Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Zentralisation

Das ausgehende 19. Jahrhundert bedeutet für das Judentum den Zeitraum der Entscheidungen und der Scheidungen, der Auflösungen und der Lösungen. Es ist der letzte historisch erfaßbare Abschnitt der jüdischen Geschichte. In ihm vollzieht sich die Zentralisation, das Streben nach Mittelpunkten, geistig und geographisch. Das Streben geht nicht nach einem einzigen Mittelpunkt, und zuweilen liegt er nicht im jüdischen Volke selbst, sondern außerhalb, irgendwo in der Umwelt oder der Welt. Aber auch da, wo das Suchen nicht zum Volkstum hin, sondern von ihm fort strebt, ist es noch in jedem Sichversagenden, in jedem Renegaten und in jedem Assimilanten das jüdische Streben nach der Einbezogenheit in den Umkreis irgendeiner geistigen Idee in der Welt, der leidenschaftliche Wille, nicht Einzelgänger zu sein, der die Welt höhnisch als sein 613 Objekt betrachtet, sondern Mit-Mensch, der mit anderen sich der Welt oder einem Gedanken aus ihr verdingt. Im Guten wie im Bösen sind sie alle der Idee des Gemeinsamen verhaftet.

Die antisemitische Bewegung, die wir soeben dargestellt haben, hat, obgleich wir sie als das Problem des Nicht-Juden darstellten, dennoch im praktischen Ergebnis einen Einfluß auf die jüdische Ideologie insofern, als sie den Gedankengängen und Interessen der jüdischen Assimilanten einen Widerstand entgegensetzt, um dessen Überwindung sie sich bemühen. Ihr Verhalten ist durchaus konsequent. Die Umgebung forderte bei der Gewährung der Emanzipation vom Juden den Verzicht auf seine nationale Absonderung und Haltung, und alsbald reagierte das westliche Judentum darauf durch die Abtrennung der jüdischen Religion von ihrem nationalen Bestande. Auf dieser Ebene liefert sie sich der Assimilation aus. Jetzt richtet der Antisemitismus zwischen ihnen und der Umgebung von neuem mit nationaler Begründung eine Schranke auf. Sie kann nur eingerissen werden, wenn der Jude nun seinerseits betont, mit welcher Entschiedenheit und Ausschließlichkeit er sich zum jeweiligen Nationalismus bekenne. Damit geben sie stillschweigend zu, daß die Existenz einer Gruppe von Menschen nur als religiöser Gemeinschaft in einer national organisierten Umgebung gar nicht möglich ist. Die Tragik ihrer Konsequenz ist aber, daß das nationale Argument der Umgebung nicht Selbstzweck war, sondern nur einer der Vorwände für eine erneute Manifestation des Fremdheitsgefühles gegenüber dem Juden, daß also die Motivierung in dem Augenblick, in dem sie gegenüber der weitgehenden nationalen Assimilation der Juden nicht mehr zutreffend ist, einfach durch eine andere Motivierung ersetzt wird. Hier rächt sich für den Juden der Verlust des historischen Augenmaßes, und er wird so gezwungen, Energien für einen hoffnungslosen Kampf zu entfalten und zu verschwenden. Er tut es in vierfacher Weise: durch Abwehr, durch 614 Apologie, durch den weiteren Ausbau der Idee des nationslosen Judentums und, als indirekte und direkte Folge, durch Verminderung des effektiven und des geistigen Bestandes des Judentums.

Unter dem ersten Ansturm der antisemitischen Bewegung versucht insbesondere der Jude in Deutschland, ihr durch Vorstellungen bei den Regierungen zu begegnen. Da die Regierungen, einschließlich Bismarck, aber die politischen Nutznießer des Antisemitismus waren, ergab sich die Erfolglosigkeit von selbst. Auch die literarische Polemik, die das Nichtvorhandensein eines nationalen Judentums energisch und gutgläubig betonte, konnte unmöglich auf eine Bewegung einwirken, die zu ihrer Begründung keines sachlichen Argumentes bedurfte, folglich auch zu ihrer Widerlegung keiner sachlichen Argumentation zugänglich war. Es spielt dabei keine Rolle, daß der Antisemitismus von einer objektiv richtigen Behauptung – der der Existenz einer jüdischen Nation – ausging, denn er mißbrauchte die objektive Tatsache ja nur zur Begründung eines subjektiven Werturteils. Viel wichtiger als ihre Wirkungslosigkeit nach außen ist diese literarische Polemik in ihrer Wirkung nach innen; denn die Absage an das Volkstum im Judentum, von gewichtigen Stimmen wie denen eines Lazarus und eines Hermann Cohen erhoben, schafft unter der westlichen Judenheit tatsächlich eine Atmosphäre, in der auf den Anruf eines lebendigen Volkskörpers nichts mehr antwortet und dem Bewußtseinsinhalt nach nichts mehr antworten kann. Es ist eine Bewußtseinsverlagerung eingetreten, die dennoch unvollkommen ist, weil sie auf ein Unrecht, das irgendwo in der Welt dem Juden als Juden geschieht, immer noch spontan und aus schicksalhafter Verbundenheit reagiert.

Es soll gerechterweise nicht mit Stillschweigen übergangen werden, daß in Deutschland und in Österreich (1890–1891) unter der Teilnahme klangvoller Namen Vereine zur Abwehr des Antisemitismus gegründet wurden, in denen Nichtjuden 615 eine führende Rolle spielten. Ihre Mühewaltung ist anerkennenswert und ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Problem als solchem verständlich. Die Juden entschlossen sich dann auch zu einer eigenen organisierten Abwehr im »Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Er hat getan, was gegenüber dem Antisemitismus getan werden kann: im Einzelfall den rechtswidrigen Angriff mit den Mitteln des Rechts abwehren. In diesem Umfange sind seine Verdienste erheblich. Daß er am Problem selbst nichts Grundlegendes ändern kann, fällt ihm nicht zur Last, weil es dazu keine Möglichkeit gibt. Aber er ist in hohem Grade mitverantwortlich dafür, daß eine der stärksten Resistenzkräfte des Juden: sein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit dem Juden in aller Welt, untergraben wurde. Ein Kardinalsatz seiner Motivierung ist: »Wir haben mit den Juden anderer Länder keine andere Gemeinschaft als die Katholiken und Protestanten Deutschlands mit den Katholiken und Protestanten anderer Länder.«

Diese Maxime wurde mehr als die Losung eines Vereins. Sie wurde zum Maßstab für das Verhalten des größten Teils der westlichen Juden. Sie war das Schlußergebnis einer hundertjährigen Entwicklung und das nationale Glaubensbekenntnis einer Generation, die in den nationalen Schulen des Landes aufgewachsen war. Sie wird auch, ohne es eigentlich zu wollen, der Ausgangspunkt für die fortgesetzte Auflösung des jüdischen Bestandes im Westen. Sie ist die Formel, die den Übergang von der kulturellen Angleichung bis zum völligen Ausscheiden aus dem Judentum beschleunigt und ermöglicht. Der Begriff Assimilation verliert seine Eindeutigkeit. Er bedeutet immer weniger den produktiven Vorgang der Aufnahme von Kulturgütern der Welt. Er wird immer mehr die Bezeichnung für die Flucht aus dem Judentum. Die geistige und die rassenmäßige Assimilation in diesem Sinne wird zu einer Dauererscheinung im westlichen Judentum. Übertritte zum Christentum erfolgen gleichmäßig weiter. Die Mischehen nehmen zu. Schon im Jahre 1899 616 ist in Deutschland jede fünfte jüdische Ehe eine Mischehe. Der Substanzverlust des jüdischen Volkes durch Mischehen in den letzten 50 Jahren ist, allein in Deutschland, ungewöhnlich groß. So waren, um ein Beispiel zu geben, von 103 000 jüdischen Ehen, die 1900–1927 geschlossen wurden, 33 800 Mischehen, also rund ein Drittel. Daß dennoch der Weltbestand an Juden für das Jahr 1925 mit rund 15 000 000 zu errechnen ist, ist sicher nicht auf Konto der westlichen Judenheit zu setzen. Es kann aber aus solcher Zahl höchstens etwas gefolgert werden für das allgemeine Problem der Weltjudenheit: ihre Verteilung, ihre Dichte, ihre Berufsgliederung, ihre rechtliche und soziale Lage; nicht aber für das, was uns das Wesentliche sein muß: ihr aktives oder passives Verhalten als Juden im Bewußtsein ihrer jüdischen Zugehörigkeit. Das Assimilationsproblem hat das Judentum mit einem ganz neuen Typ belastet, mit dem passiven Juden, der nicht zur Taufe und zur Mischehe geht, aber dessen Beziehung zum Judentum nur noch auf dem Beharrungsvermögen beruht. Es gibt kein von Juden bewohntes Land der Welt, das nicht solche Schichten aufzuweisen hätte, besonders Länder wie Österreich, Ungarn, Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Holland, England, Italien. Die Atomisierung des Judentums ist effektiv vollzogen. Im Weltkrieg ist ihr Gelegenheit gegeben worden, sich praktisch zu erweisen. Auf allen Fronten standen Juden gegen Juden. Das war eine Tragik, die dennoch von niemandem zu verantworten war und die sich wiederholen kann, solange es noch Kriege gibt und Juden ihren Gastnationen gegenüber zur Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Verpflichtungen gehalten sind. Aber es geschah damals auch das Ungeheuerliche, daß Rabbiner, »jüdische Feldgeistliche«, die Waffen segneten, die zum Mord am Nebenmenschen und am Juden jenseits der Grenze bereit lagen. Das ist ein Verbrechen, das wir alle zu verantworten haben. Was der im Weltkriege bekundete leidenschaftliche Wille der Juden zur Assimilation sonst für sie an Wirkungen und Vorteilen bedeutet, 617 ist historisch noch nicht greifbar. Die Opfer, die draußen und daheim gebracht wurden, sind groß. Am Judenhaß haben sie nichts geändert. So tragen diese Opfer für die verschiedenen Vaterländer einen Sinn, der uns einstweilen noch verborgen ist. –

Wir waren genötigt, die Atomisierung des Judentums als eine vollzogene Tatsache anzusehen. Es kommt also nunmehr darauf an, festzustellen, ob das Judentum in seiner Gesamtheit diese Erscheinung widerspruchslos und ohne Gegenwehr aufgenommen hat. Die Geschichte hat bereits die Antwort erteilt in der nationalen Bewegung im Judentum. Sie ist der andere Zentralisationsgedanke dieser Epoche: die Hinwendung zum eigenen Volkstum als gewolltem und erlebtem Mittelpunkt der Existenz. Diese Bewegung umfaßt alle diejenigen Juden, die den Weg der Assimilation, der Auflösung im Bestand der Umgebung, nicht gehen können und nicht gehen wollen, weil sie ihre Gemeinschaft als ein nach eigenen Gesetzen lebendes Volk erkannt haben und den Glauben an die schöpferische Kraft dieses Volkstums noch nicht verloren haben. Es handelt sich also hier um eine der Entscheidungen, die das Judentum selbst in seiner Krisensituation getroffen hat. Die Beweggründe für die einzelnen, aus denen sie zu solcher Entscheidung kamen, sind verschiedenartig. Nicht überall stand das Erlebnis »Volk« mit spontaner Gewalt auf. Vielmehr ist der Anteil der Umwelt an dieser Neuorientierung sehr groß. Ihre Art, auf den Juden in allen erdenklichen Situationen und mit jeweils allen erdenklichen Mitteln zu reagieren, mußte notwendig zu der Erkenntnis führen, daß es der Umwelt um eine friedliche und objektive Lösung der Judenfrage gar nicht zu tun war, daß es also – insbesondere auf dem Wege der Assimilation – diese Lösung gar nicht gab. Es konnte daher, solange ein Lebenswille im Judentum überhaupt noch bestand, nur der Weg zu sich selbst gegangen werden, im vollen Bewußtsein dafür, daß auch diese Hinwendung zu sich selbst und zum eigenen Volkstum 618 dieselben feindlichen Reaktionen hervorrufen würde wie die Wegwendung von sich selbst und zu einem fremden Volkstum. Wenn die Fremdheit von Art zu Art ein Naturgesetz zu sein scheint, erweist sich die Aufgabe der Eigen-Art als ein törichtes und unfruchtbares Opfer.

Das wurde zuerst im Osten, insbesondere in Rußland, von denjenigen erkannt, die in Gemeinschaft mit den russischen Liberalen und Fortschrittlern an einer freiheitlichen Ausgestaltung Rußlands arbeiteten und die sich der Russifizierung im weitesten Umfange verschrieben hatten. Aber die Ereignisse belehren sie über die Unmöglichkeit, auf dem Wege der Russifizierung mehr als ihr eigenes, persönliches Problem zu lösen. Die große Masse, die diesen Weg nicht hat und auch nicht gehen will, ist hoffnungslos der Bedrückung und Vernichtung preisgegeben. Im Anfang ihrer Erwägungen steht das Bewußtsein von der ungeheuren Judennot, die man beseitigen muß. Ihr Ziel ist Hilfe, nicht Restauration. Aber sie müßten nicht Juden sein, um nicht von der Erwägung, wie im Augenblick zu helfen sei, zu dem Gedanken fortzuschreiten, wie generell zu helfen sei; und solches fortschreitende Denken kann nur dazu führen, die Gesetzmäßigkeit im Juden und in seiner Umwelt zu entdecken, aus der die Sonderheit von beiden und ihrer Beziehung zueinander sich ergibt. Leon Pinsker ist der erste, der in seiner Schrift »Autoemanzipation« (1882) zwischen der Tatsache der Diaspora und dem verkümmerten Leben des jüdischen Volkes eine Beziehung herstellt. Sein Vorschlag geht dahin, daß die Juden in Palästina oder in Amerika ihr schattenhaftes Dasein wieder zu etwas Wirklichem gestalten sollten. Die Idee einer neuen und bewußten Zentrumsbildung wird akut. Sie richtet ihr Augenmerk auf die beiden Länder, die den Juden allein noch Möglichkeiten verheißen: auf Amerika als das Land der praktischen und auf Palästina als das Land der ideellen Möglichkeiten.

Einstweilen lag der Ideologie Amerika noch näher als 619 Palästina, weil die Tatsachen ihr vorausgeeilt waren. Amerika war ein jüdisches Einwanderungsland geworden. Auf jede neue Bedrückung in Europa reagierte das Judentum durch Abwanderung nach Amerika. Es war das Land, in dem man den nationalen Hochmut noch nicht kannte und in dem keine kirchliche Tradition Macht über die Seelen besaß, ihre Gläubigkeit in Judenhaß zu verwandeln. Aber es war nicht nur das Land der Freiheit, sondern auch zugleich der Konzentration. Schon um 1880 betrug die Zahl der Juden in Amerika rund 250 000, davon allein 60 000 in New York. Mit suggestiver Gewalt zog diese neue Siedlung die Juden an. Ganz instinktmäßig wendet sich eine in die Millionen gehende jüdische Wanderung dorthin, Jude zu Jude hingezogen, in Fortsetzung des nicht ausgestorbenen Dranges nach Nähe und kompakter Gemeinschaft. Es beginnt die zahlenmäßig größte Wanderung, die das Judentum je vorgenommen hat. Hier ist in jedem Sinne des Wortes eine »Völkerwanderung« gegeben, denn so wandern nur Völker, nie Religionsgemeinschaften. Was in Galizien unter dem polnischen Druck des Boykotts nicht mehr existieren kann, flieht nach Amerika. Was in Rumänien unter den legalen Pogromen nicht mehr leben will, flieht nach Amerika. Nach dem russischen Gemetzel von 1881 brechen viele Tausende in überstürzter Hast nach Amerika auf. Das gleiche geschieht nach dem Pogrom von 1882. Unter der Gegenreform Alexanders III. ist die jährliche Auswanderung im Durchschnitt 30 000 Seelen stark, in den beiden Jahren 1891 und 1892 über 100 000, von 1903 bis 1905 über 125 000. Ein Volk hat sich in Bewegung gesetzt und den großen Rückschwung der Pendelbewegung eingeleitet, in der die jüdische Geschichte in der Diaspora verläuft.

Obgleich ökonomische Ursachen an dieser Wanderungsbewegung entscheidenden Anteil haben, ist sie ihrem Wesen und ihrer inneren Konstitution nach eine nationale Wanderung, nicht nur der Zahl nach, sondern auch der Idee nach, die sich 620 in zweifacher Weise ausdrückt: einmal durch die Bildung einer geschlossenen Wohnsiedlung in der Down Town von New York, sodann durch die Überzeugung, daß der Jude zum Ackerbau zurückkehren müsse. Wenn die ungewöhnlichen Schwierigkeiten, eine neue Existenz aufzubauen und die Unerfahrenheit der ersten Kolonisten dieser letzteren Idee auch nur eine geringe Wirklichkeit bereiten, so ist doch der Impuls wieder sichtbar geworden, der der Heimatlosigkeit die radikalste Auflösung: eben die Verankerung mit dem Grund und Boden entgegensetzen will. Von diesem Gesichtspunkt geht auch die großzügige Aktion aus, die Baron Moritz Hirsch 1891 in die Wege leitet. Sein ursprünglicher Plan war, die Judenheit Rußlands durch organisierte Abwanderung um ein Drittel zu vermindern und gleichzeitig die Emigranten als Ackerbauer anzusiedeln. Zu diesem Zwecke läßt er in Argentinien, wohin schon 1889 Juden ausgewandert waren, Land ankaufen. Im Herbst 1891 gründet er die Jewish Colonisation Association, die eine Massensiedlung russischer Juden in den amerikanischen Ländern, vor allem Argentinien, durchführen sollte. Zu einer wirklichen Massensiedlung konnte das Projekt aus verschiedenen Gründen nicht führen. Es fehlten nicht nur die Mittel für die zu groß gesteckte Aufgabe, sondern es wurden auch erhebliche Fehler in der Verwaltung gemacht. Entscheidend aber war, daß lediglich die Aussicht auf ein unangefeindetes Leben für die Juden keinen genügenden Anreiz bot. Unter zwei Lebensmöglichkeiten wird der Jude stets die schlechtere wählen, wenn mit ihr die Nähe und Nachbarschaft anderer Juden und damit die Möglichkeit einer Gemeinschaftsbildung verbunden ist. Darum brachten es die argentinischen Siedlungen bis 1900 nur auf einen Bestand von etwa 7000 Seelen.

Aber der Ruf nach dem Lande, seit undenkbaren Zeiten zum ersten Male im Judentum erhoben, verstummte nicht mehr. Er bedeutet eine grundlegende Revolutionierung des Judentums, weil dieses aus der Landwirtschaft erwachsene Volk seit 621 Jahrhunderten, freiwillig und unfreiwillig, vom Boden abgedrängt war; unfreiwillig durch Gesetzgebung; freiwillig, weil sie als »Land« nur Palästina begriffen, und weil sie jetzt wieder einen Zusammenhang begriffen zwischen Land und Schicksal. Land war doch die Verheißung, mit der das Judentum als Volk aufgewachsen war. Das »Heilige Land« ist ein jüdischer Begriff und eine jüdische Denkart. In der Rückkehr zu diesem Begriff und dieser Art des Denkens liegt die Rückkehr zum Anfang des Werdens beschlossen. Jenseits aller Parteieinstellung ist hierin der wiedererwachende Gestaltungswille einer Gemeinschaft zu erblicken und zu respektieren.

Zu einer Bewegung verdichtet sich der Ruf nach dem Lande schon 1882, als in Charkow junge Menschen, meist Studenten, die Bilu gründeten, die sich die Errichtung landwirtschaftlicher Kolonien in Palästina als Ziel setzten. Über die russischen Ansiedlungsrayons hin breiten sich die Vereine der »Palästina-Freunde«, der Chowewe Zion aus. Im Sommer 1882 landen die ersten Bilu-Leute in Palästina. Wenn irgend das Wort Pionier in seinem opfervollen Sinne angewendet werden kann, so hier auf diese Menschen, die in harter Arbeit das Ödland aufbereiten. Langsam und unter schwersten Bedingungen entstehen Kolonien. Es kommen Gruppen rumänischer Juden und siedeln sich an. Sie haben alle mit den Krankheiten des Anfangs zu kämpfen. In der größten Not springt der Pariser Edmond Rothschild ein. Er bestellt für die Kolonien eine eigene Verwaltung, die die Kolonisten entlohnt und den Gründungen, wenn auch über viele Entartungserscheinungen hinweg, doch ihre Fortexistenz ermöglicht. Nach und nach, unter Opfern und Rückschlägen, zieht sich ein Netz von jüdischen Kolonien über das Land. Bei Ausbruch des Krieges waren es 43. Zu dieser Zeit waren sie bereits in den Interessen- und Wirkungskreis einer Bewegung geraten, die sich aus den Elementen der nationalen Ideologie zu einer organisierten Form entwickelte: des Zionismus. 622

In den Ideen eines Heß, eines Kalischer, eines Pinsker und aller derer, die sich um eine praktische Lösung der Judenfrage auf der Grundlage ihrer wirklich historischen Voraussetzungen bemühten, war der Zionismus dem Kern nach schon enthalten. Er mußte jetzt nach den Gesetzen der Entwicklung so notwendig entstehen, wie seine entgegengesetzte Bewegung, die Tendenz zur Auflösung des Judentums, entstanden war. Er mußte auch, da er der assimilatorischen Bewegung aller Grade diametral entgegengesetzt war, die Feindschaft jener Kreise hervorrufen, die die Voraussetzung des Zionismus, die nationale Grundlage des jüdischen Volkes, verneinten. So sehr auch innerhalb des nur als religiös begriffenen Restjudentums über die Religion selbst Differenzen zwischen den Liberalen und den Orthodoxen bestehen, über eines sind sie sich einig: daß die zionistische Bewegung ihres nationalen Gehaltes wegen zu bekämpfen sei. So bekundet sich die Sonderheit des jüdischen Schicksals auch darin, daß es das erste und einzige Volk ist, das in dem Kampf um seine schöpferische Neugestaltung die erbittertsten Feinde im eigenen Lager findet. Aber es bleibt – jenseits jedes Ressentiments – festzustellen, daß wir es hier mit zwei historischen Fakten zu tun haben, die die extremen Möglichkeiten eines Volkes verkörpern und einander daher notwendig feind sein müssen.

Die Entstehung der zionistischen Bewegung ist unlösbar verknüpft mit dem Namen Theodor Herzl. Er entstammte einem bürgerlichen, liberalen und assimilierten Hause in Budapest und unterschied sich wenig von anderen intelligenten Juden seiner Zeit und seines Milieus, bis ihm die Vorgänge im Dreyfus-Prozeß, die er als Journalist erlebte, zum entscheidenden Anstoß wurden. Von da an datiert er selbst seine Abkehr vom Assimilationsjudentum und seine Hinwendung zur nationalen Idee. Der Impuls dieser Abkehr und Umkehr ist so stark, daß er sich in ihm alsbald zu konkreter Formulierung verdichtet. Er begreift die Judenfrage und demgemäß ihre Lösung 623 zunächst streng als politisches Problem. »Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.« Als Ziel stellt er auf: »Eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für jene zu schaffen, die sich nicht assimilieren können oder wollen.« Er verfaßt über seine Idee eine Schrift, »Der Judenstaat«, die 1896 erscheint und das Problem zur öffentlichen Diskussion stellt. In diesem Werke ist er noch unentschieden, ob Argentinien oder Palästina das Land der Heimstätte werden solle; aber aus dem Echo, das zu ihm dringt, begreift er, daß es nur Palästina sein kann. Dieses Problem: Palästina oder ein anderes Land, fand später noch einmal seine Aktualität, als die britische Regierung den Zionisten in Uganda (in Britisch-Ostafrika) Land für die Massenansiedlung von Juden zur Verfügung stellte. Nach leidenschaftlichen Kämpfen innerhalb der Partei wurde das Angebot abgelehnt. Die Ablehnung war folgerichtig. Auch in der rein politischen Fassung, die Herzl dem Zionismus in seinen Anfängen gegeben hatte, schwang doch die ganze Unzahl der Imponderabilien mit, die das Blut der Bewegung darstellten: die Gebundenheit an das Land, für das das Judentum so viel Blut verloren hat, wie kein Volk für kein Land verloren hat; in dem zu leben es auch in der Zerstreuung nie aufgehört hatte. Es ist möglich, daß für eine jüdische Siedlung andere Länder technisch geeigneter sind. Es fehlt ihnen aber die seelische Eignung.

Im Jahre 1897 schafft die zionistische Bewegung sich ihre Publizität und ihre Repräsentanz. Im August tritt in Basel der erste Kongreß zusammen, auf dem das Programm seine bis heute gültige Fassung erhält: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.« Es entsteht die Exekutive, die erste Ausdrucksform einer wirklichen jüdischen Internationale. Die Kongresse werden zu einer regelmäßigen Institution, und 624 alle Wandlungen, die die zionistische Idee in der verhältnismäßig kurzen Dauer ihres Bestandes durchmachte, finden dort den oft leidenschaftlichen Ausdruck. Schon der zweite Kongreß (Basel 1898) zeigt auf, daß sich im Zionismus eine wirkliche Bewegung bekundet, daß bei gleichem Richtungssinn der Idee die Ansichten über Mittel und Methoden weit auseinandergehen. Während die einen die praktische Aufbauarbeit in Palästina betont wissen wollen, erhoffen die anderen alles von politischen Aktionen. Solche Aktionen finden auch statt. Herzl betätigt sich unermüdlich. Er versucht wiederholt bei der türkischen Regierung einen Charter, einen Freibrief für die jüdische Ansiedlung in Palästina zu erreichen. Er hat keinen Erfolg. Der Zionismus hat in der Vorstellung der Herrschenden noch keine Weltgeltung; darum müssen die politischen Aktionen erfolglos sein. Aber nicht nur die Idee, sondern auch die verstärkte Judennot des Ostens verlangen, daß über den politischen Versuchen die praktische Arbeit nicht unterlassen werde. So beginnt die Arbeit am Ausbau der jüdischen Kolonien in Palästina. Schon auf dem 10. Kongreß erklärte der neue Präsident David Wolffsohn: »Nicht einen Judenstaat wollen wir schaffen, sondern eine Heimstätte auf dem alten Boden unserer Urahnen . . .« Dieser Erklärung kommt eine besondere Wichtigkeit zu. Man hat sie oft als die offizielle Rückzugserklärung des politischen Zionismus ausgegeben. Aber ihre Bedeutung scheint uns darin zu liegen, daß sie der Ausdruck einer besonderen Erkenntnis ist, der Erkenntnis nämlich, daß ein Staat in dem Sinne, wie ihn der nationale Egoismus der Völker seit je begriffen hat, für die Entwicklung eines jüdischen Zentrums weder eine notwendige noch eine adäquate Form ist. Dennoch blieb – auch bei Aufgabe der Charterpolitik – der Zionismus im Rahmen des Judentums eine politische Bewegung. Aber als solche wiederum, als nur politischen Zielen dienende Bewegung konnte er unmöglich für das Judentum und für den gestaltenden Willen in ihm 625 repräsentativ sein. Politik ist nur die Technik der Verwirklichung. Bei ganz hohem Niveau ist sie unter Umständen eine Dienerin der Idee. Das wurde im nationalen Judentum schon sehr früh erkannt. Es konnte nicht genügen, zu erkennen, daß im Judentum und in seiner Geschichte ein Sinn und ein Geistiges beschlossen lagen. Es war mehr denn je nötig, Sinn und Geist des Judentums zu schöpferischer Entfaltung wieder bewußt zu machen, damit jede Bewegung, die sich unterfing, die Judenfrage zu lösen, nicht im Praktischen verhaftet bleibe.

In der Persönlichkeit eines Achad Haam findet diese Idee von der geistigen Fundamentierung des Zionismus ihren ersten präzisen Ausdruck. Ihm geht es nicht darum, daß man ein Land für ein Volk vorbereite, sondern das Volk für das Land. Ihm geht es nicht um Siedlung, sondern um Heimkehr. »Das nationale Zentrum muß eine Zufluchtsstätte sein nicht für die Judenheit, sondern für das Judentum.« Diese Formulierung hat zugleich zur Voraussetzung die Erkenntnis, daß schon aus technischen Gründen ein Land wie Palästina nicht geeignet sein kann, alle Juden der Welt in sich aufzunehmen; und immer ist es eines der stärksten Argumente gegen den Zionismus gewesen, daß die neue Heimat eben nicht alle Juden aufnehmen könne. Aber es bedienen sich dieses Argumentes meistens nur die, die überhaupt von der Idee der Heimkehr nichts wissen wollen. Und sie verwechseln die Idee mit der Masse von Menschen, die an ihrer technischen Verwirklichung teilhaben können. Es ist damit so wie mit dem religiösen Gefühl. Hat es überhaupt erst einmal einen Gott begriffen, so kann es zu ihm beten im Tempel und außerhalb des Tempels. Aber begreifen muß man ihn zuvor.

Um dieses Begreifen geht es auch bei den Forderungen eines Achad Haam. Er trägt in den Zionismus das Element der Evolution hinein. Er hat damit auf die Zeitlosigkeit des Problems hingewiesen und den Gegensatz sichtbar gemacht zu einer nur auf politische Konzessionen gestützten Einrichtung eines 626 Siedlungszentrums. Als diese politische Konzession dann eines Tages erteilt wurde, konnte sie der Idee nicht mehr gefährlich werden, da die Idee schon so eigenlebig geworden war, daß der politische Erfolg sie nicht mehr zu einem Kolonisationsunternehmen degradieren konnte. Der entscheidende Vorgang liegt in einem Schreiben, das Lord Balfour am 2. November 1917 im Namen der englischen Regierung an Lord Rothschild in London richtet. Es lautet:

Foreign Office, 2. November 1917

Geehrter Lord Rothschild,

mit großem Vergnügen übermittle ich Ihnen namens Seiner Majestät Regierung folgende Sympathieerklärung mit den jüdischen zionistischen Bestrebungen, die dem Kabinett unterbreitet und von diesem genehmigt wurde: Seiner Majestät Regierung betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird die größten Anschaffungen machen, die Errichtung dieses Zieles zu erleichtern, wobei selbstverständlich nichts unternommen werden soll, was den bürgerlichen und religiösen Rechten bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder der staatsbürgerlichen Rechtsstellung der Juden in irgendeinem anderen Lande Abbruch tun könnte.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Föderation bringen wollten.

Ihr ergebener

Arthur James Balfour.

Auf der Basis dieser Erklärung und der neugeschaffenen Institution der Mandate wird nach dem Weltkrieg Palästina unter englisches Mandat gestellt. Mit den Folgen können wir uns nicht befassen. Sie sind Gegenwart. Sie haben noch zu erweisen, wie und ob sie in die Geschichte eingehen.

Aber in die Geschichte eingegangen und unverlierbarer als 627 die Tatsachen, die morgen schon überholt sein können ist die geistige Situation, die sich aus der Belebung des nationalen Gedankens ergeben hat. Dieser jüdische Nationalismus hat nichts mit Chauvinismus gemein, denn er stellt sich nicht abgrenzend im Werturteil anderen Nationen gegenüber. Der jüdische Nationalismus wird nie Kriege erzeugen, denn er vertritt kein Imperium. Er ist Fortsetzung einer Geschichte; weiter nichts. Er ist nicht Auflösung der Diaspora in ihrem effektiven Bestande, aber er sieht in ihr auch nicht, wie seine Gegnerschaft im Judentum es in Abwehr des nationalen Gedankens tut, die eigentliche Mission des Judentums. Die Diaspora ist eine Schicksalsform des Judentums; aber weder sein Inhalt noch seine Aufgabe, weder seine Sendung noch seine Erfüllung. Die Diaspora ist nur der Raum geworden, in dem die große Scheidung der Geister sich vollzogen hat und die im Bekenntnis liegt, im Bekenntnis zum Volk als lebendiger Einheit oder als Atom; politisch formuliert: zwischen dem Nationaljuden und dem Assimilationsjuden. Dieser reagiert auf fremde Bedingungen, jener schafft eigene Bedingungen; dieser assimiliert sich der fremden Kultur, jener assimiliert sich die fremde Kultur; diesem wird gleichwohl von der Umwelt die Einheit verweigert, jener darf sie sich selber schaffen; dieser lebt an der Peripherie des Judentums, jener in seinem erfühlbaren Zentrum; jener wendet hier und da ein Stück Erinnerung, Tradition oder Verpflichtung an sein Judentum, dieser müht sich um die Einsetzung des Ganzen. Der uralte Gegensatz, den wir durch die ganze jüdische Geschichte sich ziehen sahen, der zwischen Halacha und Haggada, zwischen Gesetz und Legende, taucht in veränderter Form wieder auf. Die einen rufen nach einer Formel für ihr Judentum, nach einer Norm, an die man nur zu glauben braucht, um geborgen zu sein. Die anderen lassen sich vom geheimen Leben überrennen und dichten ihr Judentum weiter. Es ist im tiefsten Grund eine Frage der Liebe und der Gläubigkeit. 628

 


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