die Darstellung der restlichen Geschichte der Juden bis zu unseren Tagen ausgehen. Darüber, ob das Judentum eine Nation ist oder nicht, kann selbstverständlich nicht das Urteil der Umgebung entscheiden. Die Umgebung kann Konsequenzen daraus ziehen und dem Juden daraus ein neues Schicksal bereiten. Aber für die innere Geschichte des jüdischen Volkes kommt es darauf nicht an. Es kommt nicht einmal darauf an, was im Volke selbst diejenigen Juden sagen, die die Existenz der Nation verneinen. Auch sie können nur Anlaß zu Parteikämpfen 560 geben, aber nicht den Sinn der Geschichte rückwärts drehen. Und sie widerlegen sich selbst jeden Tag dadurch, daß das, was sie tun, typische Manifestationen nationaler Art sind: Kampf einer Minderheit um ihre Rechte. Nur haben sie sich freiwillig eines Teiles der Waffen begeben, die ihr Volkstum ihnen darbietet. Nicht einmal die zionistische Ideologie besagt als solche, als Ideologie, etwas für oder gegen den Bestand des Judentums als Nation, sondern der Zionismus als Bewegung ist einfach eine Manifestation des Faktums Jüdisches Volk. Als Programm ist er Angelegenheit einer Partei, nicht mehr. Genau so wie seine Gegner im Judentum Parteien sind, aber eben Parteien im Rahmen des jüdischen Volkes.

Was Rießer und die Gleichdenkenden vor und nach ihm propagieren, ist ein verkürztes Judentum, ein Judentum der geringeren Bindung und damit der geringeren Schöpferkraft, ein Judentum, für das alles gilt, was im letzten Kapitel über die Wirkung der Verneinung der Nation gesagt worden ist. Dieses verkürzte Judentum trägt für den starken Substanzverlust des jüdischen Volkes nicht weniger Verantwortung als die Assimilation aus Gründen der Nützlichkeit. Heine ist einer der wenigen, die bei ihrem letzten Rückblick auf das verlassene Judentum dieser Art noch einmal – wenn auch zu spät für ihre Lebensgestaltung – die Totalität des Judentums erkannten. Andere haben es leicht verlassen, noch leichter vergessen und vielfach sogar befeindet. Zu ihnen gehört Marx. (Auch einer, der kein Jude sein will, der Rothschild mit dem Judentum verwechselt hat und der doch in der Begründung seines sozialistischen Systems nichts als europäisierter Jude ist. Nur ist ihm mit seinem Volkstum auch das letzte »Gran Ethik« verloren gegangen.)

Was in solchem geistigen Bezirk dem Juden, der im Judentum verbleiben will, noch übrigbleibt, ist letzten Endes nur – nachdem der Inhalt des Judentums verkürzt worden ist – die Verkürzung der Formen- und Ausdruckswelt des 561 Judentums. Dieser Vorgang verbirgt sich unter dem Namen der »Reform«. Wenn Reform wirklich das ist, was der Sinn des Wortes vermittelt, dann ist sie die Befreiung eines Zustandes oder einer Idee vom Überflüssigen, Schädlichen, Entarteten, das sich im Laufe einer Entwicklung angesetzt hat, und das Zurückgehen auf den Kern. Aber gerade den Kern hatte ja das verkürzte Judentum schon angetastet, und es kann nichts mehr tun, als den verbliebenen Rest, statt ihn aus sich weiterzubilden, den allgemeinen europäischen Ideen anzugleichen und das Formale darin einem Dekorationswechsel nach den Begriffen der europäischen Zivilisation und Ästhetik zu unterwerfen. So mußte ein an sich ungewöhnlich nützliches Beginnen, da es keine organische Verbindung mehr hatte, sowohl im Tragischen wie im Possenhaften enden. Man ging zunächst daran, den Gottesdienst zu ordnen und zu disziplinieren. Aus den zwanglosen und tumultuarischen Versammlungen, in denen das Volk sich sonst seinem Gott gegenüberstellte und zu ihm sprach, sich mit ihm unterhielt, so unfeierlich und vertraut, so in den Rahmen der Lebensbeziehungen eingefaßt, daß man sich in der Synagoge selbst über Geschäfte unterhalten konnte, ohne ein Sakrileg zu begehen – aus solchen Versammlungen wurden straffe, disziplinierte Sabbat- oder auch Sonntagsveranstaltungen mit Musik, Chor, deutscher Sprache und verteilten Rollen. Aus dem »Gott der Heerscharen« wurde der »oberste Kriegsherr«, und der reformierte Rabbiner wurde sein General. Da die Reformatoren immer ein Auge auf die Umgebung richteten, griffen sie auch den Inhalt der Gebete an und sorgten vor allem für die Ausmerzung derjenigen messianischen Stellen, in denen das nationale Element allzudeutlich war. Hierin ist schon der Übergang spürbar, der von der Reform als Regie zur Reformation der Grundlehren des Judentums überführt. Allen Reformatoren, die das im jüdischen Bereich versucht haben, ist eine wirkliche religiöse Grundhaltung nicht abzusprechen. Aber sobald sie dazu übergingen, sich davon 562 Rechenschaft abzulegen, sei es für sich persönlich, sei es im Hinblick auf das Judentum überhaupt, orientierten sie sich mit den Begriffen und den Maßen der Umgebung, der sie sich auf dem Wege der kulturellen Assimilation angeglichen hatten. Selbst wenn man davon absieht, daß die religionsschöpferische Begabung des Westeuropäers überhaupt sehr gering ist, daß also der Jude, der sich neu orientieren will, auf kein starkes und verpflichtendes Beispiel treffen kann, war überdies in jener Zeit die christliche Religion eine fast mechanische Angelegenheit geworden, so mechanisch, daß man sich ihrer als politisches, agitatorisches, philosophisches Element bedienen konnte, ohne ihre Quelle überhaupt nur anzutasten. Nichts verständlicher, als daß die jüdischen Reformatoren die Neubegründung ihres Judaismus aus dem Zeitgeist zu holen suchten. Das war die erste Voraussetzung ihrer Unproduktivität. Eine »Zeit« ist nie religiös; es gibt keine »religiösen Zeiten«.

Alle gingen ohne Unterschied davon aus, daß das Judentum nichts sei als eine Religion. Aber über das, was sie darstellte, gingen die Meinungen auseinander bis zum erbitterten und völlig fruchtlosen Kampf zwischen Reformern und Orthodoxen. Während ein Reformer wie Abraham Geiger noch wenigstens im Religiösen das historische Element begriff und zu Recht davon ausging, daß auch die Inhalte und Formen des Religiösen Wandlungen unterworfen seien, ist sein Gegner, der Orthodoxe S. R. Hirsch, vom Judentum als einem unwandelbaren, von Zeit und Ort unabhängigen Gesetzeswerk überzeugt. Den Umfang dieser Differenz drückt er am klarsten in der Formel aus: »Die Reform, deren das Judentum bedarf, ist eine Erziehung der Zeit zur Thora, nicht eine Nivellierung der Thora nach der Zeit.« Geiger ist demgegenüber mehr im Recht, denn es ist in der Tat mehr als einmal geschehen, daß Änderungen der Grundlehren eingetreten sind. Aber dann geschah es evolutionistisch, als das religiöse Erlebnis der Gemeinschaft, erlebt und nicht dekretiert, geworden und nicht ausgeklügelt. 563

Um den kompakten Widerstand der Orthodoxie wirksamer zu bekämpfen, organisieren sich Rabbiner und Laien, jene in besonderen Tagungen, diese in der »Genossenschaft für Reformen im Judentum« von 1845, der Vorstufe der späteren »Reformgemeinde«. 1844 tritt die erste Tagung der reformistischen Rabbiner zusammen. Sie ähnelt in ihrer geistigen Verfassung sehr der Pariser Notabeln-Versammlung. Wie diese unter dem Druck Napoleons stand, steht jene unter dem Druck der Emanzipation. Der Wille zur Selbstaufgabe ist bei beiden gleich stark. Die Art ihrer Beschlüsse zeigt, daß vor der Idee einer bürgerlichen Gleichberechtigung selbst der Rest der jüdischen Idee zu weichen hat. Die ersten Beschlüsse sind: »Das jüdische Gesetz hat vor dem Landesgesetz zurückzutreten; Mischehen sind zulässig, wenn es sich um Staaten handelt, in denen es nicht verboten ist, Kinder aus Mischehen jüdisch zu erziehen; das Kol-nidre-Gebet, dieser atemberaubende Auftakt zum Vorabend des Versöhnungstages, ist zu streichen.« Im Jahre darauf beschließen sie, daß die hebräische Sprache für den Gottesdienst weder vom jüdischen Gesetz vorgeschrieben noch auch zu empfehlen sei. Weiter: »Die Messiasidee verdient in den Gebeten hohe Berücksichtigung, jedoch sollen die Bitten um unsere Rückführung in das Land unserer Väter und die Herstellung eines jüdischen Staates aus unseren Gebeten ausgeschieden werden.« Hier wird also das verkürzte Judentum auch noch gereinigt. Das große kollektive Erlebnis der jüdischen Volksseele, der Messianismus, wird von reformierten Rabbinern liquidiert.

Die ganze Tragik des verstümmelten Judentums kommt in dem Aufruf zur Geltung, der der Gründung der »Genossenschaft für Reformen im Judentum« vorausging. Da heißt es: »Unsere innere Religion ist nicht mehr im Einklang mit der äußeren Gestaltung des Judentums . . . Wir können nicht mehr beten . . . um ein irdisches Messiasreich . . . Wir können nicht mehr Gebote beobachten, die keinen geistigen Halt in uns 564 haben . . . Durchdrungen von dem heiligen Inhalt unserer Religion, können wir sie in der angeerbten Form nicht erhalten, geschweige denn auf unsere Nachkommen vererben.« Das ist das Kaddisch in deutscher Sprache auf den Tod des Judentums, wie sie es noch erleben konnten.

Mit solchen reformatorischen Bewegungen wird der Begriff des Westjuden gegen den des Ostjuden noch schärfer als bisher abgegrenzt. Im jüdischen Osten wird das Wort »Berliner« bald zum Spitznamen für diejenigen, die das Judentum durch Aufklärung retten wollen. Dort, wo es noch wirkliche jüdische Volksmassen gab, konnte von mehr als einem gelegentlichen Eindringen von Reformen nicht die Rede sein. Aber damit ist keineswegs gesagt, daß das östliche Judentum sich nur passiv verhalten und sich auf die Verharrung beschränkt habe. Im Gegenteil: aus dem Osten ist die Gestaltung des Judentums als lebendigster Gegensatz zur Reform erwachsen. Um aber zu solcher Gestaltung fähig zu sein, mußten erst die Resistenzkräfte ihre stärkste Ausbildung erfahren. Denn auch im Osten rannte der erzieherische Geist der Reaktion gegen das Judentum an, viel stärker und brutaler als im Westen. Aber während der Westen überraschend schnell kapitulierte, hielt der Osten unter wirklich blutigen Opfern seine Situation. Was er an »Aufklärung« an sich herankommen ließ, war im wörtlichen Sinn aufklärend, das heißt: Zusammenhang weisend. Während man im Westen die hebräische Sprache einfach fallenließ, wurde sie im Osten modernisiert und wirklich renaissancehaft ausgestaltet. Und alles das geschah unter russischen Bedingungen.

Rußland hatte den letzten großen Zuwachs an jüdischer Bevölkerung durch den Beschluß des Wiener Kongresses bekommen, wonach der größte Teil des Herzogtums Warschau als »Königreich Polen« ihm einverleibt wurde. Das Millionenvolk der Juden gab der russischen Regierung ein Problem auf, zu dessen Lösung sie sich als unfähig erwies, so viele Mittel und 565 Systeme sie auch anwandte, von dem Versprechen von Prämien für den Übertritt zum Christentum bis zum staatlich organisierten Totschlag in den Pogromen. Nach dem Beitritt Alexanders I. zur Heiligen Allianz setzt sofort der verschärfte Druck auf die Juden ein. 1823 wird die Idee des Statuts von 1804 wieder aufgenommen und den Juden Weißrußlands die Pacht von Ländereien, Schenken, Wirts- und Gasthäusern, Poststationen und der Aufenthalt auf dem Lande untersagt. Man versprach sich angeblich davon eine Verbesserung der Lage der christlichen Landwirte. Der Erfolg ist wie früher: Tausende von Existenzen werden nutzlos ruiniert, ohne daß die christliche Landwirtschaft dadurch gebessert wird. Auch für den starken Schmuggel an der Westgrenze machte man überwiegend den Juden verantwortlich und wies folglich in einer Zone von 50 km längs der Westgrenze alle Juden aus. Nikolaus I. verschärft die jüdische Not durch ein ganz besonderes System. Er zieht die Juden, die bisher nur eine Rekrutensteuer zu zahlen brauchten, persönlich zum Militärdienst heran. Aber dabei kam es ihm gar nicht auf die Erfüllung der Wehrpflicht an, sondern auf die Assimilierung der jüdischen Jugend mit dem Mittel der Knute. Die Dienstzeit beträgt 25 Jahre. Das Alter der Rekruten mußte zwischen 12 und 25 Jahren sein. Man nimmt aber auch Kinder von 8 Jahren, wenn sich die genügende Zahl von Rekruten nicht auftreiben läßt; und das wird immer schwieriger, denn es setzt eine wilde Flucht der jüdischen Jugend ein, sobald die Aushebungskommissionen sich nähern. Dazu war reichlich Grund gegeben. Die jungen Rekruten wurden in die entlegensten Gebiete des Reiches verschleppt, damit sie keinerlei Möglichkeit hatten, mit Juden in Berührung zu kommen. Mit Hunger, Prügeln und Mißhandlungen aller Art versuchte man insbesondere die minderjährigen Rekruten zur Taufe zu bewegen. Die allermeisten von ihnen starben unter diesen Prozeduren, wenn sie nicht schon auf den meilenweiten Transporten umkamen. Aus 566 der Erfüllung der Wehrpflicht erwuchs das »Martyrium der Kinder«.

Diese Art der Assimilierung durch die Kaserne bewährte sich nicht. Man versuchte es mit der Assimilierung durch die Schule und erließ 1844 den Ukas »In betreff der Bildung der jüdischen Jugend«. Die angeordneten jüdischen Elementarschulen sollten nach der geheimen Instruktion an den Unterrichtsminister dazu dienen, die Angleichung an die christliche Bevölkerung und die Loslösung von der Vorstellungswelt des Talmud zu erreichen. Aber gegen diese Schulen setzten sich die Juden ebensosehr zur Wehr wie gegen die fünfundzwanzigjährige Versklavung ihrer Kinder. Sie mußten sich auch dagegen zur Wehr setzen, daß man ihnen den Rest ihrer Autonomie, die Kahalverwaltung, nahm und sie der allgemeinen Verwaltung unterstellte. Sie klammerten sich dafür um so eifriger an ihre Rabbiner und ihre Zaddikim. Sie gaben nicht nach. Sie waren keine Westjuden. Nicht einmal die Tatsache, daß im Westen das gefügigere Verhalten der Juden die Gewährung der Gleichberechtigung mindestens erleichtert und beschleunigt hatte, konnte sie zu irgendwelchen Konsequenzen veranlassen.

Der Abschluß der Judenemanzipation im Westen bahnt sich an mit dem Zusammenbruch der von Metternich verwalteten Reaktion. Von einer besonderen Spontanität in der Gewährung der Gleichberechtigung ist trotz der Revolution von 1848 wenig zu spüren. Wohl läßt die judenfeindliche Spannung in der öffentlichen Meinung erheblich nach, und die Revolution führt de jure zur Verkündung der allgemeinen Gleichberechtigung, ohne daß aber dadurch die verschiedenen Rechtsbeschränkungen aufgehoben wurden. Erst nach der Gründung des Norddeutschen Bundes, in dem Preußen die Führung übernahm, wurde das grundlegende Gesetz vom 3. Juli 1869 erlassen: »Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse hergeleiteten Beschränkungen der 567 bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.«

Mit der praktischen Durchführung des Gesetzes beginnt zuerst Preußen, Baden setzt erst 1862 die letzten Beschränkungen außer Kraft, Württemberg 1864. Österreich, das in der aufoktroyierten Verfassung vom 4. März 1849 verkündet hatte: »Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnis unabhängig«, hebt die Verfassung 1851 wieder auf. Erst 1867 wird die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz Wirklichkeit. Sie ging übrigens in den anderen Ländern nicht spontaner vor sich. In Italien wurde sie erst 1870, mit der Herstellung der Einheit des italienischen Reiches, durchgeführt. Als der Papst der »Gefangene im Vatikan« wurde, konnte der Gefangene des römischen Gettos endgültig frei werden. Er war aber schon so zermürbt, daß er auf die endliche Berührung mit Umwelt und Freiheit nur durch überschnelle, fast vollständige Assimilation reagieren konnte.

In England hing das Schicksal der völligen Gleichberechtigung nur noch von dem Umstand ab, daß für die Übernahme öffentlicher Ämter, insbesondere das eines Abgeordneten, die alte Formel im Gebrauch war, wonach einer »nach dem wahren Glauben eines Christen« den Eid leistete. Die zum Unterhaus gewählten jüdischen Abgeordneten konnten daher ihr Amt nicht ausüben. Jahr für Jahr nimmt das Unterhaus eine Bill an, die diesen Zustand ändert. Jahr für Jahr lehnt das Oberhaus mit konservativster Hartnäckigkeit diese Bill ab. Diesem Spiel der Interessen wird endlich im Jahre 1858 ein Ende gemacht.

Die freie Schweiz mit ihrem Häuflein Juden macht nach wie vor heftige Schwierigkeiten. Erst als es zu Konflikten mit Frankreich, Amerika und England kommt, weil die Schweiz 568 auch die jüdischen Bürger dieser Staaten mit dem Maßstabe ihrer eigenen Juden behandelt, entschließt sie sich, ausländische Juden nicht schlechter zu behandeln als andere Ausländer und ihrer in zwei Orten des Kantons Aargau wie in einem Ansiedlungsrayon eingeschlossenen jüdischen Bevölkerung die Freizügigkeit zu erteilen (1866).

Damit war in der Theorie das Problem der Gleichberechtigung in den europäischen Ländern im wesentlichen gelöst. Wenn man den Beginn der rechtlichen Ausnahmestellung der Juden in der Diaspora von Konstantin her datiert, hat sie rund eintausendfünfhundert Jahre gedauert. In diesen 1500 Jahren ist auf der Passivseite der jüdischen Geschichte diese Rechtsungleichheit ein Faktor von größter Bedeutung gewesen. Sie hört damit jetzt nicht etwa auf, ein solcher Faktor zu sein. Wir haben gesehen, mit welchem Opfer die Juden der westlichen Länder sich ihre Freiheit erkauft haben. Wir werden später davon zu reden haben, wie nutzlos dieses Opfer war. Nach Abschluß der eigentlichen Emanzipationskämpfe ist jedenfalls als Erfolg der vielfach veränderten jüdischen Ideologie die allmähliche Zerbröckelung der westlichen Judenheit in Staatsbürger der einzelnen Länder Tatsache geworden. Mit der Bezeichnung deutscher Jude oder französischer Jude ist ein neuer Begriff verbunden, der den Ton nicht mehr auf »Jude«, sondern auf »deutsch« oder »französisch« verlegt. Sie erfüllten nicht nur ihre selbstverständliche Pflicht gegenüber einem Staate, dessen Bürger sie geworden waren. Sie taten weit mehr. Sie lösten die Gemeinschaft ihres Ursprunges so weit auf, bis sie gegenüber dem Juden des Nachbarlandes dieselbe Fremdheit und Gegensätzlichkeit empfanden wie die anderen Bürger des einen gegen den Bürger des anderen Landes. Der nationale Chauvinismus der einzelnen westeuropäischen Staaten hat immer und oft unter den Juden eine sehr starke Vertretung gehabt. Da begegnen wir wieder dem Schicksal des Renegatentums auf der Ebene des Nationalen, der Unsicherheit, die aus 569 der unvollständigen Loslösung kommt und die zu viel tut, weil sie insgeheim immer fürchtet, man könne ihr vorwerfen, nicht genug getan zu haben.

Unvollständig war diese Loslösung von der Gemeinschaft des Ursprunges, weil immer noch und immer wieder Vorgänge die Welt aufrüttelten, die dokumentierten, daß es über aller Auflösung der Judenheit in Atome Kräfte gab, die in ihr eine Einheit sahen und die dem Juden als Bestandteil dieser Einheit sein besonderes jüdisches Schicksal bereiteten. Es sind einzelne Vorgänge und Dauererscheinungen. Im Jahre 1840 verschwindet in Damaskus der Kapuzinermönch Thomas. Sein Verbleiben ist nicht aufzuklären. Folglich richtet sich der Verdacht auf die Juden. Das alte Argument, daß sie an ihm einen Ritualmord verübt haben, lag in der Rüstkammer des Geistes noch bereit. Darüber erschrak sogar die europäische Welt, und zwar nicht weil dieses Argument noch lebte – in Rußland forderte es ja noch nach wie vor seine Opfer –, sondern weil es sich in ihrem eigenen Wirkungs- und Interessenkreis betätigte. Denn es geschah im orientalischen Interessenbezirk von Frankreich, England, Preußen und Österreich, und es war der französische Konsul Ratti-Menton in Damaskus, der sich zum Exekutor des Ritualmordglaubens machte, der Juden einsperrte und sie so lange foltern ließ, bis sie entweder starben oder aussagten, was er erwartete und verlangte. Sofort ist die ganze frühere Atmosphäre wieder belebt wie in alten Zeiten. Auf der Insel Rhodos entsteht ebenfalls eine Ritualmordaffäre, und wieder legitimiert die katholische Kirche ihren Glauben an den Ritualmord und ihr Bedürfnis, daraus Märtyrer zu gewinnen, durch die voreilige Aufstellung eines Denksteins in der Kapuzinerkirche zu Rom zum Andenken an das Martyrium des »Judenopfers«. Die europäischen Staaten, mit Ausnahme von Frankreich, protestieren. Aus London begibt sich eine jüdische Delegation unter Führung des englischen Juden Montefiore und des französischen Juden Crémieux nach 570 Kairo, um dort die Freilassung der noch lebenden Gefangenen zu erwirken.

1858 gibt Rom die Reprise eines Aktes aus dem Judendrama. In Bologna ist das Kind des Juden Mortara krank. Im Hause ist eine katholische Magd. Sie will für den Fall, daß das Kind stirbt, die Seele für den christlichen Himmel retten. Darum nimmt sie, als sei sie ein Priester, an dem kranken Kinde, das sechs Jahre alt ist, die Taufe vor. Sie berichtet späterhin diesen Vorgang der Kirche. Papst Pius IX. läßt darauf das Kind mit Gewalt aus dem elterlichen Haus rauben, hält gegen den Protest der ganzen Welt diese gestohlene Seele fest und läßt einen katholischen Priester daraus machen.

Das sind Vorgänge, unter den Augen der ganzen Welt vollzogen, die man nur dem Juden gegenüber wagt. Wenn es für die Juden der Zeit darüber hinaus noch eines Beweises bedurfte, daß aller Wille zur Atomisierung des Judentums nicht die Judenfrage aus der Welt schaffte, so wurde er ihm in den großen Judenzentren des Ostens als eine Dauererscheinung dargeboten. Nicht einmal diplomatische Vereinbarungen, die unter der Garantie der europäischen Großmächte standen, wurden respektiert, wenn es um die Juden ging. Auf dem Berliner Kongreß von 1878 wurde die Unabhängigkeit Rumäniens davon abhängig gemacht, daß es allen Landesbewohnern, auch den Juden, die Gleichberechtigung erteilte. Rumänien hat offenbar nie daran gedacht, diesen Teil des Vertrages zu erfüllen. Mehr als 250 000 Juden wurden von ihm in die Rolle von »Ausländern« verwiesen und jeder Beschränkung, jeder Verachtung und jeder blutigen Hetze ausgeliefert. Es fügte sich damit dem russischen System ein, das in immer neuen Variationen die Zersprengung und Auflösung seines jüdischen Bestandes versuchte. Nachdem der Katalog der Repressivmaßnahmen sich erschöpft hatte, wurde die Gewährung von Teilerleichterungen angewandt mit dem alten Ziel »der Verschmelzung dieses Volkes mit der einheimischen Bevölkerung«. In der Zeit von 571 1856 bis 1865 werden Einzelreformen durchgeführt. Die Juden werden bezüglich der Soldatenaushebung der übrigen Bevölkerung gleichgestellt. Großkaufleute, die in die »erste Gilde« eingetragen sind, dürfen sich in den »inneren Rayons« niederlassen. Dann wird das gleiche den Juden akademischer Grade gestattet, dann allen Personen mit Hochschulbildung, später unter sehr vorsichtigen Bedingungen den Handwerkern, ferner den Soldaten, die 25 Jahre gedient haben. Nach der Bauernemanzipation bekommen die Juden das Recht, Land zu erwerben. Sie bekommen das aktive und passive Wahlrecht für die Landstände und die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Es ist eine zögernde und wohlberechnete Art, die als ein ständiger Anreiz dienen soll und auch viel dazu beigetragen hat, den durch Besitz oder Bildung Privilegierten den Weg zur Assimilation zu eröffnen. Aber das ergab noch keine Verschmelzung, wie der Westen sie hervorgebracht hatte. Die russische Regierung denkt tief nach, woran es wohl liegen könne, daß die Juden sich nicht verschmelzen. Sie findet heraus, daß die Juden in einer geheimen Kahalorganisation einen starken Rückhalt hätten. Es bestehe ein »Weltkahal« und die französische »Alliance Israelite Universelle« sei eines der Organe. (Mit dieser Feststellung ist ähnlichen Entdeckungen in unserer Gegenwart jede Originalität genommen.) Von neuem wird eine Kommission an die Arbeit gesetzt mit dem Ziel der »größtmöglichen Lockerung der die Juden zusammenhaltenden Gemeinschaftsbande«.

Das Verfahren der russischen Reaktion hätte vielleicht Erfolg gehabt, wenn sie, wie die westeuropäischen Staaten, in der Lage gewesen wäre, aus dem allgemeinen Geistesleben her dem Juden eine Ideologie zu bieten, an der er sich neu und von seinem Ursprung weg hätte orientieren können. Das aber war für die Masse der Juden jedenfalls nicht zutreffend. Nur ein großer Teil der jüdischen Intelligenz und der jüdischen Jugend in den Mittel- und Hochschulen verschrieb sich mit 572 leidenschaftlichem Eifer der Idee der Russifizierung. Aber dieses Ideal des Russen, das sie in Gemeinschaft mit dem fortschrittlichen gebildeten Russentum entwerfen, war in seiner Konzeption und Formung wesentlich bestimmt dadurch, daß über eine Unsumme von Individualitäten die Uniformierung durch die polizeiliche Gewalt verhängt wurde, daß gegen ein eisernes System der Unterdrückung die Feuer der Revolution sich sammelten, um es zum Schmelzen zu bringen. Revolution als der gewaltsame Ausbruch des Freiheitswillens lag im tiefsten Kern der Russifizierung der jüdischen Intelligenz zugrunde. Die Ideologie der jüdischen Jugend in Rußland, so weit sie an der revolutionären Bewegung aktiven Anteil nahm, war nur dem Worte nach russisch; dem Gehalt nach war sie jüdisch. Sie ordnete ihr jüdisches Schicksal des Unterdrücktseins dem allgemeinen Schicksal des unterdrückten russischen Volkes unter. Ihr Ziel war nicht die Emanzipation des Juden, sondern die Freiheit, in der sie beschlossen liegen konnte. Freiheit ist ein uraltes jüdisches Ideal, ganz verschieden von dem der germanischen Freiheit. Es bedeutet nicht den Widerstand gegen das Beherrschtwerden, sondern im Gegenteil das absoluteste Beherrschtwerden, aber durch die Unterordnung in Freiwilligkeit. Dieses Grundgefühl, verbunden mit seiner praktischen Auswirkung, der Gerechtigkeit im Alltag, macht den Juden zum Teilnehmer an allen sozialen und freiheitlichen Revolutionen. Das ist sein gutes Recht. Er kann auch gar nicht anders.

So kann es nicht wundernehmen, daß an der Verschwörung, die zur Ermordung Alexanders II. im März 1881 führte, auch eine Jüdin teilnahm. Die verschärfte Reaktion, die daraufhin unter Alexander III. einsetzt, läßt erkennen, daß auf die Verschmelzungsversuche zwischen den Juden und der Umgebung Verzicht geleistet worden ist. Das ständig gefährdete Zarentum braucht zu seiner Stütze den loyalen Untertan, den politisch unbedingt ergebenen Anhänger, den, der im Sinne 573 des Thrones vollwertiger Russe ist. Darum die neue Parole: »Rußland den Russen.« Die Kehrseite ist der Alarmruf: »Der Jüd marschiert!« Das heißt: der Jude, der Nicht-Russe, bedroht das Russentum. Es wird – Fortsetzung des jüdischen Schicksals – die Atmosphäre geschaffen, in der sich die Pogrome abspielen.

Noch einmal wiederholt sich also hier in Rußland, was sich in der ganzen Welt abspielte: es wird der Versuch gemacht, auf dem Wege des Zwanges oder der zwangsweisen Erziehung den Juden kulturell oder zivilisatorisch der Umgebung anzugleichen, um seine immer noch als fremd empfundene Eigenart zu vernichten. Sobald der Jude diesen Weg beschreitet und zur Entfaltung seiner natürlichen Fähigkeiten gelangen kann, erhebt sich dagegen spontan der Widerstand der Umgebung und greift zu allen erdenklichen Begründungen, um seine Auflehnung gegen das von ihm selbst inaugurierte Ergebnis zu begründen. Wir werden in dem Kapitel über den Antisemitismus auch hierauf näher eingehen. Zwingend ist nur jetzt schon aus dem historischen Ablauf der Schluß, daß alle Bereitschaft des Juden, das Judenproblem gemäß den Wünschen der Umgebung zu beseitigen, daran scheitern muß, daß dieses Problem ihm von neuem durch eben diese Umgebung dargeboten und aufgezwungen wird. Es scheint also, als hätten wir es mit einem unlösbaren Problem zu tun, jedenfalls aber mit einem, zu dessen Lösung alle bislang angewandten Mittel und Methoden sich als völlig unzureichend erwiesen haben.

Die Erkenntnis, daß auch die outrierteste Assimilation des westlichen Juden immer nur und im günstigsten Falle das Problem des Einzelnen lösen könne, und oft nicht einmal seines, sondern erst das seiner Nachkommen, war auch in dieser Zeit der auflösenden Ideologien schon latent vorhanden. Damit war zugleich die schicksalhafte Verbindung zwischen den Juden in aller Welt anerkannt, die grundsätzliche Gemeinsamkeit ihrer Problematik. Aber schon ein solches Schicksal, auch 574 wenn es ganz passiv aufgefaßt wird, auch wenn es sich nur darum handelt, daß man unter ihm steht und ihm nicht entrinnen kann, ist Geschichte, ist Historie. Kein bewußter und kein unbewußter Weg, sich über die Gründe dieses passiven Geschickes Klarheit zu verschaffen, kann an der Geschichte als einem Gebiet der Forschung und der Orientierung vorüberführen. Darum geschieht es fast zwangsläufig, daß mit dem 19. Jahrhundert die jüdische Geschichtswissenschaft entsteht. Der Jude tut jetzt das, was er immer verweigert hat: er nimmt vom Ablauf seiner Geschichte Kenntnis und beginnt in ihr zu forschen. In der Atempause, in der im jüdischen Bezirk nichts Gestaltendes, sondern nur das Auflösende geschah, geht er dazu über, sich zu orientieren, und zwar nicht an der Meinung und Auffassung der Umgebung, sondern an dem objektiven Bestand dessen, was die Generationen in der Kette vor ihm an Erlebnis und Gestaltung aus sich entlassen hatten. Die ungeheure Wichtigkeit dieses Vorganges liegt darin, daß geschichtliche Betrachtung eine selbständige Erlebnisquelle werden kann und daß daraus wieder eine geistige Orientierung entstehen kann, die das Organische vom Unorganischen trennt, das heißt, die das Schicksal der jüdischen Nation begreiflich macht aus ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und nicht aus dem entstellenden Beiwerk, das der Zwang von Diaspora und Emanzipation und Assimilation hinzugefügt hat. Die Hinwendung zur jüdischen Geschichte bedeutet also für das 19. Jahrhundert den Beginn eines Wiederaufbaues mitten in den bedrohlichen Anzeichen eines überstürzten Verfalls. Als Begründer der jüdischen Geschichtswissenschaft kann Zunz (1794–1886) betrachtet werden und als ihr Höhepunkt (immer im Rahmen des 19. Jahrhunderts verstanden) Graetz (1817–1891). Daneben sind S. J. Rappoport (1790–1867), der Darsteller insbesondere der gaonäischen Epoche, und N. Krochmal (1785–1840), der die Philosophie der jüdischen Geschichte begründet, nicht weniger bedeutsam. Auch Geiger, der Erfinder der jüdischen 575 Missionsidee, und Z. Frankel, der Begründer der »positiv-historischen« Richtung haben hier ihren Platz. Sie alle, selber schon zu Bestandteilen der jüdischen Geschichte geworden, können im Rahmen dieser Darstellung keiner Kritik ihrer Grundanschauungen unterzogen werden. Sie unterstehen auch für uns keinem Werturteil mehr, sondern sind Elemente, deren Verschiedenartigkeit für den Historiker den Vergleich ermöglicht und die Entscheidung verlangt.

Zu solchen geschichtlichen Forschungen fügt sich wie eine organische Ergänzung die wachsende Belebung der hebräischen Sprache, und zwar nicht so sehr als ein philologisches, sondern als ein Ausdruckselement. Ein dem König Schelomo zugeschriebenes Sprichwort dringt tief in den metaphysischen Bestand ein: »Tod und Leben liegen in der Hand der Sprache, und die sie lieben, werden ihre Frucht genießen.« Das Wort macht lebendig. Es wirkt viel unmittelbarer als die Geschichte gemeinschaftsbildend. Darum kommt der Literatur, die jetzt entsteht, eine Bedeutung zu, deren historisches Gewicht größer ist als ihr literarisches und künstlerisches. Österreich und Rußland, wo es noch Massen gab, die der Sprache ein Echo werden konnten, sind im wesentlichen der Entstehungsort dieser Literatur. Es ist ursprünglich eine Zweckliteratur, die der »Aufklärung« dient, der Haskala. Diese östliche Haskala bemüht sich von allem Anfang an, das weltliche Wissen und die Kultur der Welt an das Judentum heranzutragen, nicht, wie der Westen, das Judentum an sie auszuliefern. Sie will einer echten Bereicherung des Judentums dienen, nicht einer verfälschten. Während die westliche Aufklärung nur eine Funktion erfüllen konnte zwischen Judentum und Umwelt, erfüllte die östliche Haskala sie zwischen der neuen und der alten Generation im Judentum selbst, zwischen dem Beharrungsvermögen der Orthodoxie und dem Auflösungswillen der Jugend. Darum und weil die nationale Sprache ihr Mittel und die nationalreligiösen Ideen ihre Grundfläche sind, kann sie auch 576 eines Tages vom Zweck zur wahren Produktivität übergehen. Das Schaffen wird Kunst und Dienst an der Gemeinschaft zugleich. Der Lyriker Micha Joseph Lebenssohn; der erste moderne hebräische Romandichter Abraham Mapu, dessen »Ahawath Zion« (Liebe zu Zion) für die Jugend des jüdischen Getto ein klassisches Werk wurde; Jehuda Leib Gordon, der Kämpfer für die freiheitliche Umgestaltung der jüdischen Lebensformen, sind die ersten Pioniere der Neugestaltung aus den Kräften des jüdischen Volkes selbst. Tiefer und inniger noch wird ihre Wirkung, wie sie dazu übergehen, im Jargon zu schreiben, in jener Sprache – zu der man wie auch immer stehen mag – die nun einmal für Jahrhunderte das Wort, das Äußerungsvermögen für Millionen von Menschen geprägt hat. Der liebenswerteste unter ihnen ist Salomon Abramowitsch (gestorben 1917), der unter dem Namen Mendele Mocher Sforim, der Bücherverkäufer, das jüdische Milieu des Ostens umfaßt, um es in der Gestaltung einer Umgestaltung zugänglich zu machen. Ihm ähnlich in der Tendenz, zur Umgestaltung der alten Lebensformen anzuregen, ist Eisik Meir Dick, wohl einer der populärsten Jargondichter des Ostens.

Somit konnte es scheinen, als gehe der jüdische Osten seinen Gang der Entwicklung für sich allein. Das ist in der Tat der Fall. Was hier im Osten in der Literatur zum Ausdruck kommt, ist schon beginnende Entwicklung, wenn auch in der Masse des Volkes noch keine Bewegung spürbar scheint. Aber auch im Westen finden wir sporadische Ansätze, auf die Erkenntnis von der Gemeinsamkeit des jüdischen Schicksals zu reagieren. Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück, zu der Feststellung, daß gegenüber jedem Willen zur Atomisierung des Judentums immer wieder Kräfte in der Welt aufstehen, die die Einheit des Judentums zum mindesten dadurch betonen und herstellen, daß sie den Juden ihr gemeinsames Schicksal als Juden bereiten. Das wird auch von den assimilierten Juden hier und dort eingesehen, und wenn aus dieser 577 Einsicht auch nicht Konsequenzen letzter Art gezogen werden, so wird doch mindestens das Interesse auch für die übrigen Teile des Judentums wieder aktiv. Auf solchem Interesse beruht es, daß Munk und Crémieux, die durch die Damaskusaffäre mit den morgenländischen Juden in Berührung kommen, 1841 in Kairo und Alexandrien jüdische Elementarschulen gründen. Darauf beruht es auch, daß 1860 unter der Führung Crémieux' in Paris die Alliance Israelite Universelle gegründet wird, die sich zwei Aufgaben stellt: überall die Emanzipation und den moralischen Fortschritt der Juden zu fördern; sodann allen denen, die darum, weil sie Juden sind, Verfolgungen erdulden, tatkräftig Beistand zu leisten. Ein solches Programm bedeutet eine Solidaritätserklärung mindestens aus dem Gesichtspunkt der Verantwortung für alle Juden der Welt. Solche Solidarität, die de facto eine Internationalität bedeutet, mußte aber diejenigen Juden verletzen oder beunruhigen, die mit der neuen Staatszugehörigkeit auch ihre Nation gewechselt hatten und aus der Teilnahme an einer internationalen jüdischen Institution Vorwürfe oder noch Schlimmeres befürchteten. Sie veranlaßten daher eine Spaltung. 1871 entstehen die »Anglo-Jewish Association« in London und die »Israelitische Allianz« in Wien. Das ist eine Reflexbewegung der Assimilation, die noch in der menschlichsten Gebärde die Distanz betonen möchte, zu der sie die neu aufgenommene Nationalität verpflichtet.

In dem gleichen Zeitraum der Auflösung melden sich aber auch schon Stimmen, die von einer anderen Konsequenz des als gemeinsam erkannten Judenschicksals zeugen. Es sind Einzelmanifestationen, die unter sich keinen gewollten Zusammenhang haben, die auch in ihrer Addition noch keine geistige Bewegung darstellen, aber der Beweis dafür sind, daß es Kräfte im Judentum gibt, die sich ihren Raum immer wieder selbst schaffen, so wie ein künstlich zurechtgeschnittener Baum immer die Tendenz hat, seine Zweige nach seiner eingeborenen 578 und naturhaften Form zu entfalten. Diese Manifestationen betonen die Einheit aller Juden in ihrer Eigenschaft als Nation; sie decken die Existenz eines lebendigen Volkskörpers auf und suchen von da aus, von den Bedürfnissen des jüdischen Volkes aus, und nicht von denen der Umgebung aus, die Judenfrage zu lösen. Einer der ersten dieser Propagandisten ist der Politiker und Journalist Mardochai Manuel Noah, der 1825 die Insel Grand Island im Niagara erwirbt und dort Juden zwecks Vorbereitung für die Übersiedlung nach Palästina in autonomer Gemeinschaft ansiedeln will. Ein Realpolitiker war er sicher nicht, und so mußte er das Scheitern seines Planes in Kauf nehmen. Dagegen entfaltet er eine Propaganda unter den Christen, damit sie bei der »Wiedergeburt der Juden« ihre Hilfe leisteten. Solches Beginnen war recht verfrüht, aber nicht so ganz absurd, wie es scheinen mochte, denn bei der Konferenz der mitteleuropäischen Mächte, die über das Schicksal von Syrien und Palästina beriet (1840/41), wurde auch der Vorschlag diskutiert, in Palästina wieder einen jüdischen Staat zu errichten. Colonel Churchill, der englische Konsul in Syrien, schlägt dem jüdischen »Deputiertenkomitee« in London allen Ernstes vor, Palästina wieder als die nationale Heimstätte der Juden zu propagieren und eine jüdische Massenwanderung dahin zu erzeugen. Ein Jahr zuvor hatte eine anonyme Schrift »Neu-Judäa« von C. L. K. zur Bildung eines jüdischen Staatswesens in Nordamerika aufgefordert. Ein gleichzeitiger und ebenfalls anonymer Aufsatz in der Leipziger jüdischen Wochenschrift »Orient« propagiert die Gründung eines Nationalheims in Palästina. Das alles waren vorweggenommene Forderungen Einzelner, die für sich selbst die alte Wahrheit von der Existenz eines jüdischen Volkes wiederentdeckt hatten, ohne mit dieser Erkenntnis auf große Resonanz im Westen rechnen zu können.

Diese Resonanz fand nicht einmal der offizielle jüdische Geschichtschreiber der Zeit, Graetz. Dieser unermüdliche 579 Arbeiter, dem die jüdische Geschichtsforschung unendlich viel verdankt, war keineswegs seinem Willen und seinem Bewußtsein nach das, was wir heute unter einem Nationaljuden verstehen. Er war durchaus aufgeklärter Westjude und stark betont deutscher Jude. Aber sein Wille zur objektiven Darstellung gerät ihm fast unversehens zu einer Erkenntnis, die er im 5. Band seiner großen »Geschichte der Juden« (1859/60) wie folgt formuliert: »Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraumes hat also immer noch einen nationalen Charakter, sie ist keineswegs eine bloße Religions- oder Kirchengeschichte, weil sie nicht bloß den Entwicklungsverlauf eines Lehrinhalts, sondern auch einen eigenen Volksstamm zum Gegenstand hat, der zwar ohne Boden, Vaterland, geographische Umgrenzung und ohne staatlichen Organismus ist, diese realen Bedingungen aber durch geistige Potenzen ersetzt.« Eine solche Äußerung mußte in dem assimilierten Milieu, in dem er lebte, Symptom bleiben. Erkenntnis und Konsequenz fallen erst zusammen mit zwei Gestalten, in deren Äußerungen man den Beginn der Geschichte des Zionismus erblicken kann: Moses Heß und Hirsch Kalischer, jener mit seiner Schrift »Rom und Jerusalem«, dieser mit der Schrift »Drischath Zion«. (Beide erschienen 1862.) Heß' Interesse geht auf die politische Restauration der jüdischen Nation, Kalischers Interesse auf die kulturelle. Heß' Folgerung ist für die damalige Zeit und Einstellung von ungewöhnlicher Prägnanz: »Das Judentum ist vor allem eine Nationalität, deren Geschichte, Jahrtausende überdauernd, mit jener der Menschheit Hand in Hand geht . . . Solange der Jude seine Nationalität verleugnen wird, weil er eben nicht die Selbstverleugnung hat, eine Solidarität mit einem unglücklichen, verfolgten und verhöhnten Volke einzugestehen, muß seine falsche Stellung mit jedem Tage unerträglicher werden . . .«

Diese letztere Bemerkung zielt, wie ohne weiteres erkennbar, auf den assimilierten Juden ab. Sie ist die erste bewußte 580 Formulierung des Themas, von dem wir für dieses Kapitel ausgingen. Heß zieht hier eine der möglichen Konsequenzen, aber eine sehr wichtige. Er weist auf, daß der Assimilationsjude mit einer Konstruktion seines Judentums lebt, die von der Zeit und der Umgebung und von allen auf den Juden gerichteten Vorgängen in ihnen fortgesetzt desavouiert wird. Gerade das Milieu, in dem die Verfälschung der jüdischen Ideologie am stärksten eingesetzt hatte, Frankreich, Deutschland und Österreich, beginnt jetzt aufs neue und mit einer einheitlichen Bewegung, die Entscheidung der assimilatorischen Juden zu desavouieren. Nachdem der Westjude für seine Beziehung zur Umwelt die abschließende Formel gefunden, findet die Umwelt für ihre Beziehung zum Juden ebenfalls die abschließende Formel. Sie heißt Antisemitismus. Mit ihm werden wir uns jetzt beschäftigen müssen.

 


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