Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Umlagerung

Das babylonische Exil ist für das judäische Volk die Probe auf das Exempel, der Bewährungszeitraum für das, was vorher in Judäa formuliert worden war: Aufrichtung der Existenz aus dem Geistigen her. Das babylonische Exil ist Steigerung, nicht Beginn einer Epoche. Die äußere Situation dieses Zeitraumes stellt sich wie folgt dar: die erste Deportation brachte rund 13 000 Judäer nach Babylonien, die zweite etwa 16 000 und die dritte einen Rest von etwa 1000 Seelen. Abgesehen von der ägyptischen Kolonie, den Versprengten im judäischen Gebiet und den durch Sklavenhandel in die Welt Gejagten ist das der gesamte derzeitige Bestand des jüdischen Volkes.

Die Deportierten genossen innerhalb des Exillandes volle Freiheit der Niederlassung, der Religionsausübung, des Berufes und der inneren Selbstverwaltung. Sie machen von diesen Rechten weitesten Gebrauch, aber mit einem sehr wesentlichen Vorbehalt: sie siedeln sich grundsätzlich in engster räumlicher Nachbarschaft an, und zwar nach Geschlechtern und Landsmannschaften formiert. Sie bilden nach außen hermetisch abgeschlossene Gemeinden, in denen die heimatlichen Bräuche und Gewohnheiten bewahrt werden. Diese Freiheiten und diese Siedlungsart lassen auch ihr soziales Gepräge und ihre soziale Gliederung fast unberührt. Sie treiben Hausbau, Gartenwirtschaft, Ackerbau, Gewerbe aller Art und Handel; nicht anders als in Judäa und mit der unvermeidlichen sozialen Ungleichheit. Im ganzen herrscht ein gemäßigter Wohlstand, so daß jedenfalls ihr äußeres Schicksal ihnen keinen Anlaß zu Klagen geben konnte.

Dennoch nehmen sie überwiegend von vornherein eine abwartende Haltung ein. Schon die Deportierten, die 597 mit 93 dem König Jojakin nach Babylonien gekommen sind, hielten das Exil für ein zeitlich begrenztes Unglück. Sie erwarteten von dieser oder jener politischen Umänderung die Möglichkeit, heimzukehren. Das hinderte sie, mit dem Lande zu verwachsen. Der neue Strom der Exulanten verfährt nicht anders. Während ihre Kolonie sich ständig vergrößert, während sie schon anfangen, ein wirtschaftlicher Faktor zu werden und Stellungen am babylonischen Hofe einzunehmen, dient ihnen doch alles als Mittel zum Zweck, ihre Befreiung durchzusetzen. Aber die babylonischen Herrscher wollen dieses für ihr Land wertvolle Element nicht entbehren. Die Judäer müssen also nach anderen Rettungsmöglichkeiten ausschauen. Sie sehen sie mit richtigem Instinkt in der neuen Macht, die vom Iran her auftaucht und ihren Schatten über die Länder wirft: in den Persern. Kyros löst die Reihe der großen Eroberer ab. Er wächst über Medien und Persien hinaus bis zum Ägäischen Meer und an die Grenzen Griechenlands. Vor ihm her geht ein Ruf von Menschenfreundlichkeit und Toleranz. Zu ihm hin gehen alle Erwartungen der Judäer. Die Propheten verkünden, daß durch ihn die Befreiung kommen werde, ehe er noch zum Angriff gegen Babylonien schreitet.

Die Ereignisse geben ihnen recht. Die Eroberung Babyloniens geschieht mühelos, die Einnahme der Stadt ohne Kampf. Kyros begreift in den Judäern, die ihm begeistert entgegenkommen, den doppelten Vorteil, die verödete Provinz Judäa wieder zu besiedeln und an der Grenze seines Reiches gegen den Feind im Süden, Ägypten, ein aus Dankbarkeit anhängliches und zuverlässiges Volk zu haben. Darum erlaubt er ihnen unmittelbar nach seiner Eroberung Babyloniens, 538, die Heimkehr.

Von dieser Möglichkeit machen jedoch nicht alle Judäer Gebrauch. Ein erheblicher Teil, vorwiegend aus der besitzenden Schicht, unterstützt zwar die Heimkehrenden mit Geld und Gegenständen; aber er beschließt für sich das Verweilen im 94 Lande des Exils. Solche Entschließung kann nicht mit dem Begriff »Assimilation« genügend umschrieben werden; sie ist vielmehr das Nebenprodukt, man könnte sagen das Abfall-Produkt einer sehr konsequenten und sehr weitgreifenden geistigen Umlagerung, die den Sinn des babylonischen Exils überhaupt darstellt.

Nach ihren Voraussetzungen stellt sich die geistige Situation der Judäer in Babylonien wie folgt dar: sie werden in einem Augenblick von der Verschickung betroffen, wie die Mehrzahl ihrer Existenzprobleme in der Turbulenz der äußeren Vorgänge und der Leidenschaftlichkeit der inneren Auseinandersetzungen schon berührt und aufgedeckt war. Sie hatten alles, was ihr inneres und ihr äußeres Dasein garantieren oder vernichten konnte, zwar noch nicht entschieden, aber schon erlebt. Es war ihnen schon zum Bewußtsein gekommen. Sie lebten schon damit als mit einer meßbaren und spürbaren Wirklichkeit. Sie erleben jetzt, daß sie genau so und aus genau den Ursachen von ihrem Schicksal betroffen werden, wie es die Prophetie ihnen vorausgesagt hat. Sie sind also imstande, Schicksalserfahrungen zu sammeln. Sie bringen in das Land ihrer Verbannung dasjenige Gut mit, in dem die Fragestellung ihres Schicksals ihren höchsten Niederschlag gefunden hat: die Schriften ihrer Überlieferungen und die Reden ihrer Propheten, soweit sie überhaupt aufgezeichnet waren. Sie treffen – soweit die zweite und dritte Gruppe der Deportierten in Frage kommen – bei ihrer Ankunft auf den Adel ihres Stammes, der von allem Anfang an in der Hoffnung auf baldige Rückkehr nur eine provisorische Existenz geführt hat, eine Lebensform, die sie sich sogleich zum Vorbild nehmen. Ihre Siedlung in geschlossenen Gebieten und Gruppen ergibt weiter verminderte Reibungsfläche zur Umgebung und dadurch verminderten Anreiz, sich ihr anzugleichen und darin aufzugehen. Nur da, wo der Segen dieser engen Siedlung sich nicht auswirkt, also bei denen, die als Händler auf die Berührung 95 mit der Umgebung angewiesen sind, tritt eine Assimilation ein. Es handelt sich hier nicht um Mischehen. Es ist vorläufig noch das Sich-Hingeben an Bräuche und Gewohnheiten, an Lebensgenuß und Sitte der anderen. Es ist aber schon der Verzicht auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in seiner Totalität von Art, Glaube, Form, Sprache und Land. Hier tritt in Wahrheit das Assimilationsproblem überhaupt in die jüdische Geschichte ein, und zwar unter Formen, die noch heute ihre Gültigkeit haben.

Assimilation und Reichtum decken sich faktisch, weil sie sich nach einem inneren Gesetz decken. (Reichtum soll hier nur eine bequemere Umschreibung sein für diejenige Besitzposition, in der einer schon sein Geld, sein Kapital arbeiten lassen kann.) Reichtum in diesem Sinne verändert Sinn und Inhalt jeder Gemeinschaft. Geld gibt die Möglichkeit, seine Existenz vom Boden abzulösen. Geld macht nicht nur alles käuflich, sondern ist auch der Maßstab, mit dem jeder Wert gemessen, auf den jeder Wert bezogen werden kann. Geld gibt eine Lebensmöglichkeit, die im Grunde genommen von jeder Gemeinschaft, insbesondere von jeder Lebens-Gemeinschaft unabhängig ist und unabhängig macht. Geld läßt am frühesten und am leichtesten vergessen, daß nur in diesem bestimmten Lande und nur unter diesen bestimmten Menschen, unter diesen Formen und mit diesen Inhalten zu leben sei. Es verhilft zu der Erkenntnis, daß auch unter anderen Bedingungen, in anderen Formen und mit anderen Inhalten gelebt werden kann. Die Erfahrung formuliert abschließend: es geht auch so.

Diese Formel entsteht im babylonischen Exil. Sie ist die klare Absage an dieses eine lebenswichtige Element in der Struktur des judäischen Volkes: an die historisch bedingte und religiös begründete Heimat. »Es geht auch so« bedeutet hier: wir bleiben, was wir sind, auch wenn wir nicht nach Judäa zurückkehren.

An sich ist eine solche Auffassung unmöglich, weil sie 96 widersinnig ist. Ein Judäer, der sich selbst als solcher begreift, ist nur vorstellbar in dem Lande, dem er aus der Verheißung her zugewachsen ist, mit dem Tempel, von dem sein Gott gesagt hat, daß er sich dort, und nur dort niederlasse, und mit den Opfern, die nur dort dargebracht werden können. Wenn einer sich ohne diese Elemente noch als Judäer bekennen und empfinden will, dann müssen diese Elemente vernichtet oder umgedacht werden. Das Letztere ist in der Tat geschehen.

Die Judäer finden sich vor ein grundlegend neues Erlebnis gestellt: vor das Erlebnis der Fremde. Fremde bedeutet das Nichtvorhandensein der Lebensbeziehungen, an denen man sich sonst, bewußt und meist unbewußt, orientiert. Wenn hinzukommt, daß die Fremde eine erzwungene ist, dann wird unter diesem Zwang bewußt, woran man eigentlich sich bisher orientiert hat. Man hat bislang nicht um sein eigenes Zentrum gewußt und erfährt es jetzt, wo man räumlich abgerückt ist; den Sinn der täglichen Verrichtung lernt man einsehen, wenn man sie an anderem Orte und unter anderen Bedingungen wieder aufnehmen muß. Verbannung erzeugt zugleich jenes Gefühl aus Stolz und Trotz und Willen zur Selbsterhaltung, wie es ein Dante empfunden und formuliert hat. Verbannung als Loslösung des Menschen von der Scholle läßt überhaupt erst eigentlich seine Individuation beginnen. Der Mensch verliert seinen sicheren und nie nachgeprüften Rückhalt; er wird Lebensverhältnissen unterworfen, die er nicht selber geschaffen hat; er muß sich als Subjekt und Objekt des Geschehens zugleich begreifen; er muß überhaupt alles mit besonderer Intensität begreifen, denn die Energien, die er bislang unter den besonderen Bedingungen seiner Heimat verausgabt hat: an interne Parteikämpfe, wirtschaftliche Spannungen, Bemühungen um militärische und außenpolitische Angelegenheiten, werden jetzt frei. Fallen die alten Beziehungspunkte weg, so müssen die Energien, die bisher darauf verwendet wurden, notwendig für den Angriff auf andere Objekte frei werden. 97

Die ausführliche Begründung aller dieser Voraussetzungen ist notwendig, um verständlich zu machen, daß in der kurzen Exilsdauer von nur 49 Jahren so radikale Umlagerungen eintreten konnten. Es handelt sich hier nämlich nicht um eine Auswirkung des sogenannten nationalen Selbsterhaltungstriebes, sondern um den grandiosen Versuch, alle bisherigen Lebensverhältnisse auf eine Ebene zu bringen, die ihre Existenz unter ganz anderen Bedingungen gewährleistet. Der geistige Bestand des Judentums erfährt eine Umlagerung, die zugleich seiner Entwicklung einen gewaltigen Anstoß gibt und die denen, die nicht in die Heimat zurückkehren wollen, dennoch ihre Qualität als Juden beläßt.

Die Entwicklung, die dahin führt, ist völlig logisch. Sie vollzieht sich in zwei Etappen; einmal als Umwertung der Lebensbeziehungen, sodann als neue Sinngebung für ihr eigenes Schicksal.

Diesem Volke ist der Tempel genommen worden. Aber da ihnen die Zwiesprache mit Gott notwendig ist, ersetzen sie ihn durch irgendwelche Räume, denen sie dadurch Weihe geben, daß sie sich dort zu gemeinsamer Andacht versammeln. Sie können hier keine Opfer bringen, denn Opfer sind nur auf dem Altar des Jerusalemer Tempels möglich. Darum vollziehen sie ihre Hingebung, ihre opfernde Haltung im Gebet. Solches Verhalten zwingt zu einer wichtigen Folgerung: wenn es möglich ist, Gott nicht nur in seinem Tempel zu begegnen, so muß man ihm schlechthin überall begegnen können, so muß letztlich sein Wohnsitz nicht in einer Halle aus Stein und Holz sein, sondern überall da, wo einer ihn meint und anruft. Gott wohnt also nicht im Tempel, sondern im Herzen eines jeden, der ihn begreift. Und weiter ist zu folgern, daß ihm nicht mit einer kultischen Handlung im Tempel gedient sein kann, nicht durch den formalen Ritus, den der Priester im Namen der Gesamtheit ausübt, sondern durch das Verhalten des Anrufenden, durch die Intensität oder die Lauterkeit der einzelnen 98 Persönlichkeit. Die Individuation wird hier um einen entscheidenden Schritt weiter getrieben. Die kollektive Glaubensübung verliert ihren ausschließlichen Sinn. Das Individuum wird zum Träger alles religiösen Erlebens und Geschehens. Und wenn dem so ist, muß auch die Verantwortung für nichtreligiöses, für nichtsittliches Verhalten umgelagert werden. Nicht die Gesamtheit der Gläubigen, nicht das Volk als religiöse Einheit, sondern die isolierte Persönlichkeit ist verantwortlich für das, was sie tut oder läßt. An ihr wird nicht mehr geahndet, was ihre Väter getan haben, sondern was sie selbst tut. »Nur die Seele, welche sich vergeht, die soll sterben; ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters mittragen, und ein Vater soll nicht die Schuld des Sohnes mittragen.« (Jeheskel.) Das ergibt eine weitere Folge: sündigte das Kollektivum, das Volk, die Gemeinde, so mußte es seine Sünde büßen. Sündigt der Einzelne, der für seine Handlung persönlich Verantwortliche, so kann er zwar die Tat nicht ungeschehen machen, aber er kann aus Erkenntnis und Umkehr der Sünde absagen. Diese Absage ist die Reue. »Habe ich denn wirklich Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, ist der Spruch des Herrn Jahve nicht vielmehr daran, daß einer sich von seinem bösen Wandel bekehrt und am Leben bleibt? . . . Werft ab von euch alle eure Missetaten und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist.« (Jeheskel.) Hier wird das Unentrinnbare eines kollektiven Geschickes abgelöst durch die freie, verantwortungsvolle Lebensgestaltung der Persönlichkeit.

Alle diese Umlagerungen, obgleich sie streng genommen Fiktionen sind, dienen doch der Konsolidierung der Wirklichkeit. Darum werden weiterhin andere Lebensformen der Heimat darin einbezogen. Anstelle der Autorität der Priester und sonstigen Führer tritt der jeweilige Geschlechtsälteste. Als Ersatz für die verlorene staatliche Form dient die Gemeindeautonomie, und an die Stelle der Staatsgewalt tritt eine 99 andere von größerer Bewährung und Dauer: die straffe, unerbittliche Zucht, die sich aus der Verpflichtung zur unbedingten Befolgung der Ritualvorschriften ergibt. Hier schon beginnt die Gleichstellung von Ritual und Gesetz. Es ist niemand da, der die Befolgung dieser Gesetze mit staatlichen Machtmitteln erzwingen kann. Daß sie dennoch befolgt werden, beruht auf der Übereinkunft der Menschen, sie befolgen zu wollen. Die Ablösung vom Lande ihrer Heimat bedingt weiter, daß ihre Feste, die einmal ländlichen Charakter hatten, jetzt endgültig als religiös-nationale Feste begriffen werden müssen, weil es sonst keinen Sinn hätte, sie in einem anderen Lande und unter anderen Bedingungen mit den alten Inhalten zu feiern. Zugleich werden geistige Erinnerungszeichen aus dem Geschick des verlorenen Landes aufgerichtet: die vier Tage, die den Beginn der Belagerung Jerusalems, die Einnahme der Stadt, die Zerstörung des Tempels und die Ermordung Gedaljas bezeichnen, werden zu nationalen Trauer- und Fasttagen erhoben.

Diese Umlagerungen bedeuten – wie gesagt – eine Lebensmöglichkeit, nicht einen Verzicht. Heimat bleibt Heimat. Darum wenden sie bei ihrem Gebet ihr Antlitz nach Jerusalem hin. Darum führen sie mit aller Genauigkeit in ihren Gemeinden genealogische Listen, die Herkunft und Abstammung eines jeden klarstellen. Diese Listen sind zugleich eine Buchführung über den Bestand des Volkes.

Am intensivsten ist die Umlagerung da, wo die realen Beziehungen zu dem verlorenen Lande durch geistige ersetzt werden: in der Bearbeitung und Erweiterung des jüdischen Schrifttums. Das gesamte Schriftgut und viele mündliche Überlieferungen waren wie geistiger Hausrat nach Babylonien gebracht worden. Alle Schichten des Volkes beschäftigen sich jetzt damit. In den Andachtsversammlungen werden regelmäßig Abschnitte aus dem Schrifttum vorgelesen, wie es noch in unserer Gegenwart der Fall ist. Die 100 mündlichen Traditionen werden aufgezeichnet und zu Volksbüchern gemacht.

Die größte Bedeutung kommt der Arbeit eines anonymen Redaktors zu, der anhand der vorliegenden Schriften und Traditionen ein pragmatisches Geschichtswerk zusammenstellt, das die Zeit von der Eroberung Kanaans bis zum babylonischen Exil umfaßt. Er bringt nicht eine einfache Aneinanderreihung zustande, sondern verbindet die Teile durch eine einheitliche Idee mit dem Zweck, dem Geschick des Volkes einen Sinn zu geben. Dieses ist der Sinn: die Relation zwischen Volk und Gott, die Bündnisbeziehung, dieses Gegeneinander von Rechten und Pflichten, stellt sich dar als einen Auftrag, den das Volk zu erfüllen und zu realisieren übernommen hat. Dieser Auftrag, das Dasein in der Theokratie, ist weder vom Volke erfüllt worden noch von denen, die in Ablösung der Richter ihn hätten erfüllen sollen: von den Königen. Volk und König haben vor dem göttlichen Auftrag versagt. Es muß von neuem mit dem Bemühen begonnen werden. Das ist nichts anderes als die Forderung, zur reinen Theokratie zurückzukehren.

Damit ist der anonyme Redaktor in voller Übereinstimmung mit denen, die als klarste Repräsentanten der Zeit in die Erscheinung treten: den Propheten. Wieviele in der Zeit gewirkt haben, ist nicht überliefert. Nur von einem weiß man den Namen: Jeheskel (Ezechiel). Von einem anderen kennt man schriftliche Aufzeichnungen. Man nennt ihn hilfsweise den Deutero-Jesaja oder den babylonischen Jesaja.

Jeheskels Prophetie ist eine im höchsten Sinne zeitliche. So lange allein die erste Gruppe der Exulanten in Babylonien ist, steht er mit seiner Prophetie in schärfster Opposition gegen ihre vorschnellen Hoffnungen auf Rückkehr und gegen ihren Hang, ihr Schicksal und seinen Ablauf nur unter dem Gesichtspunkt nationaler Ambitionen zu erleben. Wie die große Katastrophe einsetzt und der Rest des Volkes eintrifft, weitet er sich gewaltig und wird der Tröster seines Volkes. Er 101 formuliert die Umwandlungen und Umlagerungen, von denen vorher gesprochen worden ist. Er ist aber zugleich Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Rückkehr. Sie ist ihm gewiß, aber ihr Ziel liegt nicht in irgendeinem Nationalismus, sondern in der Errichtung einer Theokratie; nicht in einer nationalen Monarchie, sondern einer theokratischen Republik.

Die wirkliche Zielsetzung für dieses Geschlecht der Verbannten gibt aber erst sein Nachfolger, der babylonische Jesaja. Er beantwortet die Frage derer, die sich keiner individuellen Schuld bewußt sind und über die doch das Geschick der Verbannung und das Erlebnis des Unterganges von Land und Tempel verhängt worden ist, nach dem Sinn dieses Geschickes. Er sieht es so: für den unverbundenen Menschen, der mit nichts und mit niemandem im Zusammenhang steht, ist das Leiden ein roher, sinnloser Vorgang. Für den Menschen, der in einer Verbundenheit lebt, der sich im Zusammenhang mit dem Letzten, mit Gott, weiß, ist Leiden ein Signal, eine Mahnung zum Aufhorchen, daß in ihm oder dem Zusammenhang, in dem er steht, etwas vorgeht, zu dessen Erkenntnis er berufen ist, wenn er nur berufen sein will. Leiden bedeutet ihm: aus der Wandelbarkeit alles äußeren Schicksals das eine Unwandelbare immer wieder erkennen und bestätigen, daß ein Dasein ohne sittliche Haltung den, der es so lebt, unweigerlich am Rande der Lebensstraße liegen läßt wie einen unnützen Gegenstand, den Einzelnen so gut wie die Gesamtheit, heute oder in tausend Jahren, in dieser oder in jener Form. Leiden ist eine Mahnung zur Aufmerksamkeit. Folglich dient es der Erkenntnis.

Das babylonische Exil soll dieses Gesetz den Judäern verständlich machen, und indem sie sich ihm unterordnen, indem sie sich darin bewähren, sollen sie mehr erlösen als nur ihr individuelles Schicksal, sollen sie zugleich als Vorbild für alle Zeiten und für alle Völker dastehen. Hiermit wird ein Doppeltes geboren: die Idee vom Apostelamt des jüdischen Volkes und die Idee von der Erkenntnis der Wahrheit für sich 102 und für andere durch Leiden; die Grundlage der späteren christologischen Lehre von dem leidenden Messias-Erlöser.

Auch bei dem babylonischen Jesaja stehen alle geistigen Konzeptionen im Diesseits, in der Realität, so hoch sie auch in Gott oder im Himmel begründet sein mögen. Auch er wartet auf die politische Wiedergeburt des Volkes. Das bedeutet Erstreben derjenigen Realität, von der aus allein gewirkt werden kann. Das bedeutet weiter, daß zunächst die Möglichkeit geschaffen werden müsse, damit das Volk selbst diese Idee zu Ende erlebe und nicht nur zu Ende denke. Das ist das Nationale als Mittel zu einem übernationalen Zweck.

Damit die Idee verwirklicht werden kann, muß Gott einen Boten senden, der die Rückkehr des Volkes ermöglicht. Schon lange vor Beginn der Eroberung Babyloniens prophezeit der Prophet, daß Gott sich des großen Königs Kyros bedienen werde, um das kleine Volk zu befreien. Wenn der größte König der Zeit so Instrument des jüdischen Gottes werden muß, so ist daraus nur zu begreifen, daß es ein Gott ist, der des Einen wie des Anderen Schicksal lenkt, also der Schicksalslenker für die Nationen, für die Völker überhaupt. Der Gott der Judäer ist der Gott. Es gibt nur einen einzigen Gott. Das zu beweisen, ist Aufgabe des theophorischen Volkes, der Juden. Das ist der Gipfelpunkt dieser Prophetie.

Mit diesen neuen Ideen und vor diese ungeheure Aufgabe gestellt, wird dem judäischen Volke der Weg in seine historische Heimat freigegeben.

 


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